Viel früher als sonst liege ich an diesem Abend im Bett. Es ist erst sieben Uhr. Ich bin nicht müde, aber ich will den anderen Analogen aus dem Weg gehen. Mir schwirren zu viele Gedanken durch den Kopf.

Wie geht es meinem Vater wirklich? Wird er mir irgendwann mehr über meinen Bruder erzählen?

Und dann ist da natürlich noch Tians mysteriöser Satz an der Duschwand: Melde dich freiwillig beim Alarm.

»Yolanda«, sagt Godmother. »Höre auf mit der Grübelei.«

Grübelei. Was für ein Wort. In welchen ihrer Datenbanken hat sie das nur gefunden? Doch Grübelei beschreibt perfekt meinen Zustand. Ich denke zu viel über Dinge nach, die ich sowieso nicht ändern kann.

»Geh jetzt bitte in die Schule«, sagt Godmother.

Ich richte mich sofort im Bett auf. »Was soll ich?«

»Geh jetzt bitte in die Schule.«

Dieser Computer macht mich wahnsinnig. Was soll ich in der Schule um diese Uhrzeit? Wir nutzen diesen Raum im unteren Deck nur noch als Abstellkammer.

Wir haben keine kleinen Kinder auf der Serverinsel, ich war

Manchmal wollen uns die älteren Analogen trotzdem etwas erklären und von früher erzählen. Meistens werden aber Emre, Josie, Conrad, Mary oder Dad von Godmother unterbrochen. Sie mag nicht, wenn wir uns mit altem Wissen ablenken. Nichts davon ist nützlich auf der Serverinsel.

Und zu viel Wissen bringt uns zum Grübeln.

Godmother wiederholt ihren Satz zum dritten Mal und nun viel zu laut: »Geh jetzt bitte in die Schule.«

»Ja, ja, schon gut«, sage ich und springe aus dem Bett. Ich ziehe meine Schuhe an, und die Schleuse zischt auf.

Der Korridor ist leer. Normalerweise stehen hier abends immer welche herum und reden miteinander. Sind etwa alle noch in der Kantine?

Auf dem gesamten Weg runter zur Schule sehe ich keinen von ihnen. Das fühlt sich komisch an.

Vermutlich steckt Godmother dahinter. Sie hat dafür gesorgt, dass jeder mit anderen Dingen beschäftigt ist. Sie verwickelt sie in Gespräche oder lenkt sie mit kleineren Aufgaben ab, die nicht auf dem Monitor in der Kantine stehen.

Im Treppenhaus weiche ich den Pfützen aus. Die Analogen von Deck B müssen hier wirklich bald etwas machen. So schwer kann es ja nicht sein, die Stellen abzudichten.

In der Schleuse zur Schule warte ich auf die Freigabe. Warum dauert das so lange? Ich blicke durch das Panzerglas in den Raum, doch alles ist dunkel.

»Die Schule ist gleich eine geheime Höhle«, sagt Godmother.

»Ja. Hinter dem Wasserfall.«

»Hinter welchem Wasserfall?«

Godmother redet wirres Zeug, ihre Prozessoren haben offenbar Salzwasser abbekommen. Oder sie rostet am Ozeanboden, genauso wie das Treppenhaus.

Die Schleuse zischt auf, und das Licht geht an. Das Schulzimmer ist vollgestellt wie immer. Die kleinen Stühle lagern übereinander gestapelt am Rand, in der Mitte stehen Tische, Fässer und Kisten.

Von wegen Höhle und Wasserfall! Das ist immer noch die alte Rumpelkammer.

»Zieh eine der VR-Brillen an«, sagt Godmother.

Die Schranktür rechts blinkt grün. Ich gehe dorthin und betrachte die alten Brillen.

Noch vor ein paar Monaten hatte ich mit so einer meine letzte Schulstunde. Danach war mir wie oft mit den Dingern schwindlig, und der Kopf schmerzte den ganzen Tag. Ich habe diese Brillen gehasst.

Doch sie waren bei Godmother beliebter als die aufwendigen Hologramme. Denn Personen, Landschaften und Gegenstände mitten in den Raum zu projizieren, kostet sie zu viel Energie. Zumindest, wenn es realistisch aussehen soll.

»Bereit?«, fragt Godmother.

»Für was?«

»Ich hoffe, ihr habt Spaß.«

»Wieso ihr?«, frage ich. »Ich bin allein hier.«

»Bist du nicht.«

Ich klemme mir eine der VR-Brillen über die Stirn. Sie sitzt viel zu eng, doch sie funktioniert.

Das Wasser rauscht keinen Meter von mir entfernt in die Tiefe. Dieser Ort ist also hinter dem Wasserfall. Das ist die geheime Höhle.

Ich strecke die Hand aus und stoße gegen etwas Hartes, obwohl meine Finger den Wasserfall berühren sollten. Ich ziehe die VR-Brille hoch, direkt vor mir sind die aufgestapelten Stühle. Ich schiebe sie zur Seite und auch die Fässer, Kisten und Tische. Nun ist in der Schule etwa so viel Platz wie in der Höhle. Ich kann mich gleich frei bewegen.

Schnell ziehe ich die VR-Brille über die Augen und stehe wieder in der Höhle.

»Godmother, wieso bin ich hier?«

Plötzlich springt jemand durch den Wasserfall zu mir, und ich schreie auf.

Es ist Finn!

Er wischt sich das Wasser aus dem Gesicht und schüttelt seine Haare durch. Die Tropfen landen auf mir, doch ich spüre nichts. Dafür ist die VR-Brille nicht gemacht.

Ich bräuchte diesen verkabelten Helm von Emre und Josie und eine Betäubung von Silver. Dann wäre ich wieder richtig hochgeladen, könnte Dinge fühlen.

Aber einen Vorteil hat der Besuch mit der VR-Brille – sie überträgt keine Gedanken! Mundlos Sprechen ist nicht möglich. Ich kann denken, was ich will. Zum Beispiel: Wieso schenkt mir Godmother noch einen Besuch?

Finn weiß nicht, was in mir vorgeht, und schaut mich überrascht an. »Yolanda? Wie hast du meine geheime Höhle entdeckt?«

»Schon wieder deine lustige Godmother?«, fragt Finn und kommt noch einen Schritt auf mich zu.

»Ich hab die Höhle zufällig entdeckt«, sage ich.

Finn zwinkert mit einem Auge. »Von wegen! Du bist mir vorher gefolgt. Ich war heute früh schon mal hier.«

Er zeigt auf einen Rucksack in einer Ecke der Höhle. »Ist aber nicht schlimm. Ich teile dieses Geheimnis gern mit dir. Meine Höhle ist auch deine Höhle.«

»Danke, das ist nett«, sage ich und fühle mich überhaupt nicht gut dabei. Finn hält das alles für real. Der weiß nichts von meinem Leben auf der Serverinsel. Ohne uns Analoge wäre seine Welt nicht vorhanden.

In Wahrheit gehe ich mit einer VR-Brille in einer Abstellkammer auf und ab, wo einmal meine Schule war. Und wenn ich nicht aufpasse, stoße ich irgendwo an.

Finn winkt mich zu sich, er ist total aufgeregt. Kaum bin ich bei ihm, packt er eine Decke aus seinem Rucksack und breitet sie auf dem Höhlenboden aus. Er holt eine große Dose hervor. »Ich esse hier meistens. Das reicht für uns beide.«

Er klopft auf die Decke, ich gehe zu ihm, bleibe aber stehen. Er tut mir leid. Wieso schenkt ihm Godmother keine Freunde? In Godland müsste er doch nicht allein sein.

»Hör zu«, sage ich. »Ich bin hier nur zu Besuch.«

»Eben«, sagt Finn.

»Wie jetzt?«

»Deswegen müssen wir uns beeilen.«

Finn grinst und hält mir die Dose und einen Löffel entgegen.

»Ich hab keinen Hunger«, lüge ich. Wie soll ich mit der VR-Brille etwas essen können?

»Kuss?«, frage ich.

»In der Hütte bei Muriel, der Heilerin, da wolltest du doch auch.«

Das stimmt, aber das war etwas anderes. Da war ich überrumpelt von den ganzen Eindrücken. Ich meine, Finn ist immer noch okay. Klar. Aber inzwischen ist Zeit vergangen, und ich weiß: Er ist ein echter Hochgeladener, und dem will ich bestimmt keine Hoffnungen machen.

»Was grübelst du so viel herum?«, fragt Finn.

Wieso verwendet er dieses alte Wort? Ist das wirklich er, oder hilft Godmother nach? Kann sie seine Gedanken beeinflussen? Will sie mich etwa manipulieren?

»Komm schon. Ein Kuss. Mehr nicht. Versprochen!«

Das ist in dieser Höhle nicht das echte Leben, nicht für mich. Aber ich kann Finn den Gefallen tun, oder?

»Ein rein freundschaftlicher Kuss«, schlage ich vor.

»An etwas anderes hätte ich nie gedacht!«, sagt Finn, und ich glaube ihm kein Wort.

»Ein Abschiedskuss«, sage ich.

Finn nickt und hält zwei Finger hoch.

»Was soll das?«

»Das ist ein Schwur.«

Ich schüttele den Kopf und setze mich auf die Decke.

Der Kuss ist eine Katastrophe.

Natürlich.

Ich kann ja nichts fühlen. Ich küsse mit einer VR-Brille auf dem Kopf die stickige Luft der Abstellkammer.

Wie fühlt sich der Kuss für Finn an? Hoffentlich besser.

Mein Blick fällt auf den Wasserfall. Dort steht in riesigen

Das sehe ich genauso. Ich drücke Finn und will mich verabschieden, doch er zeigt zum Wasserfall. Die Anzeige kann er offenbar nicht lesen.

»Ist dir das da draußen mit dem Himmel auch aufgefallen?«, fragt er.

Ich bin direkt in die Höhle gekommen, ich weiß nicht, wie es in seiner Welt heute aussieht. »Was meinst du damit?«

»Der Himmel ist grau, die ganze Zeit. Selbst nachts wird es nicht mehr dunkel. Alles hat irgendwie weniger Farbe als sonst.«

»Weniger Farbe?«, frage ich nach.

»Ja. Komisch, oder?«

Vermutlich muss Godmother Energie sparen. Sie kann nicht alles darstellen, weil es zu viel Rechnerleistung braucht. Doch mit der Antwort könnte Finn nichts anfangen. Ich muss Godmother später fragen, was los ist.

Sowieso blinkt Godmothers Satz auf dem Wasserfall schon rot: Es ist Zeit, zu gehen, Yolanda.

»Ich muss los«, sage ich.

»Was? Jetzt?«

»Leider.«

Finn schaut mich verwirrt an, doch ich kann ihm nicht helfen.

»Dann war das mit dem Abschiedskuss dein Ernst?«

»Denke schon.«

»Sehen wir uns wieder irgendwann?«, fragt Finn.

Der Arme kann nicht wissen, wie viel uns voneinander trennt. Ganze Welten liegen zwischen uns und rund zwanzig Jahre Dienstzeit.

Ich knalle gegen die übereinander gestapelten Stühle in der Schule. Sie kippen um und reißen einige der Kisten mit. Ich lande auf dem Boden und ziehe mir die VR-Brille vom Kopf.

»Hast du dich verletzt?«, fragt Godmother.

Klar, das ist ihre größte Sorge. Eine verletzte Analoge ist eine nutzlose Analoge. Wie es Finn in der Höhle jetzt geht, ist ihr offenbar total egal!

Ich stehe auf und stelle die Stühle und Kisten wieder hin.

»Ich bin okay«, sage ich. »Was meinte Finn damit, dass alles weniger Farbe hat bei ihm?«

»Das korrigiere ich gerade. Moment. Noch einen Augenblick. So, das Grau ist fort. Alles ist wieder farbig. Alles ist gut.«

»Technische Probleme?«

»Alles ist gut.«

»Der Himmel ist wieder blau?«

»Alles ist gut.«

Egal, schließlich habe ich eine viel wichtigere Frage. »Godmother, wieso durfte ich Finn besuchen? Ich will ihm doch keine Hoffnungen machen.«

»Dann war der Kuss aber nicht sehr klug, Yolanda.«

»Das war ein …«

»… Abschiedskuss. Ich weiß.«

Was weiß Godmother schon von Küssen?

»Finn wird jetzt bestimmt total traurig.«

»Es geht mir auch um dich«, sagt Godmother.

»Um mich?«

»Du sollst nicht mehr so viel grübeln, Yolanda. Ich will, dass du glücklich bist.«

»Yolanda, ich wollte dir eine Freude machen.«

»Danke, war ja auch nett«, lüge ich.

»Es kommen schwere Zeiten auf euch zu.«

»Wie meinst du das?«

»Yolanda, du bist für viele auf der Serverinsel sehr wichtig. Wenn es dir gut geht, geht es auch anderen gut.«

Das klingt logisch, also so ganz nach Computerdenken. Ich bekomme einmal fünf Minuten Godland light geschenkt, im Gegenzug halte ich alle anderen bei Laune. Keiner tut sich etwas an, und alle arbeiten brav als Analoge weiter.

Aber so einfach ist das nicht!

Finn braucht eine digitale Freundin. Godmother muss ihm eine programmieren! Und ich will in Ruhe weitergrübeln.

»Dein Dad macht mir Sorgen«, sagt Godmother.

Es ist das erste Mal, dass Godmother »dein Dad« sagt und nicht »dein Vater«. Soll das vertraulicher klingen? Will sie meine neue beste Freundin werden?

Keine Chance, da bevorzuge ich ein echtes Gehirn in einem richtigen Körper.

»Auch für Silver und Tian bist du sehr wichtig. Beide verhalten sich seltsam in diesen Tagen.«

»Sie sind verliebt«, erkläre ich. »So verhält man sich dann wohl.«

»Vielleicht«, sagt Godmother und klingt nicht sehr überzeugt.

Wieso sollten sich die beiden sonst seltsam verhalten?

»Dir kann ich vertrauen«, sagt Godmother. »Du weißt, wie wundervoll Godland ist. Und du hast einen Menschen, der dort auf dich wartet.«

Einen Menschen, der auf mich wartet?

Finn?

Ja, klar. Der wartet auf mich – aber ich warte nicht auf ihn! Nur weil Godmothers Code sagt, wir passen zu 98 Prozent zusammen, muss ich mich noch lange nicht in ihn verlieben. Die restlichen zwei Prozentpunkte können viel wichtiger sein.

Das ist unlogisch, kann kein Computer verstehen. Aber wer hat behauptet, das mit dem Verlieben ist logisch?

Eben.

Keiner!

Soll Godmother ruhig glauben, da ist mehr.

»Finn und du passen wunderbar zusammen.«

»Nach zwanzig Jahren Dienst immer noch?«, frage ich trocken. Den Kommentar konnte ich mir nicht verkneifen.

»Für gute Analoge«, fängt Godmother an und macht eine ihrer künstlichen Pausen, bevor sie endlich weiterspricht, »lässt sich diese Zeit um viele Jahre verkürzen.«