Um sechs Uhr und zwanzig Sekunden in der Frühe stehe ich vor dem Waschbecken. Die Nacht habe ich mit schrecklichen Albträumen verbracht, jetzt nervt mich Godmother schon wieder. »Ich erzähle dir nun vom schrecklichen Laborunfall. Bitte berichte den anderen in der Kantine beim Frühstück davon.«

»Beim Frühstück, wirklich?«

»Ich erzähle dir nun vom schrecklichen Laborunfall. Bitte berichte den anderen in der Kantine beim Frühstück davon.«

Ich versuche mir alles zu merken und komme spät in die Kantine. Doch Tian und Silver sind nur Sekunden vor mir durch die Schleuse gegangen.

Das wird gleich unser gemeinsamer Auftritt nach der großen Katastrophe. Ich könnte auf ihn verzichten.

Alle schauen uns besorgt an. Conrad steht auf und kommt uns entgegen. »Was ist gestern auf Deck B passiert?«

Mary fragt weiter, bleibt aber sitzen. »Was war das für ein Laborunfall? Wie schlimm ist es? Wieso konnte ich nicht helfen?«

Vom Laborunfall wissen sie also schon von Dad, immerhin. Ich schaue zu ihm, und er nickt mir zu. Ihm hatte es Godmother

Ich gehe an Conrad vorbei zu meinem Platz. Mauro und Aidan sagen kein Wort. Das ist echt selten bei denen. Ich kann mich nicht erinnern, dass es am Tisch schon einmal so ruhig war.

Nicht mal das Essen rührt jemand an. Hungrig müssen inzwischen doch alle sein. Auch die Becher mit Kaffee dampfen einsam vor sich hin.

Tian und Silver nehmen Platz. Endlich kann ich den Text vortragen, den ich auswendig gelernt habe. Ob Tian und Silver auch etwas erzählen müssen?

»Der Laborunfall war schrecklich …«, fange ich an und komme nicht mehr weiter. Ich will nicht lügen.

»Yolanda, erzähle bitte mehr«, sagt Godmother ungeduldig.

Tian räuspert sich, Dad bohrt mit seinem Blick fast schon ein Loch in den Tisch. Allen ist das hier unangenehm.

»Nein, Godmother«, sage ich, und Dad blickt erschrocken vom Tisch auf. Doch mein Widerstand macht ihn nicht sauer, ich erkenne sogar ein vorsichtiges Lächeln in seinem Gesicht.

»Godmother«, sage ich. »Du kannst viel besser davon berichten. Deine Kameras sehen ja alles dort unten auf Deck B.«

Ich zittere vor Wut.

Das mit den Kameras war fies, ich weiß. Keine einzige auf Deck B funktioniert noch. Doch ich werde hier keinen mehr belügen. Das kann Godmother machen.

»Da hast du recht«, sagt Godmother und lässt sich nichts anmerken. »Ein tragischer Laborunfall hat sich auf Deck B

Eine gute Entscheidung von Godmother. Nur Mary und Silver verstehen, was im Labor vor sich geht. Wir anderen könnten überhaupt nichts mit Details anfangen.

»Der Unfall hat keine Auswirkungen auf Deck A«, sagt Godmother. »Ihr seid sicher.«

»Und die Analogen von Deck B?«, fragt Mary. »Wie geht es denen?«

Ich schaue in meinen Becher. Keinem will ich jetzt ins Gesicht sehen.

»Leider …«, sagt Godmother, macht eine Pause, als würde sie fast weinen. Es ist einer dieser unheimlichen Augenblicke, in denen ich sie für einen Mensch halte, obwohl ich es doch viel besser weiß.

»Leider …«, fängt Godmother wieder an, »… gibt es keine Überlebenden.«

»Nein!«, ruft Dad als Erster.

Es ist ein verzweifelter Ruf. Dann reden alle gleichzeitig. Emre fängt an zu weinen, Mary folgt. Kurz darauf hat jeder Tränen in den Augen.

Dad kommt zu mir und umarmt mich. Er hält mich fest umschlossen, ich drücke meinen Kopf an seinen. Er streichelt mir die Schulter. »Yolanda, du Arme. Du warst da unten. Du hast alles gesehen.«

Ich fange an zu weinen. Die Tränen fließen, und ich verstehe nicht so richtig, wieso. Ich weiß doch, dass dieser Unfall erfunden ist. Ich habe keine Verletzten gesehen, keine Toten.

Ich weine weiter. Dad lässt mich nicht los, sagt nichts. Da weiß ich, wieso ich so traurig bin.

Enttäuscht von Godmother.

Dad ist der einzige Mensch, der mir von meiner Familie geblieben ist. Und nicht einmal ihm darf ich die Wahrheit sagen. Ich spiele mit bei Godmothers Theater.

Ein Laborunfall.

Godmother gestattet eine zweite Runde Kaffee, wir müssen erst dreißig Minuten später anfangen zu arbeiten. Conrad geht mit den leeren Kannen in die Küche und brüht neuen.

»Ihr müsst alle etwas essen«, sagt Godmother besorgt. Bisher hat keiner etwas angerührt. Das liegt aber nicht nur an Deck B.

Wir haben keinen Fisch mehr. Und die Fischsuppe mit den Resten ist aufgegessen. Also gibt es Laborbrei.

Der Laborbrei ist die Notnahrung auf unserer Insel. Und Laborbrei ist das Gegenteil von einem Laborgeschenk. Das Zeug schmeckt überhaupt nicht und ist ungesund. Doch es macht satt.

Angeblich werden auch die Reste aus dem Filter der Spülmaschine darin verarbeitet. Ich hoffe, dass das nur ein Gerücht ist.

Auch als die Teller mit dem ekelhaften Zeug leer sind, will niemand die Kantine verlassen. Alle tun so, als würden die Aufgaben des Tages nicht schon rot blinken auf dem Monitor. Dabei ist das die letzte Aufforderung, bevor es zusätzliche Diensttage gibt.

Doch zu viele Fragen stehen im Raum.

Godmother sieht ein, dass sie viel mehr erklären muss. Sie kann nicht einfach nur von einem Laborunfall sprechen und sagen, dass alle tot sind. Auch wenn sie nur eine Maschine ist – wir sind Menschen.

Wer nicht mehr weint und seine Stimme wiedergefunden hat, der fragt.

Inzwischen sind unsere Aufgaben vom Monitor verschwunden. Stattdessen steht dort einer der Slogans von Godland: Lade dich hoch ins sorgenfreie Godland. Lebe glücklich und ewig.

Godmother klingt bei all ihren Antworten noch immer sehr traurig. »Nein, Josie. Keine Bestattungen. Alles war verseucht. Ich musste das Deck fluten.«

Bestattungen, was für ein Wort. Auf diese Idee kommen nur Ältere. Wir jungen Analogen kennen keine Bestattungen.

»Eine Trauerfeier vielleicht?«, fragt Emre.

»Ja, Emre. Eine Trauerfeier ist eine gute Idee. Ihr dürft das gern machen. Es ist traurig und tragisch, dass die Analogen von Deck B niemals Godland sehen werden.«

Mauro meldet sich, Godmother ruft ihn auf.

»Kann das hier auch passieren?«

»Nein. Jetzt nicht mehr. Ich habe die Programme nach dem Unfall aktualisiert. Ihr seid zu 100 Prozent sicher.«

Aidan ist aufgewühlt, er rutscht auf seinem Stuhl hin und her.

»Ja, Aidan?«

»Hätten wir denn nichts tun können?«

»Nein, es war zu spät für jede Hilfe. Silver, Yolanda und Tian konnten nur noch die Schleusen verriegeln.«

Es geht noch eine halbe Stunde so weiter. Ich höre nicht mehr richtig zu.

»Schaffen wir das hier allein?«

»Natürlich!«, sagt Godmother. »Doch leider ist der zehnte Tag vorerst gestrichen.«

Keine freien Tage mehr?

Dad haut auf den Tisch. Mauro und Aidan überbieten sich mit Flüchen. Godmother lässt uns eine Minute protestieren und jammern. Sie duldet das Chaos.

»Nur für eine begrenzte Zeit müssen wir auf diesen Tag verzichten«, sagt sie, als würde das etwas ändern. »Außerdem führe ich Doppelschichten ein.«

Wieder reden alle aufgeregt durcheinander. Dieses Mal muss Godmother einen Weckton abspielen, damit es ruhig wird. Der Folterton ist noch lauter als in den Kojen. Ich drücke mir die Hände auf die Ohren.

Dad schreit: »Zwei Schichten schaffen wir nicht!«

Mary hält ihm eine Hand auf den Arm. Er muss aufpassen, was er sagt. So erreicht man nichts. Sie hebt die Hand und meldet sich.

Schließlich schaltet Godmother das schrille Geräusch aus.

»Godmother«, sagt Mary, »zwei Schichten sind nicht gut für unsere Gesundheit. Es wird mehr Erkrankungen geben und Verletzungen.«

»Mary, daran habe ich gedacht«, sagt sie. »Ich kommuniziere mit Godland zweiundvierzig.«

Keiner sagt ein Wort.

Godland zweiundvierzig? Von denen hatte ich schon lange nichts mehr gehört. In meiner Kindheit war diese Serverinsel immer ein Thema. Sie liegt am nächsten zu unserer.

»Und was sagt Godland zweiundvierzig?«, fragt Emre.

»Die Analogen von Godland zweiundvierzig werden uns helfen.«

»Wann?«

»Die Analogen von Godland zweiundvierzig werden uns helfen.«

Godmothers Wiederholung macht mich wütend und traurig zugleich. Ich will den zehnten Tag zurück! Und ich will keine Doppelschichten. Und das mit Godland zweiundvierzig ist garantiert wieder eine ihrer Lügen.

»Die haben noch Schiffe?«, fragt Josie. Ihre Skepsis ist klar herauszuhören.

»Ja. Godland zweiundvierzig verfügt über fünf Schlauchboote.«

»Schlauchboote?«, sagt Emre. »Die sind viel langsamer als die schnellen Transportschiffe. Damit sollen sie die lange Fahrt zu uns aufnehmen? Das ist lebensgefährlich!«

Viele stimmen ihm zu, wieder reden alle durcheinander.

»Ruhe!«, ruft Godmother.

Ihre Geduld ist am Ende, und von uns will keiner mehr den Weckton hören müssen.

Fast alle halten einen Finger hoch, wollen etwas fragen. Nur Tian, Silver und ich sind nicht neugierig. Wir haben sicher den gleichen Gedanken: Da kommt keine Verstärkung. Nie!

Godmother will uns nur beruhigen. So wie sie uns schon seit Jahren beruhigt, während es an immer mehr fehlt.

Mir schießt noch ein anderer Gedanke durch den Kopf. Er ist egoistisch, zugegeben: Wenn hier alles zugrunde geht, dann gibt es auch bald kein Godland mehr. Dann ist das ewige Leben dort vorbei.

An Godmother glaube ich nicht mehr, doch Godland will ich nicht aufgegeben.

Godmother ruft Josie auf. Ich höre nur noch mit einem Ohr zu.

»Die Verstärkung von Godland zweiundvierzig – reicht das wirklich?«

»Langfristig leider nicht«, sagt Godmother. »Deswegen beschleunigen wir das Nachwuchs-Projekt.«

Das Nachwuchs-Projekt?

Ich bin wieder mit beiden Ohren dabei. Mary schaut zu uns jungen Analogen.

Mir fällt erst jetzt auf, dass wir alle nebeneinander sitzen: Tian, Mauro, Aidan, Silver und ich.

Das ist kein Zufall!

Godmother legt jeden Tag die Sitzpläne fest. Sie wollte, dass wir beim Frühstück genau so sitzen. Aus einem ganz einfachen Grund: Wir fünf sind das Nachwuchs-Projekt!

Dad schaut mitleidig zu uns.

»Das ist zu früh!«, sagt Mary empört.

»Uns bleibt keine Wahl«, erklärt Godmother.

Uns. Sie sagt wirklich uns.

Fällt nur mir das auf, oder auch den anderen? Ich habe sie noch nie so sprechen hören. Wir sind die Analogen, sie ist Godmother. Wir leben real, sie lebt überall – hier und in

Und erst als ich über das Wort Familie nachdenke, wird mir so richtig bewusst, was Nachwuchs-Projekt bedeutet. Aber das kann nicht sein!

Ich blicke zu den anderen vier. Bevor ich etwas fragen kann, spricht Godmother. »Silver und Tian zeugen Nachwuchs.«

Keiner rührt sich, niemand sagt etwas. So schnell kann man diesen Satz auch gar nicht verarbeiten.

Ich schaue zu Silver, sie schließt die Augen und holt tief Luft. Meine Atemübung. Das erkenne ich sofort. Sie will nicht umkippen und nicht explodieren. Sie will einfach nur sitzen bleiben.

Die Arme! Sie ist doch viel zu jung. Tian natürlich auch. Aber Silvers Körper muss das Kind zur Welt bringen. Auch wenn sie in Tian verknallt ist, sie wollte sicher nicht gleich schwanger werden.

Tian beißt sich auf die Lippen, bis sie weiß sind.

»Godmother«, sagt Mary und muss sich zusammenreißen. »Bis der Nachwuchs auf die Welt kommt und groß genug ist, um uns zu ersetzen, vergehen Jahre. So viel Zeit haben wir nicht. Wir müssen einen anderen Weg finden.«

Godmother antwortet mit ihrer Wiederholungsschleife. »Die Analogen von Godland zweiundvierzig werden uns helfen.«

Ich halte es nicht mehr in diesem Raum aus. Ich stehe auf, will in meine Schlafkoje. Ich will schreien vor Wut und weinen. Das soll keiner hier sehen. Außer Godmother! Sie muss mich und meine Wut jetzt aushalten. So kapiert sie vielleicht, was sie hier anrichtet. Womöglich hinterfragt sie ihre Berechnungen.

Godmother behandelt uns doch wie Sklaven! Doppelte

Silver ist viel zu jung.

So wie ich.

Und plötzlich läuft es mir eiskalt den Rücken runter. Bevor ich die Schleuse erreiche, höre ich Godmothers Stimme.

»Auch Aidan und Yolanda zeugen Nachwuchs.«