Aidan liegt auf meinem Bett und schläft. Er hat gefragt, ob er sich auf den Boden legen soll. Aber das wollte ich nicht.

Aidan schnarcht übrigens. Das hat noch gefehlt.

Ich kann und will nicht schlafen. Es ist erst zwanzig Uhr.

Immerhin ging der Abend noch einmal gut aus. Godmother hat die Tage berechnet, an denen ich schwanger werden könnte. Das war meine rettende Idee gewesen.

»Deine fruchtbaren Tage beginnen in zweiundsiebzig Stunden«, verkündete Godmother, »zu 68 Prozent.«

»Darf ich jetzt bitte noch einmal raus?«, frage ich. »Bitte!«

Die Tür meiner Koje zischt auf.

»Danke.«

Im Korridor streiten sich Josie und Emre. Sie hören auf, als sie mich sehen. Wieso konnten sie mit ihrer Diskussion nicht warten, bis sie in ihrer Schlafkoje waren?

Für die zwei muss das mit Aidan und mir auch komisch sein. Godmother will sie zu Großeltern machen. Mein Dad soll Opa werden. Unglaublich.

Conrad kommt durch die Schleuse und bleibt vor mir stehen. »Wie geht es euch beiden?«

Wieso fragt er nicht, wie es mir geht? Aidan kann er später auch fragen. Aber es klingt so, als wären wir zu einer Person zusammengewachsen. Dabei sind wir nicht mal ein richtiges Paar!

Conrad meint das sicher nicht so. Und wenn doch, kann ich ihm nicht mal böse sein. Ich mag ihn zu sehr.

»Wir sind okay«, sage ich, zwinge mich zu einem Lächeln und gehe weiter.

Mein Mund fühlt sich trocken an, ich muss etwas trinken und will noch einmal zur Kantine.

Mary kommt mir entgegen. Sie fragt nicht, wie es uns geht. Sie nickt mir nur zu und will zügig durch die Schleuse ins Labor weiter. Das ist typisch für sie.

Wenn wir jetzt Doppelschichten machen müssen, dann ist das für Mary keine Umstellung. Sie kennt nichts anderes. Sie arbeitet immer, egal, um wie viel Uhr und egal, ob es ein zehnter Tag ist oder nicht. Wobei der uns eh gestrichen wurde.

»Hast du Silver gesehen?«, rufe ich Mary hinterher.

Mary ist schon in der Schleuse verschwunden, aber durch das Panzerglas sehe ich, wie sie den Kopf schüttelt.

»Silver und Tian machen Sport«, sagt Godmother.

»Wann kommen sie vom Freideck zurück?«

»Sie sind nicht dort. Das Deck ist jetzt auch für die beiden gesperrt«, sagt Godmother so, als wäre es das normalste der Welt.

»Wieso?«, frage ich.

»Seit dem Laborunfall auf Deck B müssen wir vorsichtiger sein.«

Nicht wir müssen vorsichtiger sein, Godmother muss es!

Ich will zu Tian und Silver in die Turnhalle, doch Godmother hält mich auf. »Dein Vater wartet in der Kantine auf dich. Bitte sprich zuerst mit ihm.«

Ein Vater-Tochter-Gespräch ist das Letzte, was ich als zukünftige Mutter brauche. Allerdings will ich mir Godmother gegenüber nichts anmerken lassen.

Ich habe zweiundsiebzig Stunden Zeit! So lange wird Godmother hoffentlich Aidan und mich in Ruhe lassen.

Dad sitzt in der Kantine am großen Tisch. Er winkt mich zu sich und schenkt mir ein Glas Wasser ein. Es ist warm und schmeckt nach nichts.

Ich erinnere mich noch an die Zeit, als es Tee gab. Mittags und abends, irgendwann nur abends. Schließlich nur noch abends am zehnten Tag, den wir deswegen Teetag nannten. Am Ende waren keine getrockneten Kräuter oder Früchte mehr da, die wir aufkochen konnten.

Der Teetag hieß wieder der zehnte Tag. Uns blieb das warme Wasser. Immerhin schmeckt es nicht salzig.

Ich trinke das Glas in wenigen Zügen aus. Es fällt mir schwer, meinem Vater in die Augen zu sehen. Wir müssen uns nichts vormachen. Wir können beide nicht fassen, dass ich mit fünfzehn ein Kind zur Welt bringen soll.

Dad rutscht auf seinem Stuhl hin und her. »Aidan ist ein netter Kerl.«

»Dad!«

»Ich meine doch nur, er ist … er …«

Er weint, und ich drücke mich an ihn.

»Es tut mir so leid«, sagt Dad leise.

»Jesper«, sagt Godmother streng, »bitte achte auf deine Worte. Du bist Yolandas Vater.«

Dad wischt sich mit dem Handgelenk die Tränen weg. Er schweigt und zeigt auf den Raum, auf die Kameras, als wäre er für all das verantwortlich. Aber das ist er nicht.

Er hatte doch keine Wahl! Diese Serverinseln waren die einzige Möglichkeit, vor den Klimakriegen zu fliehen.

»Jesper, du solltest deine Tochter unterstützen«, sagt Godmother mit harter Stimme. »Du weißt, wie schön es ist, Nachwuchs zu haben.«

»Natürlich«, sagt Dad. »Das weiß ich.«

Dad lächelt mich verzweifelt an. Er sieht so traurig aus, und was sollen wir uns jetzt vor Godmother noch sagen?

Uns fällt beiden nichts ein, also umarmen wir uns einfach nur.

Nach einer Viertelstunde stehe ich auf und will zur Turnhalle. Vielleicht trainieren Silver und Tian noch.

Die Schleuse zum Waschraum ist offen, und ich höre Mauro fluchen. Er steht in der vordersten Duschkabine auf einer Leiter. Ein Schraubendreher ist ihm aus der Hand gefallen, ich hebe das Werkzeug auf und gebe es ihm.

»Ist was kaputt?«, frage ich.

Mauro zeigt hoch zur Decke. »War ein eiliger Auftrag von Godmother.«

Ich schaue hoch und blicke direkt in eine Kamera, in

»Was machst du hier?«, fragt Godmother.

Ich bin sprachlos und gehe weiter zu einer Toilettenkabine. Unmöglich! Selbst hier ist jetzt eine Kamera.

»So ist es sicherer«, sagt Godmother. »Bald haben wir kleine Kinder auf der Serverinsel. Nicht wahr, Yolanda?«

Erstens: Was sollte kleinen Kindern bitte im Waschraum passieren? Die spülen sich doch nicht selbst die Toilette runter.

Zweitens: Neun Monate dauert das mindestens, bis diese Kinder da wären. Da muss sich Mauro mit dieser Arbeit doch nicht so beeilen.

Also steht für mich fest, du lügst, Godmother.

Es gibt nur einen wahren Grund, du willst jeden Winkel überwachen. Du ahnst etwas.

Du hast Angst.

Ich wasche mir die Hände und sehe im Spiegel, wie Mauro eine Kamera in der nächsten Duschkabine befestigt. Er sieht meinen Blick.

»Die Kameras hab ich alle von Aidans Koje abmontiert, er wohnt ja jetzt bei dir.«

»Mauro!«

»Ja, Godmother.«

»Arbeite bitte zügig weiter.«

Mauro blickt mir nach. Ob er sich auch fragt, wieso sein Bruder Vater werden soll und nicht er? Hat ihm Godmother erzählt, dass er aus ihrer Sicht nicht geeignet ist? Dass Aidans Gene besser sind?

Im Korridor kommen mir Tian und Silver entgegen.

»Ich wollte euch gerade in der Turnhalle besuchen und …«

»Nein. Eigentlich wollte ich nur Zeit mit euch verbringen.«

»Wir gehen jetzt schlafen«, sagt Silver und nimmt Tian an die Hand.

»Dich wollten wir gerade dorthin schicken«, sagt Tian und nickt in Richtung Turnhalle hoch.

»Sport wird dir auch gut tun«, sagt Silver.

Ihr stechender Blick lässt keine Widerrede zu.

»Also mir geht es jetzt besser.« Tian strahlt über beide Backen. »Das mit dem Nachwuchs-Projekt war erst mal ein Schock.«

Er umarmt Silver, sie küsst ihn auf den Mund.

»Ob wir jetzt Eltern werden oder in ein paar Jahren, macht doch keinen Unterschied«, sagt sie.

»Aha.« Mehr fällt mir dazu nicht ein.

»Und Aidan passt ja super zu dir«, sagt Silver, ihr Arm drückt dabei auf meinen – unsere Geheimsprache.

»Zu 89,5 Prozent«, erfinde ich.

Godmother lässt meine Zahl so stehen, was mich erstaunt. Habe ich etwa richtig geraten? Oder denkt sie, ich würde schon wieder für sie lügen?

»Na dann«, sagt Tian und klopft mir auf die Schulter. »Aber wärm dich gut auf, bevor du trainierst.«

Ich schaue beiden nach. Sie spielen verdammt gut, dass muss ich ihnen lassen.

Kaum bin ich durch die Schleuse der Turnhalle durch, geht das Licht in der Halle an. Wieso soll ich hierher? Was wollen Silver und Tian von mir?

Eines der Rudergeräte blinkt grün. Alles ist wie immer, und ich laufe zum Rudergerät.

War klar, dass sie das nicht vergisst. Die Strecke neben der Hallenwand leuchtet grün.

»Drei Runden«, sagt Godmother, und ich jogge los.

Mir fällt eine Bewegung gegenüber an der Hallenwand auf. Ist noch jemand hier außer mir?

»Ist etwas?«, fragt Godmother.

Ich bin langsamer geworden, ohne es zu wollen. Das fällt ihr natürlich auf.

»Nein«, sage ich. »Mir ist nur nicht so gut.«

Das ist nicht mal gelogen. Ich weiß nicht, ob ich nach dem Aufwärmen überhaupt noch Energie für das Rudergerät habe.

Ich jogge wieder los, die erste Runde ist fast geschafft. Dort, wo sich vorher etwas bewegt hat, klafft eine Öffnung in der Wand.

Eines der Tore zum Lagerraum ist offen. In dem Raum sind Ersatzteile, Netze, Kletterstangen untergebracht, und als wir noch Bälle hatten, lagerten sie dort in Kisten.

Haben Tian und Silver vergessen, das Tor zu schließen? Klemmt es vielleicht, wie fast alles hier?

Ich jogge langsamer und komme vor dem halboffenen Tor zum Stehen.

»Mir ist etwas schwindelig«, lüge ich.

Ich tue so, als würde ich mich an der Wand neben dem Tor anlehnen. Ich schaue hinein und versuche, etwas zu erkennen. Da ist alles schwarz.

»Kein Problem. Ruh dich aus«, sagt Godmother. »Du musst dich schonen für deine anstehenden Aufgaben.«

Ich erkenne in dem Lagerraum nichts. Ich will gerade

Ich versuche zu schreien, aber eine große Hand drückt sich fest auf meinen Mund.

»Keine Angst«, flüstert mir ein Mann direkt ins Ohr.

Die Stimme erkenne ich nicht. Sie ist viel zu leise.

Wer könnte das sein? Ist es einer von Deck B? Ist einer von ihnen hiergeblieben?

Selbst wenn, wie hat der es unerkannt zu diesem Deck der Turnhalle geschafft? Gibt es geheime Gänge oder …

»Yolanda!«, ruft Godmother. »Alles in Ordnung? Was ist passiert?«

Natürlich antworte ich nicht. Ich spiele ohnmächtige Analoge, soll sie sich doch Sorgen machen!

»Yolanda?« Godmother klingt panisch. »Ich hole Hilfe!«

Meine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit. Der Mann neben mir nimmt die Hand von meinem Mund.

Er ist nicht viel größer als ich. Details sind nicht zu erkennen. Doch die langen Haare fallen mir auf.

Das kann nicht sein. Godmother erlaubt keinem von uns auf der Serverinsel so lange Haare.

Und das kann nur eines bedeuten: Dieser Mensch kommt von draußen.