Für die anderen in der Kantine ist der Film kein Thema mehr. Silver ist in Tian verliebt, okay, das war abzusehen. Darüber würden vielleicht manche gern mehr reden. Doch Godmother duldet solche Gespräche nicht.

Sie können zu verletzten Gefühlen und Streit führen, und streitende Analoge will Godmother nicht.

Mein Gastauftritt als beste Freundin am Lagerfeuer wundert keinen. Meine Stimme klang anders, na gut, aber so ist Godland eben.

Für mich ist es überhaupt nicht belanglos. Ich bin in Silvers Godland die Heilerin, also ihre Helferin, die wichtigste Person überhaupt! Bedeute ich ihr so viel?

Ich bekomme ein schlechtes Gewissen. In meinem Godland tauchte Silver überhaupt nicht auf. Da gab es nur Finn, die Heilerin und mich. Fertig.

Wie war das für Silver damals, als sie mein Godland gesehen hat? Wäre sie gern darin vorgekommen? Denkt Silver, sie bedeutet mir nicht so viel?

So ist es nicht! Im Gegenteil. Ich wollte in Godland einfach Dinge erleben, die ich auf der Serverinsel nicht erleben kann.

Und ich habe nach Abwechslung gesucht, nach Menschen, die ich noch nicht kenne. Woher sollte ich wissen, dass mir Godmother einen echten Hochgeladenen zuschiebt?

Als plötzlich der Alarm losgeht, zucke ich zusammen. Conrad wäre fast der Becher aus der Hand gefallen. Aidan sitzt am nächsten an der Schleuse, springt auf und ist schon fast durch. Wir müssen so schnell wie möglich zur Meldestelle.

»Stopp!«, ruft Godmother und übertönt sogar den Alarm. »Wir haben keine Zeit. Ich brauche sofort drei Freiwillige.«

Josie ist fast so laut wie Godmother. »Was ist denn passiert, wieso …«

»Ich bin dabei!«, ruft Tian.

Alle starren ihn an. Der Kerl hat Mut, so viel ist klar.

»Noch zwei!«, sagt Godmother.

Silver streckt die Hand hoch.

Was ist los?

Wollen die keinen freien Tag?

Oder hoffen sie auf eine Verkürzung der Dienstzeit?

Wollen sie noch mehr Zeit zu zweit? Aber es werden doch drei Freiwillige gesucht.

Und dann kapiere ich es endlich.

Melde dich freiwillig beim Alarm!

So stand es an der Duschwand.

Das hat Tian von mir gefordert.

»Danke, Tian und Silver. Wir benötigen noch eine Person.«

Der Alarm tut inzwischen in den Ohren weh.

Silver schaut mich an, und dieser Blick geht mir mitten ins Herz. Ich habe in ihrem Godland die wichtigste Rolle gespielt,

»Ich mach’s«, sagt Mauro, und der Alarm geht sofort aus.

Seit wann meldet der sich freiwillig? Vermutlich hat er einen Blick auf seine Dienstzeit geworfen. Er muss etwas tun, sonst verschimmelt er auf der Serverinsel.

Ich schaue Silver an, doch ihr Blick ist auf den Boden gerichtet. Sie ist enttäuscht von mir.

Das werde ich ändern. Nicht erst in meinem Godland, sondern jetzt.

»Ich melde mich freiwillig!«, schreie ich, obwohl der Alarm doch ausgeschaltet ist.

Mauro blickt mich ratlos an. Wieso tue ich das, obwohl er sich gerade erst gemeldet hat?

»Wir haben schon drei Freiwillige«, sagt Godmother. »Danke dennoch.«

Ich suche nach einem guten Argument. »Tian, Silver und ich waren im Wartungsdeck ein gutes Team. Wir machen …«

»Yolanda, ihr alle in diesem Raum seid ein gutes Team«, sagt Godmother.

Ich nicke. »Natürlich.«

Das Team-Argument war dumm von mir. Godmother liebt gemischte Teams. Sie will vermeiden, dass sich immer die selben Gruppen bilden. Da fühlt sich schnell jemand ausgeschlossen.

Bevor mir etwas Neues einfällt, redet Godmother weiter. »Dennoch ist es besser, wenn du es machst, Yolanda.«

Verwirrt schaut mich Mauro an. Er ist wütend. Was kann ich bitte besser als er?

Lügen.

Ich bin die perfekte Lügnerin!

Das habe ich Godmother bei Zoe bewiesen. Bei ihrem Unfall.

»Tian, Silver und Yolanda, kommt bitte in die Ausrüstungskammer«, sagt Godmother.

Unterwegs spricht keiner von uns ein Wort. Silver läuft voraus, Tian ist in der Mitte, und ich folge beiden. Erst als wir in der Ausrüstungskammer sind, redet Godmother wieder.

»Keiner von euch wird den anderen jemals etwas über diesen Auftrag sagen.«

»Ja, Godmother.« Tians Antwort kommt eine Sekunde zu schnell. Er klingt auch nicht verwundert genug. Oder bilde ich mir das nur ein?

Mit keinem darüber sprechen, wieso es diesen Alarm gegeben hat? Was soll ich den anderen später erzählen?

Obwohl, da muss ich mir keine Gedanken machen. Godmother hat sicher längst den Text, den wir für sie auswendig lernen müssen.

Eine weitere Lüge.

»Yolanda!«, sagt sie.

»Ja, was?«, frage ich. Was will sie von mir?

»Ich sagte, keiner von euch erzählt den anderen etwas über diesen Auftrag. Kann ich mich auf dich verlassen?«

Stimmt. Tian hat sofort eingewilligt. Wieso überlege ich?

»Ja, ich behalte es für mich.«

»Silver?«

»Ich schweige wie ein Grab.«

Eine Redewendung der Alten. Will sie Godmother damit etwa provozieren?

Der nutzlose Körper wird verbrannt. Ihn kann man natürlich nicht ins ewige Godland mitnehmen. Die Asche wird über den Ozeanwellen verstreut.

»Ich verlasse mich auf euch«, sagt Godmother. »Wer den anderen Analogen etwas sagt, dient fünfzehn Jahre länger.«

Fünfzehn Jahre? Meint sie das ernst?

Eine solche Verlängerung hat es bei uns noch nie gegeben! Das kann sie nicht machen.

Andererseits, wieso nicht? Sie ist Godmother.

Ich blicke zu Tian und Silver. In was für eine beschissene Lage habt ihr mich hier nur gebracht?

Melde dich freiwillig beim Alarm!

Ich laufe knallrot an vor Wut.

»Du siehst erregt aus, Yolanda.« Godmothers Stimme klingt besorgt. »Entspann dich bitte. Du bekommst sicher keine Verlängerung der Dienstzeit. Du kannst etwas für dich behalten. Das weiß ich.«

Sie weiß es wirklich. Godmother muss nichts vermuten oder behaupten. Sie hat das schlicht und einfach ausgerechnet.

»Wieso sind wir hier?«, fragt Tian.

Er spielt Godmother was vor! Er muss doch wissen, was hier läuft. Er hat die geheime Botschaft an die Duschwand geschrieben.

»In Deck B gab es einen Laborunfall. Ihr müsst helfen.«

Schon wieder ein Unfall. Das kann bei Godmother leider alles bedeuten.

»Chemische Verseuchung?«, fragt Silver.

»Ja«, antwortet Godmother.

Ich hätte ein paar mehr Details durchaus interessant gefunden. Wie gefährlich wird es? Was ist da alles verseucht, und wer von den Leuten auf Deck B ist betroffen?

»Gibt es Verletzte?«, frage ich.

Godmother wiederholt ihren Satz. »In Deck B gab es einen Laborunfall. Ihr müsst helfen.«

Wir stellen keine Fragen mehr.

Silver sucht die Schutzausrüstung für uns aus. Sie zeigt uns, wie wir den Plastikanzug anziehen. Kopf, Hände, Füße, alles ist umschlossen. Auf der Höhe meines Gesichtes ist das Material durchsichtig. Wir ziehen Stiefel an, und Silver befestigt Sauerstoffgeräte auf unseren Rücken. Das Mundstück mit dem Schlauch führt sie durch einen Verschluss des Anzuges.

»Ist so etwas gefährlich?«, frage ich Silver. Meine Stimme dringt kaum durch den Anzug, und ich spreche lauter. »Wird es schlimm?«

Godmother muss ich nicht fragen. Die würde wieder ihren Satz wiederholen: In Deck B gab es einen Laborunfall. Ihr müsst helfen.

Silver dreht ein Ventil auf, testet irgendetwas. Sie schaut dabei nicht einmal auf. »Nein«, sagt sie. »Wenn du aufpasst, kann nichts passieren.«

Oh, wie klasse. Nur aufpassen. Sehr beruhigend! Ich weiß ja nicht mal, worauf ich aufpassen soll.

Wir verlassen die Ausrüstungskammer. Im Korridor kommt uns Dad entgegen. Er bleibt vor uns stehen und betrachtet die Schutzanzüge. »Wo geht ihr denn hin?«

»Was ist passiert?«, fragt er total besorgt.

Noch immer antwortet keiner von uns.

Godmother hätte uns zumindest sagen müssen, was wir den anderen erzählen sollen. War doch klar, dass uns jemand im Korridor begegnen kann. Und sie sieht doch, wer die Kantine verlässt.

Andererseits war sie es, die Dad durch die Schleuse gelassen hat. Sie wollte also, dass er uns genau so sieht. Er soll den anderen davon berichten.

Nur was?

»In Deck B gab es einen Laborunfall«, sagt Godmother.

Tian und Silver schauen sich ratlos an. Ich verstehe auch nichts mehr. Wir sollen diesen Auftrag geheim halten, aber sie plaudert alles aus?

Dad macht einen Schritt zur Seite und lässt uns durch. »Passt auf euch auf!«

Als ich an ihm vorbeigehe, spüre ich durch den Plastikanzug seine Hand auf meiner Schulter.

Silver, Tian und ich gehen nacheinander durch die Schleuse ins Treppenhaus. Keiner sagt etwas. Auch Godmother fragen wir nichts.

Ich bin sicher, Silver und Tian denken inzwischen das Gleiche wie ich. Natürlich konnte Godmother meinem Dad vom Laborunfall auf Deck B erzählen – es gibt nämlich gar keinen!

Das ist nicht unser wahrer Auftrag. Unsere Verkleidung ist nur Tarnung. Wir sollen daran glauben, bis wir dort ankommen. So spielen wir allen glaubhaft etwas vor, ohne selbst zu wissen, dass es nur ein Fake ist.

Auf der anderen Seite ist es total dunkel. Ein Stromausfall? Kurz blinkt ein Licht rot auf, doch das reicht nicht aus. Wieder blinkt es. Ein Alarm vielleicht?

Silver und Tian gehen voraus, ich folge.

Finger auf den Sensor.

In die Kamera schauen.

Ganzkörperscan.

Und wir stehen zu dritt im dunklen Korridor von Deck B.

Kein Geräusch ist zu hören.

Nichts ist zu sehen.

»Wo sind die alle?«, frage ich.

Wir gehen langsam bis zur Schleuse der Kantine. Hinter dem Panzerglas dort blinkt es wieder rot.

Ich drücke mein Gesicht an die Scheibe. Als das Licht erneut aufleuchtet, kann ich einen Blick auf den langen Tisch und die Stühle erhaschen.

Keiner ist da.

Stimmt, sie müssen alle arbeiten. Der zehnte Tag von unserem Deck ist nicht der zehnte Tag von Deck B. Sonst würde sich ja an einem ganzen Tag keiner um Godland kümmern können.

»Wo seid ihr?«, fragt Godmother.

Meint sie uns oder die Analogen von Deck B?

Wo sollen wir sein?

Sie sieht uns doch! Sie kann doch auf Nachtsicht oder Wärmebild umstellen. Dann würde sie uns zumindest als rote, dicke Punkte in einem blauen Korridor erkennen.

»Vor der Kantine«, sagt Silver.

»Wo seid ihr?«

»Kantine!«, schreit Silver.

»Wo seid ihr?«

»Hört die nichts?«, fragt mich Silver.

»Geht weiter bis zur Schleuse der Schlafkojen«, sagt Godmother endlich.

Arbeiten die auf Deck B gar nicht, sondern schlafen noch alle? Oder ist dort etwas passiert? Ein technischer Fehler vielleicht. Die Leute kommen nicht mehr aus ihren Kojen.

Das gab es auch schon bei uns. Irgendein Kurzschluss, und wir mussten den halben Tag ohne Essen verbringen. Jeder war in seiner Koje eingesperrt. Da half ebenfalls jemand vom anderen Deck.

Silver, Tian und ich stehen vor der Schleuse zu dem Gang mit den Schlafkojen. Dort ist es noch dunkler, nichts leuchtet oder blinkt.

Tian geht zu einem Schrank neben der Schleuse. Darin sind Schläuche für den Brandfall, Werkzeug und ein Erste-Hilfe-Set. Das ist bei jeder Schleuse so. Nur sind die Taschen mit den Pflastern und Verbänden überall leer. Wir haben nichts zum Nachfüllen.

Tian interessiert sich auch gar nicht für diese Tasche oder das Werkzeug. Er greift zu einer Taschenlampe. Godmother wird das nicht gefallen. Sie gibt die Anweisungen. Doch sie sagt nichts.

Oder sieht sie gerade wirklich so schlecht hier unten?

Tian strahlt mit der Lampe an die Decke des Korridors. Und dann verstehe ich endlich, was los ist.

Silver hebt eine der kaputten Kameras auf und wechselt einen Blick mit Tian. Was wissen die beiden? Ich könnte sie einfach fragen. Godmother hört doch sowieso nichts, wenn alle Geräte kaputt sind. Aber kann ich mir da wirklich sicher sein?

»Seid ihr bei der Schleuse angekommen?«, fragt Godmother.

»Nein«, sage ich. »Wir stehen noch immer vor der Kantine.«

Tian und Silver schauen mich entsetzt an. Doch fast gleichzeitig löst sich die Anspannung. Sie verstehen, was das soll: Ich teste Godmothers Gehör.

»Gut, ihr seid angekommen. Dann befolgt ohne Fragen die weiteren Befehle.«

Godmother versteht wirklich nichts!

»Godmother!«, sagt Tian. Er muss natürlich noch einen draufsetzen. »Du bist der lahmste Rechner im Universum.«

»Verriegelt die Schleuse zu den Schlafkojen«, sagt Godmother.

Silver nimmt Tian die Taschenlampe aus der Hand. »Sie kann nichts sehen und hören. Aber die Sensoren funktionieren vielleicht noch. Dann kann sie kontrollieren, ob wir die Schleuse verriegeln oder nicht.«

»Was ist hier los?«, frage ich.

Und es ist nur eine von tausend Fragen, die mir durch den Kopf gehen.

Ich klopfe auf das Panzerglas der Drehtür. »Wenn wir das verriegeln, sind die da drinnen eingesperrt.«

Silver drückt die Taschenlampe gegen das Panzerglas der Schleuse. Das Licht dringt nicht richtig durch, es wird gespiegelt.

Doch das bisschen, was ich im Korridor der Schlafkojen erkenne, reicht mir vollkommen.