Tian hält einen Schlauch in der Hand. Er spritzt den Boden im Waschraum sauber und entdeckt mich am Eingang. »Dachte schon, ich muss alles allein machen.«

»Entschuldige, ich hab schlecht geschlafen …« Ich spreche jedes Wort viel zu langsam aus. Ich bekomme kaum etwas raus. Wieder spüre ich einen Kloß im Hals.

Tian dreht den Hahn zu und wirft den Schlauch auf den Boden. »War nicht so gemeint.«

Er kommt zu mir, bleibt aber einen Meter vor mir stehen. Er streckt die Arme nach mir aus und legt seine Hände auf meine Schultern. Zwischen uns würden noch problemlos Mauro und Aidan passen.

»War heftig für dich … gestern … das mit deinem Vater … also mit deinem Bruder meine ich.«

Ich muss dazu nichts sagen, er sieht ja, wie es mir geht.

Tian überlegt, er will noch was sagen oder fragen, traut sich jedoch nicht. Weil ich auch nur schweige, gibt er sich einen Ruck. »Hat dein Bruder wirklich gelebt, oder nur im Godland deines Vaters?«

»Wirklich«, sage ich. Und ergänze etwas, was mich selbst

Wieso bin ich skeptisch? Vertraue ich ihm jetzt weniger als früher? Er hätte mir das mit meinem Bruder erzählen können. Nein, er hätte es müssen!

Dad hätte ja damit warten können, bis ich groß genug war für diese Nachricht, elf oder zwölf Jahre alt. Aber selbst da hat er geschwiegen. Und jetzt bin ich fast erwachsen und musste es auf diese Weise herausfinden.

Ich habe meinen kleinen Bruder erst auf einem Monitor in der Kantine kennengelernt. Und was besonders weh tut: Alle anderen auf meinem Deck haben ihn gleichzeitig mit mir gesehen. Dabei bin ich seine Schwester!

Was soll ich Tian davon erzählen? Überfordert ihn das vielleicht? Außerdem hört Godmother mit. Ich bin nicht wie Dad, ich will keine Diskussionen mit ihr.

Tian schaut mich unsicher an. »Yolanda, ich … Ich kann doch so etwas wie ein Bruder für dich sein, oder?«

Mir läuft eine Träne über die Wange.

»Ach Tian«, sage ich und muss erst mal schlucken. »Das bist du schon längst für mich.«

Er will noch etwas sagen, da spricht Godmother etwas zu laut: »Bitte denkt an euren Zeitplan.«

Tian bückt sich zum Schlauch hinunter. »Ja, Godmother.«

Er geht extrem langsam zurück zum Hahn. So bleibt ihm noch Zeit für einen Satz an mich. Godmother muss das wie ich erkennen, doch sie erhebt keinen Einspruch. Sie will keine schnellen Bewegungen bei dem rutschigen Boden. Jeder verletzte Analoge ist ein Analoger weniger. Ein gebrochenes Bein bedeutet monatelangen Ausfall.

Zwei Schwestern? Ich kenne nur die Geschichte von seinen Eltern, die in den Klimakriegen gestorben sind.

Wieso hat er mir das mit seinen Schwestern nicht früher anvertraut? Warum erst jetzt? Um mich zu trösten? Aber das tröstet mich nicht, ich finde es total traurig.

Ich muss nicht lange nach einem weiteren Grund suchen. Ich ahne wieso.

Natürlich!

Tian will mir von seinen Schwestern erzählen, bevor ich sie in seinem Godland sehe. Er bereitet mich auf das vor, was bald alle Analogen in der Kantine erfahren werden.

»Bitte denkt an euren Zeitplan«, ruft Godmother in den Raum.

Tian dreht den Hahn ganz auf, an dem der Schlauch hängt. Das Salzwasser schießt mit voller Wucht gegen den Metallboden.

Ich hole ein Paar Stiefel und eine alte Bürste aus dem Schrank. Damit bearbeite ich die Ecken, in denen sich der Schmutz sammelt. Nach ein paar Minuten wechseln Tian und ich uns ab. Ich spritze den Boden nass, und er wischt den Dreck in den Abfluss.

Die Toiletten neben den Duschkabinen werden kaum genutzt, denn jeder hat in seiner Schlafkoje einen winzigen Nebenraum mit einem WC und einem Waschbecken. Dort fließt aber nur kaltes, salziges Ozeanwasser aus dem Hahn. Warmes und entsalztes Wasser gibt es nur im Waschraum.

Tian verschwindet mit einer Bürste in einer der Duschkabinen. Kurz darauf flucht er.

»Was ist los?«, frage ich.

»Warte bitte«, sagt Godmother. »Ich analysiere.«

Sie lässt Wasser durch die Rohre fließen, aktiviert die Pumpen, die vor sich hin brummen. Ich bin froh über ein paar Sekunden Pause. Leider dauert bei ihr nichts so lange, dass man sich richtig erholen könnte.

»Der Duschkopf ist verstopft. Bitte drehe ihn heraus und reinige ihn.«

»Hilf doch mal!«, ruft mich Tian zu sich in die Duschkabine.

Er schraubt den Duschkopf ab und zieht ein Stück Stoff aus dem Sieb.

Ich kann es nicht glauben. »Wie ist denn das …«

Tian hält einen Finger vor meine Lippen, und ich verstumme.

»Was denn?«, fragt Godmother.

Tian schaut mich so an, als hätte ich ein Verbrechen begangen.

Ich muss meinen Satz zu Ende bringen, wenn auch anders als geplant. »Wie ist denn das passiert?«

Tian schüttelt den Kopf. Schon klar. Das war jetzt nicht so die perfekte Improvisation. Aber was soll ich denn sonst sagen?

»Was ist denn passiert?«, fragt Godmother.

»Da sind Plastikteile!«, ruft Tian. »Kleine Plastikteile überall.«

Diesen Ball von ihm nehme ich an und spiele ihn zurück. Denn jetzt fällt mir auch etwas ein. »Die Filteranlage im Wartungsdeck war ja kaputt. Deswegen ist der Müll vom Pazifik bis hier hochgepumpt worden.«

»Das war vor rund zwei Wochen«, sagt Godmother.

»Das Zeug hing vielleicht irgendwo in den Rohren fest.«

Tian nickt anerkennend. Das ist nett. Aber wieso spielen wir das Spiel überhaupt? Wie kam das Stück Stoff hierher und wieso?

»Godmother«, ruft Tian. »Bitte aktiviere die Dusche zur Reinigung.«

Tian schiebt das Duschrohr zur Seite, so dass wir nicht nass werden. Kurz darauf spritzt heißes Wasser aus der Düse. Der Raum füllt sich mit Dampf. Die Metallwand beschlägt.

Tian steckt sich den Stoffrest in die Hosentasche und drückt mir den Duschkopf in die Hand. Mit dem Zeigefinger schreibt er etwas auf die beschlagene Wand.

Melde dich freiwillig beim Alarm!

Was soll das? Tian verstopfte extra den Duschkopf, nur um etwas an die Wand schreiben zu können – am einzigen Ort in unserem Deck, der keine Kameras hat?

Das Wasser kommt nur noch tröpfchenweise aus der Dusche. Godmother hat die Pumpen schon wieder ausgeschaltet. »Der Fehler ist behoben. Bitte reinigt zur Sicherheit auch die anderen Duschen.«

»Ja, Godmother«, sage ich, während ich Tians Botschaft noch einmal lese.

Melde dich freiwillig beim Alarm!

Was für ein Alarm? Wieso weiß er davon?

Tian ist echt verrückt. Allein diese Aktion hier könnte ihm zwei Extrajahre Dienstzeit einbringen. Nur mal angenommen, Godmother hätte die Plastikteile sehen wollen. Was dann? Es gab ja keine. Wir hatten nur ein Stück Stoff im Angebot.

Und es ist ein Stück Stoff von der Serverinsel. Woher soll es sonst kommen? Godmother hätte es sich genau angeschaut,

Tian wischt mit einer Handbewegung seine Botschaft fort. Erst verschwindet Melde dich dann freiwillig und zum Schluss beim Alarm.

Auf meinen skeptischen Blick reagiert er überhaupt nicht.

Wir kümmern uns um die anderen Duschen. Natürlich sind sie alle sauber und nicht verstopft. Daran hätte Tian denken müssen. So etwas macht Godmother doch skeptisch. Wieso sammelt sich der Müll nur in einem Duschkopf?

Vielleicht bin ich aber auch schon kritischer, als es Godmother ist.

Eine halbe Stunde später glänzt der Waschraum. Godmother schenkt uns eine Pause bis zum Mittagessen.

Tian und ich trennen uns, denn es gibt keinen Ort, an dem wir vertraulich sprechen könnten. Sonst wäre diese alberne Duschsache nicht notwendig gewesen.

Auf das Freideck dürfen von uns allen nur er und Silver. Der Bonus für frisch Verliebte sozusagen. Was sich Godmother davon erhofft, liegt auf der Hand. Nur so entstehen irgendwann neue Analogenkinder, sprich, neue Arbeitskräfte für sie.

Als ich mittags in die Kantine komme, sind schon alle da. Sogar mein Vater sitzt am Tisch. Ich lächele ihm kurz zu, er lächelt zurück. Es geht ihm wohl langsam besser, und ich bin froh darüber.

Natürlich hätte er mir das mit meinem Bruder viel früher erzählen müssen. Aber ich will ihm nicht mehr böse sein deswegen. Er kann doch für all das nichts.

Beim Blick auf die Teller weiß ich, warum alle pünktlich sind: Es gibt ein Laborgeschenk. Da will keiner zu spät kommen.

Kein Wunder, ich verbringe meine freie Zeit gerade nur in der Schlafkoje. Andere gehen in ihren Pausen in die Trainingshalle oder unterhalten sich im Korridor.

Ich betrachte den Teller. Das Laborgeschenk ist ein kleiner Würfel. Zweimal löffeln, und er wäre im Magen verschwunden. Doch bei Laborgeschenken nehmen wir uns mehr Zeit.

Diese Mahlzeit gibt es nicht so oft. Die Geräte im Labor brauchen ewig Zeit für die Herstellung. Je nachdem, was angeschwemmt wird oder im Netz landet, kann es auch mal schneller gehen. Dosen, Kisten, Fässer – nicht alles, was im Wasser treibt, ist leer.

Godmother analysiert die Inhaltsstoffe. Auch in einer längst abgelaufenen Konserve kann noch Essbares sein. Wenn das so ist, berechnet Godmother Rezepte. Und Mary oder Silver überwachen im Labor die Produktion, folgen den Anweisungen von Godmother.

Ich drücke meinen Löffel einmal leicht auf die Masse. Sie gibt kaum nach. Das Laborgeschenk ist etwas härter als sonst.

Nur die Farbe ist wie immer grün. Alles aus dem Labor basiert auf Algen, egal, was an Essensresten noch hinzugefügt wird. Mit den Algen ist unser Bedarf an einigen B-Vitaminen gedeckt. Auch Folsäure ist da reichlich drinnen. Mineralstoffe leider nur in kleineren Mengen, aber immerhin.

Ich schaue mir den grünen Würfel genauer an und entdecke rote Punkte in der Masse. Was immer es ist, Hauptsache, es überdeckt den Geruch von Algen und schmeckt nicht nach Fisch. Meistens sind die Laborgeschenke süß-säuerlich.

Keiner redet am Tisch. Wir warten auf Godmothers Worte.

Mauro neben mir stupst mich an. Was will der? Er blickt auf meinen Löffel.

Stimmt natürlich. Was ist das für ein schlechtes Benehmen von mir? Ich lege den Löffel wieder neben den Teller und setze mich aufrecht hin.

Endlich beginnt Godmother mit ihrer Rede.

»Ich bin sehr zufrieden mit dem Verlauf von Godland plus …«

Das sind gute Nachrichten.

Ich blicke zu den anderen Analogen am Tisch. Acht Leute von uns haben den Besuch noch vor sich.

»Doch da das Freideck noch geschlossen ist, fehlen euch Sonnenlicht und Vitamin D.«

Ich schaue noch mal in den grünen Würfel mit den roten Punkten.

»Das Problem hat Silver im Labor gelöst. Danke, Silver, für die Herstellung.«

Einige von uns klatschen, andere wiederholen einfach Godmothers »Danke«.

Silver schaut nicht auf, sondern konzentriert sich auf den Würfel. Ihre Finger trommeln leise auf der Tischplatte. Sie wirkt aufgeregt, aber wieso? Befürchtet sie, dass der Würfel gleich in sich zusammenfällt? Oder dass er uns nicht schmeckt?

»Genießt das Geschenk!«, sagt Godmother feierlich.

Das war das Startsignal, und alle greifen zu ihren Löffeln. Mauro schafft es, sich alles auf einmal in den Mund zu schieben. Bevor Godmothers strenges »Mauro!« durch die Kantine dröhnt, hat er es schon runtergeschluckt. Ohne zu kauen vermutlich.

Mauro sagt nichts, er kann damit offenbar leben. Schon holt er sich ein Stück Fisch von der Platte in der Mitte.

Ich schneide den Würfel mit der Kante des Löffels in zwei Stücke. Ein Messer braucht man dafür nicht.

Fast alle haben den ersten Bissen schon zu sich genommen. »Lecker!«, sagt Josie.

»Toll gemacht«, sagt Mary. Und ihr Lob zählt doppelt, sie ist schließlich Silvers Lehrerin im Labor.

Manche nicken glücklich.

Silver hat noch nichts probiert. Sie will die Kommentare von allen mitbekommen. Sie lernt ja erst noch, mit den Geräten im Labor umzugehen.

Sie schaut mich an. Mein Urteil ist ihr natürlich wichtig, und das finde ich schön. Ich probiere einen halben Löffel. Die Masse zergeht auf der Zunge, und es entfaltet sich ein unglaublich süßer Geschmack. Keine Spur Fisch und keine Spur Alge – allein deswegen ist es phantastisch.

»Fruchtig«, sagt Conrad.

So süß schmeckten Früchte? Ich kann mich nur noch an die letzten Äpfel erinnern, die wurden matschig geliefert.

Ich muss nichts sagen, Silver sieht mir meine Begeisterung an.

Ich werde sie nie fragen, was genau die Zutaten sind. Ich will es nicht wissen. Es schmeckt süß und ist eine willkommene Abwechslung. Und dass es nicht schädlich für uns ist, behauptet Godmother. Das reicht mir.

Nach dem Essen schaue ich auf den Monitor. Der Putzdienst mit Tian geht weiter. Na toll, so gern ich mit ihm arbeite, ich will nicht mehr putzen!

Wir machen die Arbeit, ohne viel miteinander zu sprechen. Kurz reden wir über das Laborgeschenk, über Silvers Fortschritte bei ihrer Ausbildung. Aber das Einzige, was mich interessiert, kann er mir hier nicht sagen.

Melde dich freiwillig beim Alarm!