Atara bleibt neben einer kleinen, geschlossenen Luke stehen. Die hatte ich bei meiner Ankunft auf dem Schiff nicht gesehen. Wie denn auch? Ich lag wie ein aus dem Ozean gezogener Fisch auf dem Deck, war klatschnass und schnappte nach Luft. Und dann führte mich Silver auch schon die Treppen hinunter.

Atara stampft mit den Füßen auf die metallene Luke.

Nichts passiert.

Sie tritt noch kräftiger.

Endlich springt die Luke auf. Ein junger Mann steht auf einer Leiter, die in die Tiefe führt. Er ist nur drei oder vier Jahre älter als Tian.

Atara klettert an ihm vorbei nach unten. Ich folge ihr. Der Mann knallt die Luke wieder zu, und für einen Augenblick fühle ich mich wie eine Gefangene.

Der Raum unten ist nicht viel größer als meine Schlafkoje. Nur gibt es hier kein Bett, sondern Dutzende Computer und Bildschirme. Die Technik ist bei weitem nicht so modern wie in Godmothers Kommandozentrale.

Die Kabel hängen lose aus den Rechnern. Überall blinken alte Schalter und Tasten. Auf dem Boden liegen Prozessoren

Der junge Mann schiebt bunte Kabel von einer Bank und setzt sich an den Tisch gegenüber. Da entdecke ich Mary in einer Ecke, die in einem riesigen, flauschigen Sessel sitzt. In dem vollgestellten Raum ist sie schnell zu übersehen.

Vor ihr auf dem Boden stehen eine leere Suppenschüssel und ein Krug mit Wasser.

»Da bist du ja. Geht es dir gut?«, fragt Mary, als wäre es das Normalste der Welt, sich in diesem Schrotthaufen unter Deck zu treffen.

Der junge Mann reicht mir seine Hand. »Ich bin Liam.«

»Yolanda«, sage ich und habe keine Ahnung, was das hier gleich wird.

»Du hast die Elektrobombe ins Deck A gebracht«, sagt Liam, und ich blicke zu Mary – was hat sie ihm noch über mich erzählt?

Und von wegen Elektrobombe – hätte der Langhaarige in der Turnhalle dieses Metallteil so genannt, wäre ich weggerannt, und zwar ohne das Ding.

»War mutig von dir!«, sagt Liam.

»Ich hatte keine Ahnung, was das ist.«

Liam lacht, dabei ist es die Wahrheit.

Atara schaut zu Mary. »Du glaubst, Yolanda schafft das?«

»Schafft was?«, frage ich.

»Ja«, sagt Mary und wird vorsichtiger. »Denke schon.«

Schön, dass sie an mich glaubt. Aber ich würde auch gern wissen, um was es überhaupt geht.

»Was habt ihr vor?«

»Würdest du …«, fängt Atara an und braucht ewig für diese zwei Wörter.

»Würde ich was?«

»Würdest du noch einmal zurückgehen zur Serverinsel?«

Was soll das? Ich bin doch gerade erst auf diesem Schiff angekommen. Ich will alle Leute hier kennenlernen. Ich will alles probieren, was sie zu essen haben. Und ich will endlich sehen, wie das Festland aussieht. Genau in der Reihenfolge.

Doch plötzlich fällt mir Aidan ein, und ich bekomme ein schlechtes Gewissen. Die ganze Zeit hier auf dem Schiff habe ich nicht mehr an mein Versprechen gedacht, das ich ihm gab, als er in der Schleuse feststeckte.

Aidan, ich komme wieder. Ich hole dich raus.

Aber Atara und Liam wissen nichts von diesem Versprechen.

»Wieso soll ich zurück?«

Atara schweigt und kratzt sich am Hals.

Liam übernimmt an ihrer Stelle. »Du sollst zurück, um Godland auszuschalten.«

Bei mir verkrampft sich etwas im Magen. Und das ist nicht der Hunger.

Ausschalten?

Geht so etwas? So wie mit dem Metallding? Das hat ja nur fünf Minuten funktioniert, dann war alles wieder repariert.

Atara sieht meine Skepsis. Sie muss mir die Dinge langsamer erklären. Viel, viel langsamer, und das versucht sie jetzt auch. »Die Serverinseln sind nur noch schwimmende Schrotthaufen.«

So wie dieser Raum hier?, denke ich.

Ich wiederhole, was sie mir über die Sterne gesagt hat: »Godland wird kaputtgehen, lange bevor unser Sonnensystem zugrunde geht.«

Liam und Mary schauen mich verwirrt an, doch Atara nickt lächelnd. Sie klopft auf einen der Monitore auf Liams Tisch. »Zeig Yolanda die Aufnahmen.«

Liam zieht eine der Tastaturen zu sich und tippt los.

»Was für Aufnahmen?«, frage ich.

Atara beugt sich über den Tisch. »Bilder von Godmothers Gehirn.«

»Ihrem Gehirn?«

»Der Supercomputer am Ozeanboden«, sagt Mary.

Atara stellt sich neben Liam und blickt auf den Monitor. »Warte. Hier sieht man gleich was!«

Liam hört auf mit dem Tippen, und Atara dreht den Monitor zu mir. Mary steht auf und kommt dazu. Wir versuchen etwas zu erkennen, doch da ist alles schwarz.

»Ist vom Tauchroboter, nur ein paar Stunden alt.«

»Ihr habt einen Tauchroboter?«, frage ich.

»Wir hatten einen«, sagt Liam. »Und das sind seine letzten Bilder.«

Der Tauchroboter unserer Serverinsel ist seit Jahren kaputt. Mein Vater führte damit Reparaturen durch. Das war seine Aufgabe, dafür hatte ihn Godmother ausgebildet, kaum waren wir auf der Serverinsel angekommen.

Irgendwann ging die Steuerung kaputt, und Ersatzteile kamen keine mehr. Also mussten wir den Roboter ausschlachten und die Elektronik für andere Dinge auf der Insel verwenden.

Der Lichtstrahl des Tauchroboters sucht den schwarzen Ozeanboden ab. Keine Fische, keine Lebewesen. Nur die Metallwand des Rechenzentrums ist zu sehen. Die Kamera zoomt heran.

»Seht ihr diesen Riss hier?«, sagt Atara.

An einer Stelle ist die Metallwand mehrere Zentimeter offen.

»Tritt da etwa Wasser ein?«, fragt Mary.

»Mit Sicherheit«, sagt Liam.

Der Tauchroboter nähert sich der Stelle, sein Lichtstrahl leuchtet in die Spalte, ein Greifarm fährt aus.

»Das war keine gute Idee von dir«, sagt Atara zu Liam.

»Ja, ja, schon gut. Ich wollte den Roboter nur andocken.«

»An den Rechner?«, frage ich.

Liam nickt.

»Hat aber nicht geklappt«, sagt Atara, und als bräuchte es noch Beweisbilder, blitzt etwas aus der Metallwand des Superrechners, und der Greifarm reißt ab.

Der Bildschirm wird sofort schwarz.

»Stromschlag«, sagt Atara. »In offene Computer sollte man nicht fassen.«

»Und was bedeutet der Riss für Godmother?«, frage ich. Der Tauchroboter ist mir ehrlich gesagt total egal.

Atara tippt auf den Monitor, obwohl dort nichts mehr zu sehen ist. »Godmother muss wegen der vielen Schäden schon jetzt Godland reduzieren.«

»Reduzieren?«, frage ich.

Bis eben konnte ich Atara folgen. Also Tauchroboter, die in

»Schließ die Augen«, sagt Atara.

Ich zögere und schaue zu Liam und Mary. Die haben die Augen geschlossen. Die spielen mit.

»Bitte«, sagt Atara.

Was soll’s. Ich schließe meine Augen.

»Stell dir vor, du stehst oben auf dem Deck von unserem Schiff, okay?«

»Okay«, sage ich und blinzele. Liam hat die Augen immer noch geschlossen, nur Mary schummelt.

»Erst siehst du das Unwetter nicht mehr«, sagt Atara. »Dann sind die Sterne fort, der ganze Himmel. Es riecht nicht mehr nach Salzwasser. Du spürst keinen Wind mehr. Du hörst keine Stimmen mehr. Und plötzlich ist das Schiff weg. Dann bist nur noch du da. Du stehst mitten im schwarzen Nichts. Irgendwann sind deine Hände fort, dann die Beine und schließlich der ganze Körper. Nur noch ein paar Gedanken sind da, und die lösen sich auch schon auf.«

»Schrecklich«, flüstert Mary.

»Genau so wird Godland bald sein«, erklärt Liam. »Für alle Hochgeladenen.«

»Weil der Rechner alles reduzieren muss?«, frage ich.

»Ja, er kann das alles nicht mehr ausrechnen«, antwortet Atara. »Die kaputte Technik schafft das nicht mehr.«

Ich stelle mir die Menschen in Godland vor. Wie sie durch eine leere, farblose Landschaft laufen. Endlos. Zumindest für ein paar Jahrhunderte, bis der Rechner selbst diese Leere nicht mehr simulieren kann.

Mary sagt das, was ich denke: »Das ist ja wie Folter.«

Niemand kann diesen Horror beenden!

Oder vielleicht doch.

Atara sagte, ich könnte das tun.

Godland ausschalten.

Liam räuspert sich. »Viele von uns haben Freunde und Verwandte in Godland. Es wird bald furchtbar für sie werden.«

Das verstehe ich. Ich kenne zwar nur Finn, aber das reicht mir schon.

Wenn mir Liam und Atara sagen, Godland muss ausgeschaltet werden, dann klingt das plausibel. Klar! Doch so einfach ist es nicht. Die Hochgeladenen werden nicht einmal gefragt, ob sie das wollen.

»Was überlegst du?«, fragt Atara.

»Darf ich das Leben der Menschen in Godland beenden? Ich meine, sie leiden dort bald, okay, es wird schlimm werden für sie. Aber darf ich sie endgültig töten? Das ist ja wie, wie …«

Ich suche das passende Wort, und Mary nennt es für mich. »Wie Sterbehilfe?«

»Ja.«

»Ist es eben nicht«, sagt Atara.

»Wieso?«

»Die Hochgeladenen sind längst tot. Vergiss das nicht. Du schaltest nur eine Kopie ihres Bewusstseins aus.«

Das beruhigt mich natürlich total.

So leicht ist die Sache eben nicht mit diesen Kopien!

»Die Kopie weiß ja gar nicht, dass sie eine Kopie ist«, sage ich. »Die Hochgeladenen fühlen sich doch total echt in Godland.«

»Nicht, wenn alles um sie herum verschwindet, sich auflöst.«

Okay, das ist ein Argument.

»Wieso ausgerechnet ich?«, frage ich und klinge ziemlich verzweifelt.

Es gibt doch genug Analoge hier auf dem Schiff!

»Godmother braucht dich als Gebärende ihrer neuen Analogen«, sagt Atara.

»Sie würde dir niemals etwas antun«, ergänzt Liam.

»Das gilt auch für Silver«, sage ich, was nicht feige klingen soll. Ich will Atara und Liam einfach nur verstehen. Wieso glauben die beiden an mich und nicht an andere?

Atara nickt. »Stimmt, Silver ist auch noch hier. Doch du bist besser geeignet als sie.«

»Geht das konkreter?«

»Godmother vertraut dir am meisten«, sagt Liam.

Ich blicke vorwurfsvoll zu Mary, und sie wendet den Blick ab.

Liam bemerkt es und will schlichten. »Auch Jeffrey glaubt das. Er sagte mir, dass Godmother sich dir sogar als deine verstorbene Mutter gezeigt hat.«

Stimmt natürlich. Jeffrey, der Langhaarige, der mich aus der Schleuse geholt hat, war dabei. Er hat das Hologramm gesehen.

»Godmother glaubt, ich bin ihre Tochter?« Atara übertreibt es so langsam. »Sie ist eine Computerstimme«, sage ich. »Sie hält sich doch nicht für eine echte Mutter!«

Liam kaut an seinen Fingernägeln und hört uns nur zu. Atara schaut ihn vorwurfsvoll an, er soll ihr helfen. Ihr gehen die Argumente aus, so kommt es mir vor.

Sie schweigt so lange weiter, bis Liam keine Wahl hat. Er spricht langsam und unsicher, als würde er laut denken. »Godmother lernt schnell, sie entwickelt sich weiter, keine Ahnung, was da wirklich vorgeht. Es kann schon sein, dass sie sich sehr mit dieser Mutterrolle identifiziert.«

Liam schweigt schon wieder nachdenklich, und Atara blickt auf den Boden.

Danke auch, Leute! Ihr seid ja echt großartig. Natürlich werde ich jetzt voller Überzeugung Godmother besuchen. Sie hält sich für meine Mutter!

So eine Scheiße.

Liam steht auf und dreht Kreise in dem winzigen Raum. Beruhigt ihn das? Also mich macht das total nervös.

Endlich bleibt er vor mir stehen. »Mary hat mir erzählt, dass ihr Godland besuchen durftet.«

»Godmother wollte uns damit motivieren. Sie nennt das Godland plus«, ergänzt Mary, als gebe es Noten für fleißiges Mitarbeiten.

»Na und?«, frage ich. »Wieso ist das mit den Besuchen jetzt wichtig?«

Atara schiebt einen der Monitore zur Seite und setzt sich auf den Tisch. »Das macht das Ausschalten von Godland etwas leichter.«

»Das ist doch echt zum Kotzen«, sage ich irgendwann.

»Was genau meinst du?«, fragt Atara.

»Wir Analogen haben den ganzen Quatsch geglaubt. Wir haben für nichts geschuftet. Keine Technik hält ewig. Ist doch irgendwie klar. Wie konnten wir nur so dumm sein?«

»Keiner darf sich Vorwürfe machen. Viele haben an Godland geglaubt«, sagt Liam.

Er tut so klug, als wäre er älter als wir alle zusammen. Aber was er dann noch sagt, finde ich wirklich gut. »Nicht nur für die Analogen ist es traurig, auch für die Hochgeladenen. Ihre Ewigkeit ist eine Lüge. Sogar für Godmother ist es traurig, denn sie hat sich verrechnet, und das zum ersten Mal. Sie hat sich in uns Menschen getäuscht. Dass Analoge Godland aufgeben könnten, hielt sie für unmöglich.«

Ich blicke zu Mary, zu Liam und schließlich zu Atara. »Und wie schalte ich dieses verdammte Godland jetzt aus?«