Kaum sind Josie und Emre aus dem Raum, gibt Godmother weitere Anweisungen.

»Mary, bereite bitte alles für die Betäubung vor.«

Klar, Silver kann sich ja nicht selbst das Betäubungsmittel spritzen.

»Mauro und Aidan übernehmen mit Conrad den Küchendienst.«

Die beide stehen murrend auf, halten sich aber mit Kommentaren zurück.

»Tian, bitte bringe Silver in den Kontrollraum.«

Er schaut verunsichert zu Silver. Sie nickt ihm zu, und er reicht ihr die Hand. Sie gehen nacheinander durch die Schleuse.

»Viel Spaß!«, rufe ich Silver nach und meine es ernst. Auch wenn das mit dem Besuch heute überraschend kommt, sie muss das Beste daraus machen. Sie soll sich darauf freuen.

»Jesper und Yolanda!«

Wir schauen beide erst uns an und dann in eine der Kameras.

»Genießt den zehnten Tag zusammen. Vielleicht eine Partie Schach?«

»Eine phantastische Idee«, sagt er und geht zum grün leuchtenden Schrank.

Die Schachfiguren sehen aus, als hätten sie in den Klimakriegen mitgekämpft. Der weißen Dame fehlt der Kopf, dem schwarzen König die Krone. Einige Bauern können kaum noch auf dem Brett stehen. Ein Läufer ist spurlos verschwunden und wird durch eine fingerdicke Metallschraube ersetzt.

Nach zwei Partien Schach setzen sich Conrad, Mauro und Aidan mit einem alten Kartenspiel zu uns. Die verknickten Papierstücke fallen bald komplett auseinander.

Tian und Mary treten durch die Schleuse. Sie sind endlich vom Kontrollzentrum zurück.

»Silver ist jetzt in Godland, es hat alles gut geklappt«, sagt Mary.

Beim Mittagessen stoßen Josie und Emre zu uns.

»Und?«, fragt Tian besorgt.

»Silver geht es blendend«, sagt Josie und legt ihm eine Hand auf die Schulter. »Keine Sorge! Sie ruht sich nur noch aus.«

Josie weiß sicher längst, was zwischen Tian und Silver läuft. So wahnsinnig geheim kann man eine Beziehung ja nicht führen auf dieser Insel. Wieso sollte man auch?

Alles spricht sich früher oder später herum. Und wenn nicht, dann sorgt Godmother dafür. Sie entscheidet, was wir wissen dürfen und wann der richtige Zeitpunkt dafür ist.

Dieser zehnte Tag vergeht so langsam wie nie.

Erst nach dem Abendessen tritt Silver durch die Schleuse. Eine Schüssel mit Fischsuppe steht an ihrem Platz. Es war noch reichlich vom Mittagessen übrig, das Zeug schmeckte widerlich.

»Danke«, sagt Silver, doch Tian schaut gar nicht auf den Becher.

Silver sagt etwas lauter: »Stopp!«

Tian stammelt ein »Sorry«. Das Wasser reicht bis zum Rand des Bechers.

Tian ist noch immer total abgelenkt. Er starrt nur geradeaus. Ich folge seinem Blick zum Monitor. Und jetzt weiß ich, wieso.

Silvers Film läuft.

Ist sie deswegen so komisch drauf? Was lief denn schief bei ihrem Godland-Besuch?

Der Film wird es uns allen zeigen. Vorausgesetzt, Godmother lässt es zu.

Silvers Godland ist so gelb wie die Zahnpasta aus dem Labor.

Ich erkenne nichts außer diesem Gelb. Den anderen geht es genauso. Mauro und Aidan stehen auf, der Rest folgt. Nur Tian geht in die andere Richtung, er setzt sich zu Silver. Das ist heute nicht sein zugewiesener Platz, doch Godmother lässt es zu.

»Eine Wüste«, sagt Conrad und zeigt zum Monitor.

»Du hast recht! Das sind Sanddünen«, erklärt Mary.

Von wegen Zahnpasta!

Aber von weiter weg war wirklich nichts zu erkennen. Und woher soll ich wissen, wie eine Wüste aussieht? Wir haben in einer Großstadt gelebt, dann in Flüchtlingslagern, einige Tage auf dem Schiff und dann hier.

Im Unterricht haben wir von Godmother nichts über das Festland gelernt. Wieso auch? Dort ist alles zerstört, verseucht, vergiftet und vermüllt.

Ein Sturm zieht auf, und Sand wirbelt durch die Luft. Erst jetzt erkenne ich eine winzige Person. Das könnte Silver sein.

Endlich kommen wir näher. Wir sausen wie ein Vogel im Sturzflug auf diesen Menschen zu. Der Sturm zieht vorbei, und nun sind wir ganz dicht dran. Es ist wirklich Silver!

Sie klettert eine der Sanddünen hoch. Wir sehen, was sie von hier oben sieht. Die Wüste scheint endlos zu sein.

Conrad wendet sich seiner Frau zu. »Unsere Reise! Du hast ihr davon erzählt?«

Mary legt eine Hand auf seinen Arm, und das ist auch eine Antwort. Natürlich! Keiner von uns Analogen verbringt bei der Arbeit so viel Zeit miteinander wie Mary und Silver. Und in den Stunden im Labor müssen sie ja auch über etwas sprechen.

Silver hat ihr Godland offenbar aus den Reiseberichten von Mary geformt. So schwer ist es gar nicht, sich diese eintönige Landschaft vorzustellen.

Statt dem kalten Ozeanblau ist es in Silvers Godland das warme Wüstengelb. Die Sanddünen sehen aus wie riesige Wellen.

Etwas bewegt sich in Silvers Film am Horizont, es kommt näher, immer näher. Ein Vogel! Ein Vogel mit großen Flügeln. Aber nein, dafür ist das Ding zu riesig und der Körper viel zu kräftig.

»Ein Drache«, sagt Mary.

»Den hab ich im Urlaub gar nicht gesehen«, sagt Conrad.

Mary schaut ihren Mann böse an. Sie will nicht, dass wir uns über Silvers Godland lustig machen. Und das verstehe ich.

Silvers Drache ist rot und fliegt noch immer direkt auf sie zu. Doch sie bleibt ruhig stehen, als hätte sie nichts anderes als dieses furchterregende Wesen erwartet.

Ein paar Meter vor ihr bäumt der Drache sich auf, schlägt heftig mit den Flügeln, wirbelt den Sand auf und landet.

Der Drache schnaubt und faucht. Es sieht aber nicht so aus, als wäre er wütend. Vielmehr macht ihm die staubige Sandluft zu schaffen.

Er hat braune Augen, die so groß sind wie Menschenköpfe. Er öffnet seinen Mund, armlange Zähne blitzen auf. In den Geschichten meiner Mutter würde gleich eine Feuerwalze über den Boden fegen.

Aber das hier ist nicht der Drache meiner Mum, es ist Silvers Drache. Und der kann nicht Feuer spucken, sondern sprechen. Er hat eine dröhnende, tiefe Stimme. »Silver, komm! Wir werden gerufen.«

Silver streicht dem Drachen über die schuppige Haut. Sie nimmt Anlauf und springt auf seinen Rücken. Die Flügel schlagen kräftig, und Sand wirbelt auf. Der Drache schießt in die Luft, und ich hoffe, Silver kann sich gut festhalten.

Doch selbst wenn sie herunterfällt, wir würden das sicher nicht sehen. Ich denke an den Jungen in meinem Godland, der so getan hat, als ob er ertrinken würde. Godmother hat Finns dummen Scherz keinem von uns im Film gezeigt.

»Wow«, sagt Mauro.

Aidan dreht sich zu Silver, die noch immer am Tisch neben Tian sitzt. Sie hält den Becher fest umschlossen und betrachtet das Trinkwasser.

Der Drache segelt durch die Wolken hinab. Er verliert an Höhe und schwebt tiefer, immer tiefer. Als er landet, ist es schon Nacht.

Silver steigt vom Drachen ab und setzt sich an ein Lagerfeuer. Um das brennende Holz herum steht eine Gruppe von Menschen. Sie tragen Kopftücher, und ihre Gesichter sind verschleiert.

Ich höre fremde Stimmen von Männern und Frauen. Ein Kessel hängt über dem Feuer, und eine Person schöpft etwas in einen Becher.

Silver riecht daran und strahlt. Ich denke an meine Suppe in der Hütte der Heilerin. Ich durfte sie nicht essen, mein Godland war vorher zu Ende. Ob Silver ihren Becher austrinken darf? Was mag da drin sein? Was trinken diese fremden Menschen in der Wüste?

Silver hält sich den dampfenden Becher an die Lippen, will endlich davon kosten. Da schreit jemand aus der Gruppe auf. Er zeigt in die Ferne, dort bewegt sich etwas und kommt langsam auf das Feuer zu.

Noch ein Drache?

Nein.

Aus der Nacht tritt ein vierbeiniges Tier.

Erst jetzt sehe ich, dass das Kamel humpelt. Silver stellt den Becher auf einen Stein am Rand des Lagerfeuers.

Sie geht zum Kamel, bückt sich und betrachtet ein Bein des Tieres. Eine Stelle ist wund, sie blutet.

Silver greift zu ihrer Umhängetasche. Es ist die, die sie immer trägt, wenn sie jemandem helfen muss bei uns auf der Serverinsel. Darin war auch die Spritze, die ich vor meinem Besuch in Godland bekommen habe.

»Ist gut«, sagt Silver sanft zu dem Kamel.

Das Tier hört auf zu zappeln, und Silver holt aus ihrer Tasche eines unserer Marmeladengläser, die leer in der Kantine stehen.

In dem Glas ist eine grüne Flüssigkeit. Vielleicht ein aus Algen hergestelltes Medikament. Das spielt ja keine Rolle. Wer weiß, was es in ihrem Godland für Wundermittel gibt.

Silver reibt den Knöchel des Kamels mit dem grünen Zeug ein. »Ja, so ist es gut …«, flüstert sie.

Das Kamel scheint sie zu verstehen und wehrt sich nicht. Es lässt sich einreiben, so sehr die Wunde dabei auch schmerzen muss.

In ihrem Godland ist Silver eine echte Ärztin, vielleicht auch eine Tierärztin. Sie hat dort eine sinnvolle Aufgabe. Ich bewundere sie dafür.

Ich glaube, so wie sie müssen wir es alle machen in Godland. Für das ewige Leben muss ich mir eine Beschäftigung einfallen lassen. Ich kann nicht immer nur mit Typen wie Finn in einer geheimen Höhle herumsitzen. Wie schnell würde es mir in meinem Godland langweilig werden?

Silver ist noch mit dem Kamel beschäftigt. »Du bist ganz tapfer …«, flüstert sie. »In ein paar Tagen ist alles wieder gut.«

»Danke«, sagt eine Stimme so leise, dass sie kaum zu verstehen ist.

Kurz glaube ich, das Kamel kann sprechen. Wieso auch nicht? Es gibt schließlich einen sprechenden Drachen in Silvers Godland.

Doch es war nicht das Kamel, es war der Reiter. Er trägt einen Turban. Wieso entdecke ich ihn erst jetzt?

»Wo kommt der denn her?«, fragt Mauro.

Der Reiter zieht langsam seinen Turban vom Gesicht, und Aidan pfeift.

Tian ist der Reiter.

Für Tian ist das sicher nicht überraschend. Für mich auch nicht. Und für Silver sowieso nicht. Wir drei halten zusammen, das weiß ich inzwischen. Die anderen Analogen sind uns egal.

Aidan pfeift noch lauter, und Emre hat genug. »Raus!«

»Aber … ich … ich wollte nur …«, stammelt Aidan.

Sein Vater unterbricht ihn. »Ich sagte raus! Oder willst du ein paar Tage mehr Dienstzeit?«

Mich überrascht dieser Satz nicht. Emre hat irgendwann angefangen, damit zu drohen. Godmother duldet das offenbar. Natürlich kann nur sie die Dienstzeit verlängern.

Tian betrachtet sein Ebenbild auf dem Monitor. Es ist nicht

Tian sieht aus, als hätte er zu viel Zeit auf dem Freideck verbracht. Die Haut hat sich an manchen Stellen schon rot gefärbt. Sonnenbrand. Das muss höllisch weh tun.

Der Godland-Tian ist vielleicht ein, zwei Jahre älter als heute. Er trägt einen kurzen Bart, und der steht ihm gut. Auf der Serverinsel wäre das unmöglich, das würde Godmother nicht dulden. Sie sagt, so ist es »hygienischer«.

Das Kamel tritt zur Seite. Silver zeigt auf eine der roten Stellen in Tians Gesicht. »Tut das weh?«

Tian schüttelt den Kopf, und wir alle in der Kantine wissen, dass er lügt.

Silver kramt in ihrer Umhängetasche und packt wieder so ein Marmeladenglas aus.

Der Inhalt ist nicht grün wie die Wundsalbe für das Kamel, sondern weiß. Silver schraubt den Deckel auf und nimmt eine Hand von Tian. Sie führt einen seiner Finger erst ins Glas, dann auf seine knallrote Stirn.

Tian lässt Silver seinen Finger führen. Als die weiße Paste seine Stirn erreicht, beißt er sich auf die Lippen. Doch er lässt Silver weitermachen. Sie führt seinen Finger immer wieder ins Glas und danach zu seinem Gesicht.

Die Salbe zieht sofort ein. Wenige Sekunden später ist der Sonnenbrand verheilt.

Das ist Godland!

Silver führt Tian zum Lagerfeuer. Alle Leute sind verschwunden. Nur ein Mensch sitzt noch da, das Gesicht unter einem schwarzen Gesichtsschleier verborgen.

Silver und Tian gehen zu diesem fremden Menschen. Ihre

Die fremde Person spricht durch ihren Schleier mit Silver. »Tut mir leid. Dein Besuch ist gleich vorbei.«

Ich erkenne diese Stimme. Es ist die der Heilerin, also meiner Heilerin, in meinem Godland – Muriel.

Zumindest das hier ist so wie bei mir. Die fremde Frau ist die Ansprechpartnerin für alle Probleme. Keiner wird in Godland mit seinen Fragen allein gelassen.

Doch einen großen Unterschied gibt es. Silver stellt keine tausend Fragen, so wie ich damals. Genau genommen stellt sie keine einzige! Silver lässt es einfach geschehen. Sie akzeptiert, dass ihr Godland gleich vorbei ist.

»Wirst du wieder gerufen?«, fragt der Godland-Tian.

Wieder gerufen?

Ich verstehe, Silvers Heilkünste sind offenbar sehr gefragt.

»Ich komme wieder«, verspricht Silver.

Ja, natürlich wird sie das. Allerdings erst in knapp zwei Jahrzehnten. Aber das muss sie ihm nicht sagen, er ist nur eine Kopie von Tian. Ein Godland-Tian eben.

Doch das ist egal. Silver und der echte Tian können auch schon auf der Serverinsel zusammen sein. Sie brauchen im Gegensatz zu mir kein Godland für einen Kuss.

»Bis bald«, sagt die fremde Frau am Lagerfeuer, die die Stimme meiner Heilerin hat.

Sie geht einen Schritt auf Silver zu, und keine Handbreite trennt sie voneinander. Hinter dem Gesichtsschleier ist noch immer nichts zu erkennen. Silver berührt den schwarzen Stoff, und die Frau weicht nicht zurück.

Ich bin es.

Ich bin Silvers Heilerin.