Als ich aufwache, sitzt Aidan neben mir. Die Tür der kleinen Kammer ist auf. Er wischt mit einem Tuch Schweiß von meiner Stirn. Ich zittere am ganzen Körper. Aidan nimmt mir den Helm ab.
»Alles okay?«, fragt er.
Aber klar doch, hab nur gerade Godland gelöscht. Aber ansonsten ist alles super.
»Denke schon«, sage ich.
Er führt mich ins Kontrollzentrum.
Mauro, Josie und Emre stehen sprachlos dort. Alle Bildschirme sind schwarz. Selbst die kleinen Leuchtanzeigen sind aus. Nur auf einem Monitor blinken noch ein paar Zeichen.
Die Lichter an der Decke flackern.
»Totaler Absturz«, sagt Emre. »Keine Ahnung, was passiert ist.«
Er bleibt vor dem einzigen Monitor stehen, der noch funktioniert.
»Kann nicht sein«, sagt er. »Das kann doch nicht sein.«
Er zieht einen Stuhl heran, lässt sich darauf fallen und liest die Zeilen auf dem Monitor.
»Was denn?«, fragt Josie und studiert die Zeilen.
Sie sucht nach der Lehne des Stuhls, verfehlt ihn und knallt auf den Boden. Aidan eilt ihr zur Hilfe.
Auch Emre springt auf und schaut nach ihr.
Mauro fängt an zu weinen. »Was ist denn mit ihr los?«
Emre küsst seine Frau auf die Stirn, stützt ihren Kopf, der ziemlich hart gelandet ist. »Sie ist ohnmächtig geworden.«
»Wieso denn?«, fragt Aidan verzweifelt.
Emre schaut seine zwei Söhne an. »Godland ist gelöscht.«
»Gelöscht?«, fragt Mauro.
»Ja. Für immer.«
Mauro stürmt auf mich zu. »Das waren die Fremden vom Schiff!«
»Nein«, sage ich.
Mir ist noch schwindlig von der Spritze, von dem Helm, von Godland.
Ich lehne mich an eine der Monitorwände. Ich will nicht in Ohnmacht fallen wie Josie. Immerhin kommt sie langsam wieder zu sich.
»Die Fremden waren es nicht?«, fragt Emre. »Wer sonst?«
Er ahnt etwas. War ja auch nicht schwer.
Ich hole tief Luft. »Ich war es.«
»Du … hast … also du …«
»Ja. Ich.«
»Du kanntest den Code?«, fragt Emre entsetzt. »Das Bild, mit dem alles zu Ende geht?«
»Wovon redet ihr?«, schreit Mauro und zerrt an seinem Vater. »Was für ein Bild?«
»Was denn vorstellen?«, fragt Mauro.
»Etwas so Verrücktes, dass Godmother niemals darauf kommen würde.« Emre sieht zu mir. »Angeblich kennt nur eine Person diesen Notausgang.«
»Und wer ist diese Person?«, frage ich.
Aidan, Emre und Mauro schauen mich verwirrt an. Klar, die denken, ich checke alles. Tue ich aber nicht. Ich verstehe gar nichts.
Emre kommt auf mich zu. »Nur der Erfinder von Godland kennt den Notausgang.«
Der Erfinder von Godland.
Dann ist Liam der Erfinder?
Das geht doch gar nicht. Der Typ hinter den ganzen Monitoren im Schiff war doch viel zu jung. Der Godland-Erfinder müsste weit über hundert Jahre alt sein.
Ich schüttle so übertrieben den Kopf, dass es Mauro und Emre sehen müssen. »Der Mann, von dem ich diesen Notausgang habe, war nicht viel älter als Mauro.«
Josie hat sich wieder aufgerichtet und sitzt auf dem Boden. »Der Erfinder lebt seit Jahrzehnten in Godland.«
»Offenbar jetzt nicht mehr«, sagt Emre trocken. »Er hat einen Weg gefunden, wieder zurückzukommen.«
»Zurückzukommen?«, frage ich.
»Vom Upload zum Download«, überlegt Emre laut und hilft Josie aufzustehen.
»So wie bei Godland plus«, sagt Josie und reibt sich über
Emre stimmt seiner Frau zu. »Wir bringen uns nach Godland und wieder zurück.«
»Der Erfinder hat sich wieder runtergeladen?«, fragt Mauro. »Aber wohin denn?«
Josie überlegt und spricht mehr zu sich als zu uns. »Natürlich nicht in seinen alten Körper, sondern in einen viel jüngeren.«
»Und woher hat er den?«, frage ich stockend.
»Von einem seiner reichen Kunden vermutlich. Der Körper bleibt ja nach dem Upload zurück.«
Mir läuft es eiskalt den Rücken herunter.
Da erfindet einer diese digitale Welt, Millionen folgen, und der Typ flüchtet dann wieder zurück ins echte Leben? Ich hab da eine Menge Fragen an Liam.
Das Lügen hat Godmother offenbar von ihm gelernt, ihrem Programmierer, ihrem Erschaffer.
Weiß Atara oder irgendjemand auf dem Schiff, wer Liam wirklich ist oder besser gesagt, wer er früher war?
»Wenn es diesen verrückten Typen heute noch gibt«, fragt Mauro, »wieso musste dann Yolanda Godland ausschalten?«
»Vermutlich traut Godmother ihrem Schöpfer nicht mehr über den Weg«, sagt Emre. »Sie hätte ihn niemals als Besucher zugelassen.«
Mir reicht das hier.
Ich will weg.
Kaum erreiche ich die Schleuse, da zischt sie von allein auf. Besser gesagt, sie wird aufgeschoben. Denn mit Godland ist die ganze Serverinsel gestorben. Selbst die Notbeleuchtung flackert nur noch.
Ich trete ein paar Schritte zurück.
Es sind nicht die Fremden vom Schiff und keine Analogen, die ich kenne. Und sie tragen Waffen!
Ich starre auf Maschinenpistolen, gezackte Messerklingen und Äxte.
Wieso hat Godmother eine Armee geschickt? Hat sie uns misstraut? Hat sie geahnt, was ich vorhabe? Wieso haben die Waffen und wir nicht?
Mein Blick wandert von den Waffen zu den Gesichtern der Analogen. Und plötzlich ist das mit den Maschinenpistolen, Messern und Äxten totale Nebensache.
Denn so alte Menschen hab ich noch nie gesehen!
Sie werden von einer Frau angeführt. Auch ihr Gesicht ist voller Falten. Sie ist unglaublich alt. Viel älter als Mary oder Conrad.
Mauro, Emre, Aidan und Josie betrachten die Alten, die genauso kurz rasierte Haare wie wir haben.
»Die Verstärkung?«, fragt Josie und hält sich an der Monitorwand fest.
»Ihr seid zu spät«, sagt Emre. »Godland ist gelöscht.« Eine bessere Begrüßung fällt ihm nicht ein. Er ist fertig mit der Welt.
Die alte Frau ganz vorn tritt näher zu uns. Sie trägt ihre Maschinenpistole über den Rücken geschnallt und hat eine lange Narbe über der Stirn. »Godmother sagte uns, ihr braucht Hilfe?«
Diese Alte mit der Waffe hat Emre offenbar nicht verstanden. Sie hat nicht gehört, dass alles vorbei ist. Emre hat es auch viel zu leise gesagt.
Sie lächelt mir zu. »Leila.«
Leila reicht eine Faust zum Gruß. Ich stoße meine gegen ihre und spüre die Knochen. Die Frau ist so mager. Auch ihre Begleiterinnen haben kaum etwas auf den Rippen. Die dreckigen, zerfetzten, ausgeleierten Sachen hängen ihnen vom Körper.
»Was ist bei euch passiert?«, fragt Leila.
Mir schnürt es den Hals zu. Wie soll ich ihr das alles schonend beibringen? Außerdem muss ich erst einmal eine andere Frage loswerden.
»Leila«, fange ich laut und deutlich an.
Sie schaut zu mir, und eines ihrer Augenlider zittert.
»Wie lange ist eure Dienstzeit?«
»Unsere Dienstzeit?«, fragt Leila.
»Eure Dienstzeit, ja. Wie lange arbeitet ihr bis zum Upload?«
Leila runzelt die Stirn. Dann schaut sie erst zu Emre und schließlich zu ihren eigenen Leuten. »Wie auf jeder Serverinsel. Sechzig Jahre.«
»Sechzig?«, fragt Josie mit gebrochener Stimme.
»Natürlich«, sagt Leila. »Wieso fragst du?«
Aus mir kommt kein Wort mehr heraus. Die hier müssen sechzig Jahre schuften. Vierzig Jahre mehr als wir.
Ich hole tief Luft. Dann atme ich sie ganz langsam aus.
ICH.
HASSE.
GODMOTHER.
Doch sie ist tot. So tot, wie ein Computer nur sein kann.
Ohne Hoffnung auf ein Jenseits.
Und es bringt nichts, einen toten Computer zu hassen. Ich meine, sie hat ja nie gelebt. Aber sie hat lange gerechnet. Und sie hat uns alle verarscht.
Ich sehe Leila und die anderen Alten vor mir. Mir wird schlecht. Sie arbeiten seit Jahrzehnten für Godland. Und ich hab ihre Zukunft zerstört.
Das stimmt so nicht, ich weiß. Ich hab die Sache nur beschleunigt. Die Serverinseln waren eh hinüber.
Wenn ich mir Leila und die anderen Alten so ansehe, war bei denen auch Notstand. Sie haben keine neuen Leute, die ihren Job übernehmen. Sie haben nicht mal Analoge wie mich, die für sie Kinder bekommen können. Und sie haben definitiv eine leere Speisekammer.
Wir schweigen uns alle an.
In Josie, Emre und Mauro geht etwas vor. Das sehe ich. Sie sind nicht mehr wütend auf mich. Sie beginnen endlich, die Dinge zu durchschauen.
Godmother hat diese Alten angelogen. Also lügt sie auch jeden anderen an. Auch uns.
Plötzlich rumpelt etwas im Gang, und ich zucke zusammen. Der Kegel einer Taschenlampe strahlt durch die offene Schleuse. Dann erkenne ich Tian.
»Lasst uns mal durch!«, ruft er und drückt sich an den Alten vorbei in die Kommandozentrale. Hinter ihm sind Silver und Atara.
Atara!
»Wer ist das denn jetzt?«, fragt Emre und zeigt auf sie, doch Atara beachtet ihn nicht.
Atara zeigt auf die Verstärkung. »Wir haben die Boote entdeckt, wussten nicht, was sie vorhaben, haben uns versteckt und … die … Verstärkung …«
Sie stockt und hört auf.
Entsetzt schaut Atara die alten Leute an.
»Seid ihr auch Verstärkung?«, fragt Leila. »Von welcher Serverinsel kommt ihr?«
Atara versucht ein freundliches Lächeln. »Ja, auch Verstärkung. Wir kommen mit einem großen Schiff.«
Mauro starrt sie an. »Du bist eine von diesem Schiff?«
Leila sagt nichts mehr dazu. Sie geht langsam auf Atara zu und streicht über ihre langen Haare.
Atara lässt das über sich ergehen. Wenn es sie stört, so zeigt sie es zumindest nicht. Auch zwei, drei andere Alte kommen und bewundern Ataras Haare. Ihr Kopf wird von mindestens zehn fremden Händen berührt.
»Auf Godland eins sind Haare verboten«, sagt Leila.
Emre schaut fassungslos zu Leila. »Godland eins?«
»Nicht zweiundvierzig?«, fragt Josie.
Mauro stupst seinen Vater an. »Godland eins? Die erste Serverinsel?«
Doch Emre starrt noch immer Leila an. »Das war doch nur ein Experiment, Jahrzehnte vor den Klimakriegen. Euch gibt es noch?«
Leila lässt Ataras Haare los und geht auf ihn zu. »Wieso sollte es uns nicht mehr geben?«
Sie lässt ihren Blick durch das dunkle Kontrollzentrum wandern. »Was ist geschehen?«
Atara nimmt ihre Hand. »Komm mit auf unser Schiff. Dort erzählen wir euch alles.«
Die Alte nickt langsam. Ohne etwas zu fragen, folgt sie Atara, so als ob sie von der Berührung der langen Haare verzaubert worden wäre. Sie hat begriffen, dass etwas Großes geschehen ist.
»Auch ihr, kommt bitte mit!«, ruft Atara den anderen Alten mit ihren mindestens ebenso alten Waffen zu.
Die Analogen von Godland eins rühren sich nicht, als würden sie auf einen Befehl von Godmother warten.
Leila nickt ihnen zu, und schließlich folgen sie ihr und Atara. Was die Alten brauchen, liegt auf der Hand.
Sie müssen etwas Ordentliches essen.
Sie brauchen frische Kleidung.
Vorher eine Dusche.
Danach Schlaf.
Viel Schlaf.
Aidan folgt Atara und den Alten. Er ist froh, endlich wegzukommen.
»Was ist mit Godland zweiundvierzig?«, fragt Mauro.
»Keine Ahnung«, sagt Josie. »Die gibt es vielleicht längst nicht mehr.«
Sie nimmt ihren Sohn an die Hand, und der lässt es tatsächlich zu. Zusammen mit Emre verlassen sie das Kontrollzentrum.
»Was ist mit dir?«, fragt mich Silver.
»Geht schon mal vor.«
Sie versteht mich und winkt Tian zu sich.
Kaum sind Tian und Silver fort, entdecke ich noch einen anderen Menschen in der Ecke des dunklen Raumes.
»Yolanda?«, fragt die Frau. »Du heißt Yolanda?«
Diese Stimme sticht mir mitten ins Herz.
»Ja«, flüstere ich.
Mehr bekomme ich nicht heraus.
Die Frau kommt langsam auf mich zu. Ihre kurz rasierten Haare sind grau, doch sie ist nicht so alt wie die anderen von Godland eins. Sie ist so alt wie mein Vater.
Und sie ist kein Hologramm, keine junge Schönheit. Sie ist echt. Mit Falten und allem.
Das sage ich ihr natürlich nicht so. Aber sie ist meine Mutter. Sie versteht mich auch ohne Worte.
»Wieso …«, beginne ich und bringe den Satz nicht zu Ende. Weil das einfach nicht sein kann. Sie ist im Unwetter gestorben, auf hoher See.
Meine Mutter zittert, sie weint.
So wie ich.
Endlich fallen wir uns in die Arme.
Loslassen werde ich sie nie wieder.