Liam setzt sich zu mir auf die Bank und erklärt, was zu tun ist. Ich hatte einen langen Text erwartet, irgendwas Kompliziertes und Gefährliches. Doch Liam ist nach zwei Minuten schon fertig. Ich halte das für einen Witz. Aber weder er noch Mary und Atara lachen.
Atara klettert mit mir die Leiter hoch, Liam und Mary bleiben unten.
»Hast du etwa noch einen Auftrag für mich?«, frage ich.
Atara kommt einen Schritt auf mich zu, und ich gehe einen zurück. Ich hätte sie gern als Freundin gehabt, nicht als neue Godmother, die sagt, was ich tun soll.
»Du musst dich auf der Serverinsel beeilen«, sagt Atara.
»Warum?«
»Mary und dein Vater haben uns etwas von einer Verstärkung erzählt.«
»Verstärkung, ja«, sage ich. »Leute von Godland zweiundvierzig angeblich. Aber Godmother lügt doch wie immer.«
»Wir sind nicht sicher. Kann sein, dass wirklich welche kommen. Und wir wissen nicht, ob die von unserer Idee begeistert sind. Wir wissen nichts über sie.«
Atara macht wieder einen Schritt auf mich zu, und dieses Mal bleibe ich stehen. Sie legt ihren Arm um meine Schultern, und das fühlt sich okay an. »Pass dort bitte auf dich auf.«
Ich starre in den Himmel und schaue mir noch einmal die Sterne an. Manche von ihnen sind längst tot.
Todessterne.
»Ist euer Festland wirklich besser als Godland?«
»Godland stirbt«, sagt Atara.
»Okay, aber was erwartet mich später auf dem Festland? Das muss ich doch wissen vorher.«
Atara streicht mir über den Rücken und lächelt. »Obst und Gemüse reichen dir nicht?«
»Ehrlich gesagt, nein.«
»Wir leben in einer kleinen Siedlung weit von den verseuchten Gebieten entfernt. Es gibt einen Fluss, der zum Ozean führt, und überall Bäume.«
Atara beschreibt das Godland, in dem ich Finn kennengelernt habe – mein Godland. Haben ihr Dad und Mary davon erzählt? Sie haben meinen Film gesehen. Macht sich Atara etwa gerade über mich lustig?
Ich spiele das Spiel mit. »Schon klar. Und ihr lebt in kleinen Holzhütten im Wald, richtig?«
Atara schaut mich überrascht an. »Woher weißt du das?«
»Mein Godland sah aus wie euer Festland.«
Sie denkt über meinen Satz nach und wirkt sehr ernst. Das hier ist kein Spiel.
Atara nickt mir zu. »Dann weißt du ja, wo du hingehörst.«
Ich schüttele den Kopf. »Ich weiß gar nichts.«
Da spüre ich, wie sie mich an der Seite kitzelt.
Was soll das?
Ich schlage ihre Hand weg und sehe plötzlich den kleinen Jungen neben mir.
Er war es!
»Bist du etwa nicht kitzelig?«, fragt er mich mit großen Augen.
Atara wuschelt ihm durch die Locken. »Kannst du wieder nicht einschlafen?«
Er schüttelt den Kopf und drückt seine Stirn an meine Hüfte. Der kleine Kerl ist wirklich ziemlich anhänglich.
»Darf ich bei dir einschlafen?«, fragt er mich plötzlich.
»Nicht so stürmisch! Yolanda kennt dich doch noch gar nicht«, sagt Atara lächelnd und blickt zu mir. »Du musst dich hinlegen. Ruhe dich ein paar Stunden aus, bis wir wieder bei der Serverinsel sind. Ich kümmere mich um die kleine Nervensäge hier.«
Der Junge schmollt, und das gibt mir den Rest. Ich ziehe ihn zu mir, nehme ihn auf den Arm, und er strahlt mich an.
»Wir ruhen uns zusammen aus. Danach muss ich was erledigen.«
Ich blicke zu Atara und sehe ihre Freude. Weil ich den kleinen Jungen übernehme oder weil ich Godland ausschalte?
Atara führt uns zu einem Raum voller Betten. Bestimmt zwanzig Leute schlafen hier schon. Sie klopft auf eine große Matratze. »Hier passen zwei drauf.«
Der Junge springt ins Bett und jauchzt.
Atara ermahnt ihn mit einem »Pssssst!«. Und mir flüstert sie ins Ohr: »Ich wecke dich, wenn wir bei der Serverinsel angekommen sind.«
Ich decke den Jungen und mich zu. Ich streichle seinen Nacken und die lockigen Haare.
»Wie heißt du eigentlich?«, frage ich.
Doch der kleine Kerl ist schon eingeschlafen.
Viel zu früh spüre ich eine Hand, die mir über den Kopf streicht, so wie ich es bei dem Jungen getan habe. Nur sind meine Haare nicht so schön. Es dauert sicher ewig, bis sie so lang sind.
»Atara?«
Niemand antwortet, und ich öffne die Augen.
Meine Mutter sitzt am Bettrand. Sie lächelt mich an.
»Mum!«, sage ich.
Sie sieht so jung aus wie damals, wie immer, wenn ich an sie denke. Sie küsst mich auf die Stirn.
Ich will sie umarmen, richte mich auf und knalle mit dem Kopf gegen das Bettgestell über mir.
Ich wache auf und sehe Atara.
»Yolanda! Wir sind da.« Sie reicht mir einen Becher mit Kaffee. Es duftet schon im ganzen Raum danach.
Der kleine Junge schläft tief und hält unser Kissen mit beiden Händen fest umschlungen.
Atara führt mich hoch an Deck. »Nimm noch das Brot mit. Ist gerade fertig geworden.«
»Brot?«
Ich kann es nicht glauben und greife danach. Es ist warm.
»Darf ich?«, frage ich, und bevor Atara antwortet, reiße ich ein Stück ab und beiße hinein.
Ich hatte vergessen, wie gut ein frisch gebackenes Brot schmeckt, ich konnte keine Sekunde warten. Mit schlechtem Gewissen schaue ich zu Atara. »Entschuldige.«
Sie winkt ab und versucht ein Lächeln, doch sie ist nervös. »Du musst los!«
Ich nicke, trinke den Kaffee aus und stecke das restliche Brot in eine der breiten Taschen meines Pullovers.
Keine zwanzig Meter vor uns ragt die Serverinsel aus dem Pazifik. Atara zeigt auf eine Stelle direkt vor uns. »Siehst du die Leiter?«
Ich sehe das klapprige Gerüst, das an der glatten Stahlwand der Serverinsel hängt. Eine Leiter würde ich das nicht nennen.
»Weiter oben ist der Schacht für die Lüftung. Von dort geht es zur Trainingshalle.«
Ein Loch klafft am Ende der Leiter aus dem Metallriesen. Ein verbogenes, aufgeschnittenes Gitter hängt davor.
Das Schiff nähert sich Meter für Meter der Serverinsel, doch anlegen kann es nicht. Sonst würde es zerschellen. Zwischen uns und der Leiter liegen noch zwei Meter. Mindestens.
Ich soll springen? Aber wenn ich ausrutsche und die Leiter verfehle, muss mich Atara wieder aus dem Wasser fischen. Was ist, wenn ich auf dem Weg nach oben keine Kraft mehr habe? Das sind mindestens fünf Meter bis zu dem Loch.
»Los jetzt!«
Das war nicht Ataras Stimme.
Ich drehe mich um und sehe Silver und Tian. Er trägt einen vollgepackten Rucksack.
»Was macht ihr hier?«, frage ich.
»Wonach sieht’s denn für dich aus?«, fragt Silver.
Mir kommen die Tränen. Ist der falsche Moment dafür, ich weiß, mit verheulten Augen sehe ich nichts mehr. Dann springe ich wirklich noch daneben.
Ich wische mir die Augen trocken und schaue zu Atara. Sie blickt besorgt zur Kommandobrücke. Nicht wegen Silver und Tian. Bestimmt nicht. Die beiden dürfen mit! Garantiert hat Atara sie geweckt.
Das Problem ist ein anderes.
Ein paar kräftige Wellen, und unser Schiff zerschellt an der Stahlwand der Serverinsel. Wir müssen endlich weg, damit das Schiff mehr Abstand gewinnen kann und in Sicherheit ist.
Silver springt zuerst. Sie knallt hart gegen die Stahlwand und schreit vor Schmerz. Doch sie hält sich fest.
Kaum ist sie ein paar Meter nach oben geklettert, folge ich ihr. Ich nehme weniger Anlauf, lande mit nicht so viel Schwung. Dafür verfehle ich fast die Sprosse.
Jetzt muss es nur noch Tian schaffen.
Er wirft mir seinen Rucksack zu, mit einer Hand kann ich ihn auffangen. Ist der vielleicht schwer!
Tian springt, trifft die Leiter, aber mit zu viel Schwung. Der Kopf knallt gegen eine der Sprossen, und seine Lippe platzt auf.
»Tian!«, ruft Silver.
Der wischt sich das Blut von den Lippen und streckt einen Daumen hoch.
Als ich oben beim Loch ankomme, sitzt Silver schon im Schacht und reicht mir die Hand. Sie zieht mich in den engen Gang und schaut nach Tian. Der kommt mit blutenden Lippen eine Minute später dazu.
Wir knien zu dritt nebeneinander. Die Decke ist zu niedrig, um stehen zu können.
Silver küsst vorsichtig Tians verletzte Lippe. »Muss vielleicht genäht werden.«
Sie sucht etwas, um die Blutung zu stoppen. Doch nichts hier ist sauber. »Geht’s auch so?«
Tian nickt, ich drücke ihm seinen Rucksack in die Hand.
Er öffnet ihn und holt einen schweren Gegenstand aus Metall heraus, den ich inzwischen sehr gut kenne: die Elektrobombe. Nur ist das Ding hier bestimmt zehnmal so groß.
»Was soll das?«, frage ich.
»Plan B«, sagt Silver. Sie sieht meinen skeptischen Blick. »Wenn etwas schiefläuft. Wenn dir Godmother nicht vertraut und du nicht das machen kannst, was dir Liam gesagt hat, dann hast du ein Problem. Richtig?«
Ich nicke. Silver kennt den Plan ziemlich gut.
Tian streicht über das Metallding. »Dann aktivieren wir dieses Teil und holen dich raus.«
Daran will ich jetzt nicht denken.
»Kommt!«, sage ich und krabble auf allen vieren durch den Schacht.
Tian folgt mir und flucht. Mit dem Rucksack bleibt er an der niedrigen Decke hängen. Er zieht ihn vom Rücken und schiebt ihn vor sich her.
»Warte«, sagt Silver. »Schaut mal!«
Sie kniet noch immer am Eingang des Lochs. Ich drücke mich an Tian vorbei und krabble zurück zu ihr. Silver zeigt auf etwas in der Ferne, und erst als ich bei ihr ankomme, sehe ich es.
Die Sonne geht auf. Und wie!
Ihre Strahlen scheinen über den kompletten Horizont. Die Wellen funkeln millionenfach. Es ist wunderschön.
Silver drückt mich fest an sich. »Du schaffst das da drinnen!«
Tian drängelt von hinten, er will auch was sehen. Aber wenn er so weitermacht, fliegen Silver und ich aus dem Loch in die Tiefe.
Silver presst sich an den Rand und lässt ihn durch. Tian staunt wie ich. Mehr passiert die nächsten Minuten nicht. Ich hole das Brotstück heraus und reiche es den beiden. Die machen vielleicht Augen!
Silver teilt es in drei Teile, und jeder schmatzt vor sich hin.
Ich denke an die anderen in der Kantine auf der Serverinsel. Josie, Emre, Aidan und Mauro würgen vermutlich gerade den Laborbrei herunter. Was werden sie sagen, wenn sie mich gleich wiedersehen?
Das Brot ist viel zu schnell aufgegessen, und wir krabbeln wieder zu dritt durch den Schacht. Silver ist vor uns und hat eine Taschenlampe im Mund.
Der Schacht wird noch niedriger, und wir müssen uns hinlegen und mit Händen und Füßen nach vorne ziehen.
»Stopp!«, ruft Silver.
Fast wäre sie durch eine Öffnung am Boden gefallen.
Sie richtet die Taschenlampe in die Tiefe, ich rutsche an ihre Seite. Wir sehen alte Matten, Kisten, Kletterstangen und Seile. Unter uns ist der Lagerraum der Turnhalle.
Ich will endlich aus dem engen Schacht und springe zuerst. Mit einem lauten Knall lande ich auf dem Boden.
Na toll! Godmother weiß spätestens jetzt, dass sie Besuch bekommt.
Ich schiebe die Turnmatten unter die Öffnung des Schachts. Silver und Tian lassen sich auf sie fallen, das ist viel leiser.
Plötzlich hören wir die vertraute Stimme, und ich bekomme sofort Gänsehaut.
»Yolanda! Du bist zurückgekommen.«