Atara erzählt Silver und mir lange von ihrer Mutter Zoe und wie sie sich aus den Augen verloren haben. Wie immer brachten die Klimakriege alles durcheinander.
Atara arbeitete in Kanada, Zoe war beruflich in Südasien und half in einer Klinik. Nachdem auch noch das Internet zusammenbrach, kam das endgültige Chaos.
Zoe schrieb ihrer Tochter nur noch, sie hätte auf einer Serverinsel als Ärztin Arbeit gefunden. Für Atara war das der Beginn einer jahrelangen Suche nach ihrer Mutter auf dem Ozean.
Atara stoppt plötzlich mit ihrer Erzählung. Der kleine Junge steht wieder vor mir am Tisch. Die alten, traurigen Geschichten sind vermutlich nichts für seine Ohren.
Der Junge hält eine Schüssel in beiden Händen.
»Hunger?«, fragt er mich.
Ich nicke und nehme ihm die warme Schüssel ab.
»Danke«, sage ich, und schon ist er weg.
»Der Kleine ist ja ganz schön fleißig?«, sagt Silver.
»Nicht nur der«, sagt Tian und stellt ihr auch so eine Schüssel auf den Tisch.
Atara zeigt zu dem kleinen Jungen. »Der bedient sonst nie jemanden. Ich glaube, der mag dich, Yolanda.«
Vielleicht hat er eine große Schwester verloren, so wie ich meinen kleinen Bruder? Ich lächele dem Jungen zu, und er dreht schüchtern den Kopf weg.
Die Suppe duftet so gut, ich will sie sofort essen. Ich suche nach einem Löffel, und schon steht der kleine Junge wieder da. Immerhin hat er für Silver auch Besteck mitgebracht.
Das Essen sieht in etwa so aus wie in meinem Godland bei Muriel der Heilerin. Und es dauert ein paar Sekunden, bis ich das Wunder begreife. Denn das hier ist keine Simulation.
»Echte Möhren und Kartoffeln?«, staune ich.
Atara blickt in Silvers Schüssel. »Mit Sellerie, Lauch, Zwiebeln und ein paar Kräutern. Petersilie vermutlich.«
Bevor wir Atara etwas fragen können, taucht Jeffrey auf. Der Langhaarige beugt sich zu ihr und spricht. Bei mir kommen nur Wortfetzen an.
»Entschuldigt mich bitte«, sagt Atara und ist fort.
»Was war das jetzt?«, frage ich.
Dad kommt zu uns, dann Conrad, der auch nicht weiß, wo seine Mary steckt. »Die hat hier offenbar gleich Freunde gefunden.«
»Schön für sie«, sagt Dad. »Ich brauch für so etwas ein bisschen mehr Zeit.«
Ich schaue ihn etwas zu vorwurfsvoll an. »Bei Atara hat man dir das nicht angemerkt.«
Mehr Kommentare verkneife ich mir und konzentriere mich auf diese phantastische Suppe.
Zwei oder drei Stunden verbringen wir in der Schiffskantine. Ständig kommt einer der Fremden, stellt sich vor und erzählt seine Geschichte. Dann berichtet einer von uns, wie das Leben auf der Serverinsel war.
Irgendwann wird mir alles zu viel. Die Überlebenden von Deck B sind hier, wir von Deck A und so viele Fremde. Ich will allein sein und stehe auf.
»Was ist los?«, fragt mich Silver.
»Ich will noch einmal hoch.«
Silver nimmt mich an die Hand. »Dann gehen wir zusammen.«
Sie küsst Tian und begleitet mich nach oben.
Auf dem Deck pfeift uns der Wind um die Ohren. Im Aufbau des Schiffes entdecken wir die Crew, durch das dunkle Glas sehen wir ihre Gesichter.
Wir müssen Atara und den anderen hier wohl vertrauen. Irgendwann werden sie uns bestimmt sagen, wohin die Reise geht. Denn darüber wollte bisher keiner der Fremden mit uns sprechen. Die Rede war nur vom Festland – doch wo genau das ist und was uns dort erwarten würde, hat keiner verraten. Fast so, als ob wir uns erst noch beweisen müssten.
Vor Silver und mir verdeckt eine Plane ein Gerät, Schläuche und Kabel verschwinden darunter. Silver deckt ein Stück auf, und wir sehen ein U-Boot, nicht viel größer als meine Schlafkoje.
Silver klopft auf die Maschine. »Vermutlich das Ding, mit dem sie die Leute aus Deck B rausgeholt haben.«
Blitze flackern fern am Horizont auf. Von der Serverinsel fehlt jede Spur. Oder war dieser winzige Punkt eben die Insel? Von hier aus gesehen wirkt sie verletzlich. Dabei kann der Serverinsel kein Sturm etwas antun – diesem Schiff dagegen schon.
Ob ich die Serverinsel jemals wiedersehen werde?
Es ist komisch, ich vermisse nicht die Analogen dort. Ich vermisse Godmother.
So sehr sie uns belogen hat in all den Jahren, so war sie doch immer für uns da. Godmother hörte alles, sah alles. Und irgendwie passte sie auf uns auf. Sie war meine Lehrerin gewesen. Sie glaubte an etwas. Ich meine, sie hatte eine Aufgabe, und die hieß Godland. Und dafür tat sie alles. Und wir Analogen auch. Wir hatten das gleiche Ziel.
Aber jetzt? Was ist jetzt meine Aufgabe? Wer trifft nun die Entscheidungen? Hat hier auf dem Schiff einer das Sagen? Atara vielleicht? Jeffrey? Einer von der Crew da vorne hinter der dunklen Scheibe? Wieso kommt von denen keiner raus? Ist das Alltag für sie – Leute aus dem Meer fischen, die von Serverinseln springen?
Oder gibt es an Bord gar keine Chefin? Bestimmt auf dem Festland jemand über uns? Gibt es dort eine Godmother, nur eben nicht als Computer, sondern als Mensch?
Und würde ich diesem Menschen mehr vertrauen als einem Rechner, der alles weiß und perfekt ausrechnen kann? Wer sagt mir denn, dass die auf dem Festland nicht auch lügen? Welches Ziel verfolgen sie? Für wen lügen sie?
Godmother log für Godland.
»Du denkst an sie«, sagt Silver. »Das sehe ich dir an.«
»Du nicht?«
»Nein«, sagt Silver. »Vergiss nicht, ich hab Jahre lang mit Mary zusammen gearbeitet.«
Ich weiß, was Silver meint. Mary und Conrad waren nie große Freunde von Godland. Natürlich hat das auf Silver abgefärbt. Sie stand der digitalen Ewigkeit kritisch gegenüber.
Im Gegensatz zu mir. Okay, Dad war zwar auch der ewige Kritiker, aber er war eben auch Dad. Er nörgelte an allem herum. Und wer will schon so sein wie sein eigener Vater?
»Ich schau mal, wo Tian steckt«, sagt Silver. »Kommst du allein klar?«
»Ja, Godmother«, sage ich und merke zu spät, dass es nicht witzig war.
Wieder sehe ich am Horizont den winzigen Punkt, er leuchtet grell, als wollte Godmother mich mit ihren Flutlichtern anlocken.
Wenn er verschwunden ist, werde ich mein Zuhause nie wieder sehen. Klingt komisch für mich. Mein Zuhause. Aber das war dieser riesige Klumpen aus Stahl für mich.
Plötzlich schlagen drei, vier Blitze in die Serverinsel ein. Für Godmother ist das ein Fest. Die Energieumwandler rattern los und füllen die Stromtanks auf.
Auch für die Analogen dort ist das gut. Sie haben schon genug Arbeit ohne uns, und jetzt ist wenigstens erst mal genug Strom da. Sie müssen sich die kommenden Tage nicht mehr um die Solarzellen, das Wellenkraftwerk und das Windrad kümmern.
Oder ist dieser Punkt gar nicht die Serverinsel? Sind wir längst viel weiter weg? Habe ich mir das nur eingeredet? Aber wieso?
Vielleicht, weil ich mich nicht von Godmother trennen kann?
»Worüber denkst du nach?«
Atara steht neben mir. Ich habe sie bei dem Lärm hier draußen gar nicht kommen hören.
»An nichts.«
»Komm schon! Wir denken immer an etwas. So wie Godmother nie aufhört zu rechnen, sind wir Menschen immer am Nachdenken.«
Ich kenne Atara noch nicht richtig, aber ich beginne, sie zu mögen. Also gebe ich mir einen Ruck. »Godland war keine schlechte Idee«, sage ich.
Atara streift sich eine dunkle Strähne aus dem Gesicht. »Aber auch in Godland lebt niemand ewig.«
Sie zeigt in den Nachthimmel hoch. Einen Teil der schwarzen Wolken hat der Sturm schon fortgeweht. Sterne sind zu sehen. Hunderte.
»Viele der Sterne gibt es gar nicht mehr«, sagt Atara. »Sie sind längst tot. Nur ihr Licht braucht so lange, bis es bei uns ist.«
»Sie sind weg, und trotzdem sehen wir sie?«
Atara nickt, und ich blicke sie nachdenklich an. »Godmother hat uns nie etwas über Sterne gesagt.«
»Kein Wunder.«
Ich versuche, Atara zu verstehen. »Weil selbst Sterne sterben?«
»So ist es. Auch unsere Sonne. In ein paar Milliarden Jahren ist es vorbei mit ihr. Dann verschlingt sie unsere Planeten. Auch die Erde.«
Ich verstehe, worauf Atara hinauswill, und beende ihren Gedanken. »Inklusive Serverinseln, Superrechnern und Godland.«
»Kein Stern lebt ewig«, sagt sie nur.
»Okay, aber ein paar Milliarden Jahre in Godland zu leben ist doch besser als hundert auf der Erde.«
»Das hängt davon ab, was du in den hundert Jahren erlebst, oder?«
»Also auf der Serverinsel war es jetzt nicht so toll, ehrlich gesagt.«
Atara will etwas darauf antworten, lässt es dann aber doch. Sie geht ans Ende des Schiffes und winkt mich zu sich. »Ich möchte dir jemanden vorstellen.«