Der Gang mit den Schlafkojen ist voller Wasser. Der komplette Bereich ist bis zur Decke überflutet.
Godmother wiederholt ihren Satz: »Ihr habt noch nicht die Schleuse verriegelt.«
»Wir müssen denen helfen!«, schreie ich.
Godmother kann mich nicht verstehen.
Und Silver und Tian rühren sich nicht. Wieso?
Ich brülle die beiden an. »Die ertrinken da drinnen!«
Tian schaut mich nicht einmal an.
Silver antwortet ruhig: »Sie sind nicht mehr da.«
»Was?«
»Schau mal dort.« Sie lenkt den Schein der Taschenlampe zu einer anderen Stelle.
Ich drücke mein Gesicht ans Panzerglas. Die Tür zu einer Schlafkoje ist auf!
Moment. Nicht nur eine. Alle Türen stehen offen. Also ist überall schon Wasser.
»Wir kommen zu spät«, sage ich mit schwacher Stimme.
»Ihr habt noch nicht die Schleuse verriegelt.« Godmother klingt inzwischen ziemlich streng.
Ich lehne mich an die Metallwand und rutsche langsam mit dem Rücken nach unten. »Alle sind tot.«
Silver beugt sich zu mir runter und schüttelt mich durch. »Nein, jetzt höre doch mal zu. Alle von Deck B …«
Ich spüre durch den Schutzanzug kaltes Wasser. Wo kommt das her?
Sofort springe ich hoch und reiße Silver die Taschenlampe aus der Hand. Ich leuchte auf den Boden. Hier ist schon eine riesige Pfütze. Das Wasser tropft aus der Schleuse.
Kein Wunder, der Druck auf der anderen Seite muss enorm sein. Deswegen will Godmother, dass wir die Schleuse verriegeln.
Wenn das Panzerglas platzt, wird auch dieser Korridor überflutet. Und wenn der Korridor voller Wasser ist, gibt es nur noch eine Schleuse bis zum Treppenhaus.
Und wenn dort Wasser ist, dann sind wir in unserem Deck oben eingesperrt.
»Ihr habt noch nicht die Schleuse verriegelt.«
Godmother klingt irgendwie resigniert. Hat sie begriffen, dass hier unten alles kaputt ist? Oder macht sie einen auf Mitleid? Das kann sie nämlich auch gut.
»Sie hat recht! Das müssen wir machen!«, sage ich. »Sonst wird alles geflutet.«
Als bräuchte es noch einen Beweis, spritzt uns Wasser entgegen. Bis eben hat es nur getropft. Der Riss an der Schleuse ist größer geworden. Deswegen hatte es Godmother oben beim Alarm in der Kantine so eilig!
Ich öffne den kleinen, roten Kasten neben der Schleuse. Zwischen den Schaltern ist die Kurbel. Wenn ich mich beeile, kann ich die Schleuse in einer Minute verriegeln.
Je schneller ich hier drehe, desto schneller rollt die Metallwand runter. So haben wir es in der Schule gelernt.
Tian schiebt mich zur Seite. »Moment!«
»Wieso Moment? Wenn die Schleuse platzt …«
Silver kommt zu mir. »Wir wollen dir noch was zeigen.«
Ich schlage auf den Kasten. »Und wieso können wir nicht erst mal das Ding hier …«
Silver nimmt mir die Taschenlampe aus der Hand und strahlt wieder durch das Panzerglas.
Meine Neugier siegt, und ich versuche, mehr zu erkennen.
Ich sehe einen Haifisch und schrecke zurück. Es ist nur ein kleiner Hammerhai. Seine Schwanzflosse schlägt auf und ab. Wie kommt der hierher?
Der Strahl der Taschenlampe zielt vorbei an den Schlafkojen, er trifft auf das Ende des Ganges. Das Wasser ist klar genug, und ich erkenne etwas: Ein riesiges Loch klafft dort in der Wand. Es ist so groß wie die Tür einer Schlafkoje. Und mir fällt sofort auf: Das sieht nicht aus wie ein Unglück.
Die dicke Schutzwand zum Pazifik ist nicht aufgerissen und zerfranst, so wie bei einer Explosion. Vielmehr hat das Loch ganz gerade Ränder. Es sieht aus, als hätte jemand absichtlich diese Öffnung zum Pazifik aufgeschweißt.
Ich starre dorthin, bis mir eine handdicke Metallwand die Sicht versperrt. Tian dreht die Kurbel im roten Kasten neben mir. Er verriegelt die Schleuse, bevor es zu spät ist.
Ich habe gesehen, was ich sehen sollte.
»Helft mal!«, flucht Tian.
Silver greift die Kurbel weiter oben, ich unten. Selbst zu dritt bewegt sich die Wand nur Zentimeter für Zentimeter. Mindestens ein halber Meter fehlt noch bis zum Boden.
Das Ding klemmt.
Das Panzerglas der Schleuse macht inzwischen fiese Geräusche. Es klingt so, wie wenn ich auf einen viel zu harten Trockenfisch beiße. So ein Knirschen.
»Schneller!«, rufen Tian und Silver gleichzeitig.
Wenn das Glas aufplatzt, ist der Korridor hier in ein paar Augenblicken geflutet.
Wieder so ein Knirschen.
Noch eine Handbreite fehlt uns.
Ich umgreife die Kurbel mit beiden Händen.
»Hey!«, sagt Silver, die jetzt keinen Platz mehr hat.
Ich hänge mich mit meinem ganzen Gewicht an das Ding.
Noch wenige Zentimeter.
Das Knirschen wird lauter.
Da dreht sich die Kurbel ein ordentliches Stück. Meine Hände rutschen ab, ich knalle auf meine Knie. Autsch!
Egal. Die Metallwand ist im Boden eingerastet.
»Verriegelung erfolgreich«, meldet Godmother. Silver hatte recht, die Sensoren der Schleuse funktionieren noch.
»Kommt umgehend in die Ausrüstungskammer«, sagt Godmother.
Silver hilft mir hoch. Tian läuft schon los.
Er wollte mich hier dabeihaben. Wieso?
Damit ich das Loch sehe? Haben er und Silver auch so etwas vor? Ich will nicht durch ein Loch abhauen. Wohin denn auch?
Es gibt nichts mehr außer Godland. Und dahin führt kein Loch. Dahin führt nur der Upload.
Ich hole Tian ein und packe ihn am Schutzanzug. Der reißt, und ich halte ein Stück Plastik in der Hand. Das gibt gleich Ärger von Godmother.
Verdammt.
»Ein Laborunfall war das nicht«, sage ich. »Okay, aber was …«
Silver stellt sich zu uns und nickt hoch zur Decke, zu den kaputten Kameras. »Hier gab’s einen Aufstand.«
»Einen Aufstand?«
Silver spricht einfach weiter. »Und danach sind die Leute von Deck B weg.«
»Verriegelung erfolgreich«, wiederholt Godmother. »Kommt umgehend in die Ausrüstungskammer.«
Tian nimmt mir das Stück Plastik von seinem Schutzanzug aus der Hand und will weiter.
Ich stelle mich wieder in den Weg, breite die Arme aus, will beide stoppen.
Ich kann nicht mehr!
Ich will keinen Schritt mehr gehen.
»Bitte! Was soll das alles?«
Tian läuft mir in den linken Arm, Silver in den rechten. Doch sie gehen nicht weiter, sie bleiben stehen. Und sie umarmen mich gleichzeitig.
Wir sind ein Knäuel aus Armen und Händen, jeder berührt jeden. Silver kommt dabei noch einen halben Schritt auf mich zu. Sie drückt sich an mich, und ich spüre ihren Herzschlag. Tians Hand hält sich an meiner Schulter fest.
Wir sind wieder zu dritt.
Also so richtig, meine ich.
Egal, was die zwei vorhaben, ich gehöre dazu.
»Verriegelung erfolgreich. Kommt umgehend in die …«
Silver streckt ihren Arm zum Lautsprecher aus und reißt ihn von der Decke.
»… Ausrüstungskammer«, beendet Godmother ihren Satz aus einer anderen Ecke des Ganges. Immerhin ist der Lautsprecher weiter weg, und sie klingt leiser.
Wieso haben die bei dem Aufstand nicht die Boxen runtergerissen?
Ich kann Tians Gesicht nicht sehen, dafür stehen wir zu eng beieinander. Doch ich höre seine Stimme. »Yolanda, der Zettel vom Wartungsdeck, weißt du noch, was darauf stand?«
Was für eine Frage. Ist ja nicht so, als ob wir täglich geheime Botschaften erhalten.
Es war das erste Stück Papier, das ich seit Jahren gesehen habe. Abgesehen von dem zerfetzten Kartenspiel in der Kantine.
Godland ist ein Fake. Seid bereit.
Tian wartet nicht auf meine Antwort. »Ich hatte so einen Zettel schon einmal im Wartungsdeck gefunden.«
»Wann war das?«, frage ich.
»Als das mit seinem Finger passiert ist«, sagt Silver.
Sie weiß viel mehr als ich. Ich verstehe schon, sie und Tian sind zusammen. Tian vertraut ihr einfach mehr als mir. Und sie hatten genug Zeit zu zweit auf dem Freideck, wo wir anderen nicht mehr hin dürfen.
»Der Zettel hing damals in der Pumpe fest«, sagt Tian. »Ich las ihn laut vor, doch die anderen glaubten mir kein Wort. Da wollte ich den Zettel rausholen und den anderen zeigen. Doch Godmother hat das verhindert.«
Ich muss schlucken. »Godmother hat dir das extra angetan?«
»Sie hat die Pumpe eingeschaltet, damit der Zettel vernichtet wird«, sagt Silver. »Tians Finger war ihr egal.«
Ich schüttele den Kopf vor Entsetzen.
Godmother lügt uns an, und sie manipuliert uns. Wir verbreiten ihre Lügen sogar für sie. Jeder auf dieser Insel tut das vermutlich schon seit Jahren. Und jetzt erfahre ich, dass sie nicht davor zurückschreckt, uns zu verletzen.
»Wieso hast du mir das nie gesagt?«, frage ich Tian.
Es hätte so viele Möglichkeiten dafür auf dem Freideck gegeben, als wir noch alle dort sein durften.
Seine Antwort kommt sofort und trifft mich wie ein Schlag in den Magen. »Du hättest es mir nicht geglaubt.«
»Wieso denn das?«
»Weil dir deine Computermama wichtiger war und …«
»Meine Computermama?«, frage ich und will mich von ihm wegdrücken. Doch er und Silver lösen nicht die Umarmung, sie halten mich fest.
»Entschuldige«, sagt Tian. »Godmother ist für dich mehr als für mich.«
»Und für mich«, sagt Silver. »Für uns ist sie ein Programm, das uns kontrolliert. Kein Gott und keine Mum.«
Ich will widersprechen und suche nach Argumenten, nach Beispielen, nach irgendwas. Doch mir fällt nichts ein.
So peinlich mir das jetzt ist: Tian und Silver haben recht. Godmother war meine Computermama.
Sie war für mich wirklich wie eine Mutter. Sie war es in den Schuljahren und vielleicht in den Monaten danach. Doch seitdem ich ihre Lügen durchschaue, ist sie es nicht mehr.
Das muss ich Tian und Silver nicht erklären. Sie vertrauen mir jetzt. Das fühle ich. Und das zählt.
Aber ich habe noch eine andere Frage.
»Wohin sind die alle von Deck B? Da draußen ist doch nichts mehr. Da lebt keiner mehr!«
Silvers Antwort kommt prompt. »Vielleicht doch.«
»Woher wusstet ihr vom Aufstand?«
»Der Fisch hat es uns gesagt«, erklärt Silver.
»Der Fisch?«, frage ich. Was erzählen die mir hier eigentlich?
»Ich bekomme immer eine Ration für das Labor. Und plötzlich war da in einem Fisch so ein Plastikteil.«
»Kommt oft vor«, sage ich.
»Aber auf dem Plastikteil stand Deck B und Seid bereit! Bestimmt gab es mehrere Fische mit verschiedenen Nachrichten. Deck B wusste vermutlich …«
»Aber wer hat das geschrieben?«, unterbreche ich Silver.
Sie und Tian schweigen.
»Wisst ihr es nicht, oder macht ihr wieder ein Geheimnis daraus?«
»Wir haben keine Ahnung«, sagt Silver.
»Nicht die geringste«, ergänzt Tian.
»Nee, oder?«
»Verriegelung erfolgreich«, wiederholt Godmother zum hundertsten Mal. »Kommt umgehend in die Ausrüstungskammer.«
»Hast du eine Idee, wer dahintersteckt?«, fragt mich Tian.
Ausgerechnet mich?
»Nein«, sage ich.
Tian lässt den Kopf hängen, und ihn so verzweifelt zu sehen, zieht mich nur noch mehr runter. Doch mir kommt eine Idee. »Aber die Fische wissen vielleicht mehr.«
Silver versucht ein Grinsen und nickt. »Wir müssen Godmother davon überzeugen, die Netze auswerfen zu dürfen.«
»Sonst verhungern wir sowieso«, sagt Tian. »Das Argument wird sie überzeugen.«
Wir lösen uns alle aus der Umarmung und gehen durch die Schleuse ins Treppenhaus. Silver und Tian laufen hoch zu unserem Deck.
Ich drehe mich noch mal zur Schleuse um, die zwischen Deck B und dem Treppenhaus liegt. Wie lange wird dieses Panzerglas halten?
Nicht lange genug offenbar. Godmother hat das schon ausgerechnet, und die Kameras im Treppenhaus funktionieren. Sie weiß, dass wir endlich zu ihr kommen. Und sie sieht, dass ich als Einzige noch warte.
Eine Metallwand schiebt sich vor das Panzerglas. Hier funktioniert die Automatik. Wir müssen nicht kurbeln. Godmother verriegelt das ganze Deck B.
Für immer.
Nie wird jemand außer uns die kaputten Kameras sehen. Oder das Loch in der Wand bei den Schlafkojen. Keiner wird vom Aufstand erfahren.
Ich stehe vor der Schleuse zu unserem Deck. Tian und Silver sind hier auch schon durch. Sie hätten ruhig auf mich warten können.
Ich muss wissen, was sie Godmother sagen. Wir dürfen uns nicht widersprechen, wir müssen die gleiche Version erzählen. Und Godmother wird genau nachfragen, was da unten so lange gedauert hat.
Auf der anderen Seite der Schleuse ist es ruhig. Ich laufe den Korridor entlang zur Ausrüstungskammer. Durch das Panzerglas sehe ich die anderen Analogen in der Kantine.
Einige spielen Karten, manche sitzen einfach nur herum und reden. Doch sie sehen alle angespannt aus. Sie fragen sich natürlich, was unter ihnen auf Deck B los war.
Als ich in der Ausrüstungskammer ankomme, redet Tian schon mit Godmother. Er erzählt seine Version der Dinge. »… und dann bin ich ausgerutscht.«
Tian zeigt den kaputten Schutzanzug und zieht ein Stück Plastik aus der Seitentasche. Es ist das Stück, das ich ihm versehentlich von der Schulter gerissen habe.
Silver spricht weiter, bevor Godmother zu viel nachfragen kann. »Da unten war alles nass. Wir können froh sein, dass Tian sich nicht verletzt hat.«
Respekt, damit kommt sie bei Godmother durch.
»Und die Kurbel hat geklemmt«, sagt Tian. »Die war voller Rost.«
Wieder macht Silver weiter. »Deswegen konnten wir nicht gleich verriegeln.«
Auch nicht schlecht. Und es hat ja wirklich ewig gedauert.
»Yolanda, wieso schweigst du?«
Ich blicke in die Kamera direkt über mir an der Decke. Ich muss mich konzentrieren, darf jetzt keinen Quatsch erzählen. Und was mir dann einfällt, erstaunt Silver und Tian, doch am meisten mich selbst.
»Dieser Laborunfall auf Deck B hat mich ziemlich durcheinandergebracht.«
»Das verstehe ich«, sagt Godmother zufrieden.
Ich habe ihre Lüge schon verinnerlicht. Auf mich kann sie zählen.
Das glaubt sie zumindest.
Godmother fragt uns noch ein paar harmlose Dinge. Tian beschreibt, wie es im Gang der Schlafkojen ausgesehen hat. Silver berichtet davon, wie das Wasser auf einmal nicht nur aus der Schleuse tropfte, sondern uns entgegenspritzte. Und ich versichere, dass die Abriegelung wirklich erfolgreich war.
Offenbar traut Godmother ihren eigenen Sensoren nicht mehr.
Zu den kaputten Kameras und Mikrophonen befragt sie uns nicht. Sie erwähnt den Schaden mit keinem Wort. So als hätte sie doch noch Hoffnung, dass uns das Ausmaß der Zerstörung nicht bewusst ist.
Endlich dürfen wir in den Waschraum. Der Schutzanzug klebt an meinem Körper. Meine Kleider sind komplett durchgeschwitzt. Ich werfe alles in die Waschboxen, nehme mir ein Badetuch und genieße fünfzehn Sekunden Wärme.
Nach diesem Auftrag hätte uns Godmother wirklich eine extra Dusche spendieren können. Macht sie aber nicht.
Sie spricht kein Wort mehr mit uns.
Ahnt sie etwas? Waren vielleicht doch nicht alle Mikrophone auf Deck B kaputt? Hat sie unsere Gespräche die ganze Zeit belauscht?
Erst als wir zu den anderen in die Kantine wollen, meldet sich Godmother wieder. »Tian, Silver und Yolanda, es war ein anstrengender Tag für euch. Bitte geht nun ins Bett.«
Wir schauen uns kurz an, doch ändern können wir es nicht. Die Schleusen bedient Godmother. Wenn sie uns nicht in der Kantine sehen will, müssen wir das akzeptieren.
Muss sie noch ein paar Dinge ausrechnen, bevor wir allen Analogen die große Lüge vom Laborunfall präsentieren? Was hat sie mit uns vor?