Erschrocken blicke ich zu Silver. »Woher weiß Godmother, dass ich es bin?«, frage ich leise.
Silver flüstert in mein Ohr: »Godmother hat nur irgendwas gehört. Sie kann nicht wissen, dass du es bist. Sie vermutet es einfach.«
»Wieso?«, frage ich.
»Ganz einfach: Das hat sie sich ausgerechnet.«
»Das ist doch ein gutes Zeichen«, sagt Tian ruhig.
Godmother erwartet mich. Sie hat sich ausgerechnet, dass ich wiederkomme. Vielleicht haben ihr die Berechnungen noch viel mehr gesagt. Weiß sie auch schon, was ich wirklich vorhabe?
Ich laufe aus dem dunklen Lagerraum und bleibe mitten in der Turnhalle stehen. Hier kann mich Godmother am besten erkennen – Dutzende Kameras hängen an der Decke.
Das Licht in der Halle springt an.
»Hallo, Godmother.«
»Willkommen zurück. Du hast interessante Kleider an.«
Ich blicke auf die viel zu großen und ziemlich bunten Sachen an mir herunter.
»Musste ich anziehen«, lüge ich. »Hatte keine Wahl.«
Was rede ich hier eigentlich?
Liam vom Schrotthaufen unter dem Schiff hat mich auf das vorbereitet, was ich machen soll. Doch sein Plan beginnt nicht auf der Serverinsel, sondern in Godland. Und wie ich dorthin komme, ist meine Sache. Verdammt!
»Yolanda, alle warten in der Kantine auf dich! Es gibt Frühstück. Du hast bestimmt großen Hunger.«
»Sehr großen Hunger«, sage ich. »Draußen gibt es nichts zu essen.«
»Ich weiß. Nur hier gibt es noch Nahrung. Und Yolanda …«
»Was denn, Godmother?«
»Über die Fremden will ich später alles wissen.«
Die Fremden.
Was weiß Godmother wirklich, und was vermutet sie nur?
»Natürlich! Ich erzähle dir alles.«
Ich gehe zur Schleuse, doch sie öffnet sich nicht.
»Zieh dich bitte aus«, sagt Godmother.
»Wie bitte?«
»Zieh dich bitte aus, wenn du in die Schleuse gehst. Josie bringt dir neue Kleidung. Sie ist schon unterwegs.«
»Aber wieso?«
»Vielleicht haben die Fremden dir etwas mitgegeben. Etwas, das für diesen Ort nicht gut ist. Wie schon einmal.«
Etwas mitgegeben, wie schon einmal …
»Du weißt, von welchem Gegenstand ich spreche, nicht wahr?«
»Ja, Godmother. Ich muss mich entschuldigen. Ich wusste nicht, was das ist. Ich habe es eingesteckt, ohne dich zu fragen.«
Ich ziehe meine Kleider aus und lege sie vor die Schleuse. Es ist kalt in der Turnhalle.
»Du hast den Fremden mehr vertraut als mir«, sagt Godmother mit trauriger Stimme. »Aber du bist zurückgekommen.«
Die eine Tür der Schleuse öffnet sich, und ein Stapel frischer Wäsche liegt vor mir. Es ist die Kleidung aus dem Schrank meiner Koje.
Schnell ziehe ich mich an.
Ein ernster Blick in die Kamera.
Piep.
Einen Finger auf den Sensor drücken.
Piep.
Kein weiterer Piep. Mehr geschieht nicht. Godmother tut nicht mehr so, als ob diese Körperscanner noch funktionieren. Die Schleuse zischt auf.
Auf der anderen Seite steht Josie. Sie fällt mir in die Arme und drückt mich kräftig an sich. »Schön, dass du wieder da bist.«
Ihr Gesicht sieht furchtbar aus. Vermutlich hat sie die ganze Nacht kein Auge zugetan. Kein Wunder, sie sind zu viert und müssen die Aufgabe von zwanzig Analogen übernehmen.
In der Kantine sitzen Aidan, Mauro und Emre vor den Tellern mit Laborbrei. Genau so, wie ich mir es vorgestellt habe.
»Yolanda ist zurück«, sagt Godmother. »Sie hat Hunger. Die Fremden haben nichts zu essen.«
Aidan holt mir einen Teller und füllt ihn auf. Er schaut mich skeptisch an. Der Arme versteht natürlich überhaupt nichts mehr. Erst will ich, dass er mit mir abhaut, und dann komme ich zurück.
Bevor der Teller mich erreicht, greift Emre nach ihm. »Nicht so schnell! Was ist da draußen los? Wieso bist du zurückgekommen?«
»Emre, ich bitte dich« sagt Godmother. »Sei nicht so zornig. Auch ich bin enttäuscht von Yolanda. Doch sie ist wieder hier. Sie bekommt eine neue Chance.«
Ich setze mich hin.
Aidan nimmt seinem Vater den Teller aus der Hand und schiebt ihn über den Tisch zu mir. Ich nehme einen Löffel und schlucke die schleimige Masse herunter.
»Wer sind diese Fremden?«, fragt Godmother.
Das Verhör beginnt also schon. Ich dachte, sie würde noch ein wenig warten, würde mich noch mehr beobachten und analysieren. Vor allem hatte ich gehofft, sie würde mich nicht vor den anderen befragen. So fällt mir das Lügen viel schwerer.
Genau das weiß sie!
»Sie haben ein kleines Schiff und …«
»Wie viele sind es?«, fragt Godmother.
»Drei, vier Leute vielleicht.«
»Wohin wollen sie?«
»Zum Festland.«
»Dort gibt es kein Godland.«
»Ich weiß.«
»Dort werden sie sterben.«
»Ja, deswegen bin ich hier.«
»Und die anderen von uns?«, fragt Emre.
Ich habe mir das alles viel zu leicht vorgestellt. Mit jeder Frage wird die Sache komplizierter.
»Sie haben alle von uns gefangen genommen. Nur ich konnte fliehen.«
Mauro haut auf den Tisch. »Wir müssen sie befreien! Wir …«
»Sie werden sich selbst befreien«, sagt Godmother. »So wie Yolanda. Lasst uns bitte allein.«
Mauro schaut unsicher zu seinen Eltern. Sie nicken ihm zu, und er folgt ihnen. Aidans Blick heftet auf mir, bis er in der Schleuse verschwindet.
Kaum sind sie fort, spricht Godmother weiter.
»Wieso lügst du mich an?«
Ihre Frage verwundert mich nicht wirklich.
Ich hab das Lügen satt.
Und endlich weiß ich, was ich Godmother erzählen werde und wie ich nach Godland komme. Um dort das zu tun, was mir Liam erklärt hat.
»Godmother, ich lüge nur für dich.«
»Und wieso tust du das?«, fragt sie.
»Soll ich Josie, Mauro, Aidan und Emre etwa von Deck B erzählen? Davon, dass viele von ihnen noch leben? Dass sie von hier abgehauen sind mit den Fremden?«
Ich zeige auf den Teller mit Laborbrei. »Oder soll ich vom frisch gebackenen Brot schwärmen, dass es dort zu essen gibt? Von den Früchten, echten Früchten, aus denen sie Tee machen?«
Ich stehe auf und gehe zum Monitor an der Wand. Alle Aufgaben des Tages sind aufgelistet, und es tauchen immer die gleichen vier Namen auf.
»Und du hast so viele Aufgaben! Keiner muss bei den Fremden so schuften wie bei dir. Willst du, dass ich all das erzähle?«
Ich setze mich auf die Tischkante. Gestern hätte Godmother das nicht geduldet. Niemals darf jemand auf dem Tisch sitzen bei ihr. Doch heute ist alles anders zwischen uns.
»Ja, es war gut, dass du eine alternative Geschichte erzählt hast«, sagt Godmother.
Alternative Geschichte … Ich habe gelogen!
»Das war eine gute Entscheidung von dir. Danke.«
Ich versuche, ruhig zu atmen.
Godmother sieht, wenn ich aufgeregt bin.
Auf dem Monitor an der Wand verändert sich etwas. Baut Godmother schon den Arbeitsplan um? Teilt sie mich gerade für den Putzdienst ein? Ich kann es von hier nicht lesen.
»Yolanda, wieso bist du zu mir zurückgekommen, wenn bei den anderen alles besser ist?«
Godmother stellt endlich die Frage, die mich zu meinem Ziel führen könnte.
»Dort ist nicht alles besser«, sage ich und mache eine Pause. Ich darf jetzt keinen Fehler machen.
Ich warte darauf, dass Godmother ihre Frage wiederholt. Doch das macht sie nicht. Sie verhält sich mir gegenüber komplett anders als früher.
Ich weiß nicht, ob ich das gut finden soll oder nicht.
»Die Fremden haben kein Godland«, sage ich schließlich.
»So ist es«, sagt Godmother. »Sie haben nichts. Auf sie wartet der Tod. Doch auf dich wartet das ewige Leben.«
Ich nicke.
»Und Finn«, sagt Godmother.
Der arme Kerl, denke ich.
»Du liebst Finn«, sagt Godmother. »Ich weiß es.«
Von wegen! Du weißt nichts über Liebe!
Ich habe nur Mitleid mit ihm. Die letzten zwei Minuten von Godland werde ich daher bei ihm sein. Das schwöre ich.
»Ja, ich liebe ihn«, sage ich und versuche, so glaubhaft wie möglich zu klingen. »Und ich vermisse ihn so sehr. Deswegen will ich Finn jeden Tag besuchen.«
»Jeden Tag? Das geht nicht«, sagt Godmother.
Ich stehe auf, gehe zum Monitor und boxe mit der Faust dagegen. Kurz flackert er auf. Von mir aus hätte das Ding auch kaputtgehen können.
»Doch! Und diese Besuche finden nicht mit der albernen VR-Brille statt, sondern mit dem Helm!«
»Das ist nicht möglich«, sagt Godmother.
Ich nehme den Fischteller, halte ihn vor eine Kamera und schleudere ihn quer durch den Raum an die Wand. Der Teller zerschellt, und der Brei hinterlässt einen dunklen Fleck.
»Dann werde ich eben nicht für dich arbeiten. Und keine Kinder für dich bekommen!«
Godmother sagt nichts zum kaputten Teller, zu meinem aggressiven Verhalten. Sie weist mich nicht zurecht. Sie hat sich ausgerechnet, dass sie mich zu nichts mehr zwingen kann.
Das ist vorbei.
»Also gut, einen Besuch in Godland alle zehn Tage für dich«, sagt sie. »Das wäre technisch vielleicht möglich.«
»Alle drei Tage einen Besuch!«
»Alle fünf«, sagt Godmother. »Denke bitte an den großen Aufwand.«
»Okay«, sage ich ruhig. »Aber heute ist der erste Besuch.«
Ich warte auf eine Antwort.
Doch Godmother sagt nichts.
Während ich überlege, was so lange dauert, fällt mein Blick auf den Monitor. Die Sache hat sich erledigt. Ich entdecke meinen Namen hinter mehreren Aufgaben heute. In der letzten Zeile steht: Godland-Besuch. Yolanda.