»Wer bist du?«, frage ich leise.
»Nimm das mit«, flüstert der Mann.
Ich spüre kaltes Metall in meiner Hand. Und ich bekomme Panik.
»Was ist das?«, frage ich und höre die Schleuse.
»Yolanda!«, ruft jemand von dort.
Das war Marys Stimme. Godmother hat sie sicher hierher bestellt.
Ich taste das kalte Metall ab, es hat eine glatte Oberfläche. Es liegt schwer in meiner Hand, und ich muss wissen, was das ist.
Doch der Typ mit den langen Haaren verschwindet tiefer im Raum. Ist dort ein geheimer Gang? Er kann doch nicht einfach wieder fort!
»Was ist das für ein Metallding?« Ich sage es etwas lauter als gewollt.
Der Mann dreht sich ruckartig zu mir um. Ich bringe ihn in Gefahr. Aber was bleibt mir übrig? Ich muss doch wissen, was das ist und was ich damit soll.
Er eilt zu mir und drückt sein Gesicht so fest an meinen Kopf, dass es schon weh tut. Immerhin kann ich bei der Nähe verstehen, was er ganz leise sagt: »Das ist Godmothers Grabstein.«
Was soll das schon wieder?
Godmothers Grabstein.
»Yolanda!« Marys Stimme ist schon viel näher, gleich ist sie da.
»Was soll ich damit?«
»Rauskommen!«, sagt der Mann.
Rauskommen? Wohin denn?
Ich komme damit nicht mal durch die Schleuse. Godmother scannt doch jeden. Und so ein Metallstück kann ich unmöglich vor ihren Sensoren verstecken. Was soll ich ihr erzählen? Ich hab hier deinen Grabstein!, oder was?
»Wie komme ich damit durch die Schleuse?«, frage ich den Langhaarigen.
»Eure Körperscanner gehen schon lange nicht mehr«, flüstert der Mann.
Die Scanner in der Schleuse sind defekt?
»Wieso ich? Wieso nicht Tian oder Silver, die beiden von eben, die hier waren, die …«
»Sie haben mir gesagt, niemandem vertraut Godmother so wie dir.«
»Yolanda?«, ruft Mary, sie steht vor dem halboffenen Tor.
»Wenn etwas schiefläuft«, sagt der Langhaarige, »dann kannst du dich rausreden. Haben deine Freunde behauptet.«
»Etwas schiefläuft?«, frage ich.
Doch da ist der Typ schon im Dunkeln verschwunden.
»Da bist du ja!«, ruft Mary.
Ich stecke das Metallding in meine Jogginghose und lasse mich vor ihr auf den Boden fallen.
»Wie geht es Yolanda?« Godmother klingt so besorgt, dass ich schon fast ein schlechtes Gewissen bekomme. Andererseits habe ich das Lügen von ihr gelernt.
Mary beugt sich zu mir und hält ihre Finger an meinen Hals. »Der Puls ist in Ordnung«, antwortet sie laut genug, damit es Godmother in der Turnhalle versteht.
Mary streicht mir über das Gesicht. »Du spielst uns was vor«, flüstert sie.
Ich nicke.
»Kommt bitte aus dem dunklen Raum!«, ruft Godmother. »Ich will sehen, wie es Yolanda geht.«
Godmother macht sich Sorgen um mich, um die zukünftige Mutter ihrer Kinder.
Aber wieso klingt sie so panisch?
Ich ahne es.
Godmother merkt ja, hier passieren immer mehr seltsame Dinge auf der Serverinsel. Dinge, die noch nie geschehen sind. Für die sie noch keine Daten hat und keine Ideen.
Mary nimmt meinen Arm und will, dass ich mich bei ihr einhake. Ich humpele dicht an ihrer Seite aus der Abstellkammer.
»Yolanda, du machst mir vielleicht Kummer«, sagt Godmother.
Ich folge Mary zur Schleuse und spüre bei jedem Schritt, wie das kalte Metall in der breiten Hosentasche auf und ab wippt. Am liebsten würde ich es mir endlich ansehen, aber das geht vor Godmothers Augen nicht.
Da wird mir etwas klar: Es gibt keinen Ort auf unserem Deck ohne Kameras!
Selbst in der Duschkabine kann ich mir das Metallteil nicht ansehen. Nur in dem Lagerraum der Turnhalle, dort gibt es keine Kameras. Noch nicht, doch nach dem Vorfall von eben wird das Godmother sicher bald ändern.
»Du zuerst«, sagt Mary und zeigt zur Schleuse.
Ob die Körperscanner wirklich kaputt sind, werde ich gleich erfahren. Ich spüre mein Herz pochen.
Ein Blick in die Kamera.
Piep.
Den Finger auf den Sensor.
Piep.
Jetzt der Körperscanner.
Ich halte die Luft an.
Nichts passiert.
»Yolanda?«
»Ja, Godmother?«, frage ich vorsichtig.
Funktionieren die Scanner doch? Sieht Godmother, was in meiner Jogginghose versteckt ist?
»Das mit dem Sport war keine gute Idee.«
»Stimmt«, sage ich erleichtert. »Es tut mir leid.«
»Du musst mehr auf dich achtgeben.«
»Ich weiß.«
»Gut«, sagt Godmother.
Piep.
Die Schleuse öffnet sich.
Geschafft!
Diese verdammten Scanner sind wirklich kaputt. Und Godmother behält das für sich. Sicher fehlen uns die Ersatzteile, um sie zu reparieren. So wie uns fast alles fehlt.
Mary begleitet mich zur Tür meiner Schlafkoje. Ich bleibe davor stehen, drücke die Hand auf das Stück Metall in meiner Hosentasche. Es fühlt sich nicht mehr so kalt an, es hat meine Körperwärme angenommen.
»Gute Nacht«, sagt Mary.
»Schlaf gut, Yolanda«, meldet sich Godmother, die niemals schläft.
Ich will mich nicht umziehen, sondern einfach so ins Bett fallen. Doch Aidan liegt quer. Immerhin schnarcht er nicht mehr.
Also setze ich mich erst mal auf den Bettrand. Soll ich auf dem Boden schlafen? Der ist zu hart, selbst wenn ich ein paar meiner Kleidungsstücke als Unterlage nutze. Das wird nichts.
Ich spüre das schwere Metall in meiner Hosentasche. Es wird immer wärmer. Bilde ich mir das nur ein? Was soll das jetzt? Es tut schon fast weh.
»Yolanda!«
»Ja, Godmother.«
»Was hast du in deiner Hosentasche?«
Ihre Wärmebildkameras!
Verdammt.
Das Metallstück ist inzwischen heiß. Es brennt auf meiner Haut.
»Was hast du in deiner Hosentasche?«
Brennt das Ding vielleicht wirklich?
»Ich weiß nicht«, sage ich, und das ist nicht einmal gelogen.
»Was hast du in deiner Hosentasche?«
Ich halte den Schmerz nicht mehr aus und ziehe das Metallding aus der Tasche. Die Hitze beißt sich in meine Finger, und ich werfe das Teil auf den Boden.
Das Metall schlägt hart auf und weckt Aidan. Verwirrt sitzt er aufrecht im Bett und reibt sich die Augen.
Etwas blinkt im heißen Stück Metall.
»Yolanda«, fragt Godmother. »Was ist …«
Plötzlich schießt ein Lichtblitz aus dem Kasten. Aidan schreit auf. Bevor ich mir die Augen zuhalten kann, ist es vorbei.
»Was ist … was ist … was ist …«, höre ich Godmothers Stimme.
Das Licht geht komplett aus, zum ersten Mal seit ich auf der Serverinsel bin. Nicht einmal eine der winzigen Kontrolllampen leuchtet mehr.
»Was ist … was ist … waaaaaa …« Godmother verstummt.
»Was war das?«, fragt Aidan und tastet in der dunklen Koje nach mir.
Die Tür meines Raumes zischt gleichzeitig mit allen anderen im Korridor auf.
»Raus!«, brüllt Silver auf dem Korridor. »Alle raus!« Der Lichtstrahl einer Taschenlampe blendet mich. »Yolanda! Aidan! Muss ich euch etwa tragen?«
»Schnell!«, schreit Tian. Er geht die andere Seite des Korridors ab, von Koje zu Koje.
Mauro stolpert über den Gang. »Was ist los?«
Emre und Josie gehen zu ihm.
»Aidan?«, ruft Emre.
»Hier!«, ruft er aus meiner Koje.
»Wo ist Mary?«, ruft Silver.
»Mary!«, schreit sie. »Mary!«
Das Licht einer zweiten Taschenlampe strahlt uns entgegen. Meine Augen gewöhnen sich an die Helligkeit. Ich erkenne Conrad, Mary und Dad.
Sie stehen verunsichert an der offenen Schleuse.
»Das ist der Mechanismus für den Totalausfall«, erklärt Emre und versucht, das Chaos zu verstehen.
»Totalausfall?«, frage ich.
»Alle auf das Freideck!«, ruft Tian.
Emre geht auf ihn zu, er hat die Fäuste geballt. »Was ist denn passiert? Du weißt doch mehr!«
Silver stellt sich vor Tian, bevor Emre ihn erreicht. Als müsste sie Tian beschützen. »Wir gehen.«
»Was?«, fragt Emre.
Josie läuft zu ihrem Mann. »Seid ihr verrückt geworden?«
»Nein«, sagt Tian. »Aber hier werden wir es garantiert.«
»Wohin gehen wir?«, fragt Mary.
»Wir werden abgeholt«, sagt Silver.
»Was? Von wem?«, fragt Aidan. Er blickt unsicher von seinen Eltern zu Silver.
»Das wissen wir auch nicht«, sagt Tian. »Wir wissen so gut wie nichts. Aber wer will, kann von hier abhauen.«
Ich kapiere endlich, woher er und Silver ihre Informationen haben. »Hat der Mann vom Lagerraum euch das erzählt?«
Mir hat der Typ überhaupt nichts erzählt. Ich erinnere mich, an seine Worte. Keinem vertraut Godmother so wie dir.
Ich war nur gut genug für dieses Metallblitz-Ding, ich durfte den Totalausfall verursachen. Wie nett.
»Der Mann vom Lagerraum? Welcher Mann denn?« Josie verzweifelt immer mehr.
»Erzählen wir euch später!«, ruft Silver.
Josie stockt. Sie muss unendlich viele Fragen haben. Ehrlich gesagt hätte ich da auch ein paar.
»Wer will weg von hier?«, fragt Tian mit Silver an der Hand.
Dad, Mary und Conrad stellen sich zu ihnen.
Ich stehe wie festgeklebt da.
Es ist wie in diesen Albträumen, in denen ich mich nicht bewegen kann. Und es ist die Chance, nicht mit fünfzehn Mutter zu werden.
Aber kann ich da draußen wirklich ein eigenes Leben führen?
»Und was wird aus Godland?«, fragt Mauro. »Wollt ihr nicht mehr dorthin?«
Tian geht ein paar Schritte auf ihn zu. »Wenn alle Serverinseln so kaputt sind wie unsere, gibt es sowieso bald kein Godland mehr.«
»Wir können das reparieren«, sagt Emre. »Die Verstärkung von Godland zweiundvierzig kommt doch.«
»Behauptet Godmother«, wendet Mary ein.
»Und die lügt oft.« Ich spreche meinen Gedanken laut aus, wollte ich nicht, doch es ist passiert.
»Wie meinst du das?«, fragt Mauro.
»Wir müssen endlich los!«, schreit Silver. »Keine Ahnung, ob Godmother das hier reparieren kann. Dann sind die Schleusen wieder dicht, und wir kommen nicht mehr raus.«
»Sie kann das reparieren!«, sagt Emre. »Deswegen bleiben wir.«
Er legt seine Arme um Josie und Mauro. Für Aidan sind sie nicht lang genug, doch seine Mutter hält seine Hand fest umschlossen.
Ich spüre an einer Seite Silver und an der anderen Tian. Sie wollen mich mitnehmen. Aber so läuft das nicht. Ich schüttele sie ab. Ich will meine eigene Entscheidung treffen. Kein anderer wird das mehr für mich machen.
Nicht Godmother.
Nicht Tian und nicht Silver.
Ich entscheide ab jetzt!
Dad verschwindet mit Conrad und Mary Richtung Freideck. Er zieht mich nicht mit sich. Er hat verstanden, worum es mir geht. Dass ich groß genug bin.
Und das bin ich!
Ich laufe zu Aidan. »Komm mit.«
Er soll fort von hier und mir folgen. Nicht als der Vater meiner Kinder, sondern als Freund. Als jemand, der von Godmother genauso belogen wurde wie ich.
»Waaaaaaa … was ist … was ist …«
Godmother ist wieder aufgewacht!
»Schnell!«, ruft Silver.
Aidan reißt sich von seiner Mutter los und läuft durch die Schleuse.
»Aidan!«, ruft Emre.
Wir rennen durch den Korridor, in dem die Lichter wieder anspringen. Godmother ist sehr fleißig. Gleich funktioniert hier wieder alles.
An den Waschräumen und der Ausrüstungskammer sind wir vorbei, auch an der Kantine. Endlich stehen wir vor der Schleuse zum Treppenhaus. Sie ist noch offen, doch die Anzeige dort beginnt zu blinken.
Godmothers Stimme dröhnt durch den Gang. »Was ist … was ist … was ist …«
Wir rennen die Treppen hoch, Richtung Freideck.
Nur noch eine Schleuse trennt uns von der Freiheit.