Silver geht voran, Tian und ich folgen. Wir laufen die Treppen runter an den anderen Decks vorbei. Stufe für Stufe werden die Wände rostiger.

Das liegt am Druck. Je tiefer die Decks, desto kräftiger drückt das Wasser von draußen auf die Metallschicht. Und umso mehr geht kaputt.

Musste ich alles bei Godmother in der Schule lernen. Doch damit ist seit einigen Monaten Schluss. Mit fünfzehn Jahren hört der Unterricht auf, und die Dienstzeit beginnt.

Nur noch ein paar Stufen bis wir ganz unten angekommen sind. Ich hole Tian ein. »Warte mal, geht’s dir gut?«

»Gut?«, fragt Tian.

Er bleibt stehen und lächelt in eine der Deckenkameras. »Mir geht es wirklich phantastisch heute.«

Ich kapiere, wie doof meine Frage war.

Was soll Tian sonst sagen? Er will keinen Ärger mit Godmother. Wenn ich wissen will, wie es ihm wirklich geht, muss ich ihn später fragen. Wenn wir auf dem Freideck sind. Nur dort versagt Godmothers Überwachung.

Die Kameras sind draußen immer nassgespritzt oder

»Auf jeden Fall brauchen wir später frische Luft«, sage ich laut in die Kamera.

Ich will meine dumme Frage – Geht’s dir gut? – wieder wettmachen. Und Tian versteht meine Andeutung. Wir lächeln uns zu. Das darf Godmother ruhig sehen, wir sind doch Freunde.

Silver wartet auf der untersten Etage vor der Schleuse. Hinter dem Panzerglas beginnt das Wartungsdeck.

»Endlich fertig geflirtet?«, fragt Silver.

Ich verdrehe die Augen. Tian ist für mich wie ein Familienmitglied, und das weiß sie. Mehr ist da nicht. Und selbst wenn, wäre das ein Problem für Silver?

Wir drei bleiben Freunde, egal, was kommt.

Silver klopft auf das Panzerglas der Schleuse. »Wie machen wir das gleich da drinnen?«

Tian streckt uns die Hand entgegen, bei der ein Finger fehlt. »Wenn ich ein paar Tipps für das Wartungsdeck geben darf?«

Silver und ich schweigen.

»Wir müssen immer mit Godmother reden. Verstanden? Immer! Sie steuert hier drinnen alles und hört alles. Aber bei dem Dampf und der Hitze funktionieren die Kameras nicht immer.«

»Das ist wirklich ein ernstes Problem«, ergänzt Godmother.

»Ist ja wie auf dem Freideck«, sagt Silver eine Spur zu fröhlich.

Ich würde ihr am liebsten den Mund zuhalten. Godmother soll sich nicht fragen, warum wir so gern Zeit dort oben verbringen.

Tian zeigt uns noch einmal die Hand mit dem fehlenden

Er fixiert erst mich, dann Silver. »Keiner lässt den anderen dabei aus den Augen, und jeder sagt sofort, wenn etwas nicht stimmt.«

Silver und ich schauen uns kurz an. Klingt fast so, als würde er Godmothers Worten im Wartungsdeck nicht trauen. Dabei konnte sie nichts für das, was damals geschehen war. Tian hatte mit Emre eine der mächtigen Pumpen repariert.

»Geschafft«, verkündete Emre.

Da löste sich eine Schraube, und Tian fischte sie mit den Fingern heraus.

Godmother konnte nicht sehen, dass Tians Hand schon wieder in der Pumpe steckte. Emre hatte »geschafft!« gerufen, also schaltete sie die Pumpe wieder ein.

Tians Finger wurde zerquetscht und musste auf unserer winzigen Krankenstation amputiert werden. Er lag in einem der zwei Betten, umgeben von veralteten, medizinischen Geräten.

Mary führte die Amputation durch, sie ist in unserer Gruppe so eine Art Ärztin. Silver half ihr dabei. Sie wurde schon damals von Mary ausgebildet, obwohl sie noch mit mir die Schule besuchte.

»Bitte fangt an!«, sagt Godmother und holt mich aus meinen Gedanken.

Sie hat recht, es wird Zeit, dass Silver, Tian und ich es hinter uns bringen.

Tian verschwindet in der Schleuse zum Wartungsdeck.

»Warte«, sagt Silver.

Sie zieht Tian aus der Schleuse und nimmt seinen Platz ein. »Ich gehe zuerst rein.«

Dann gehe ich.

Ein Blick in die Kamera.

Piep.

Ein Finger auf den Sensor.

Piep.

Die elektromagnetische Abtastung.

Piep.

Die Schleusen verschließen alles luftdicht, damit im Brandfall das Feuer erstickt und sich nicht auf allen Decks ausbreiten kann.

Wir stehen im dunklen Wartungsdeck, nur durch das Panzerglas hinter uns dringt ein wenig Licht vom Treppenhaus.

Ich rieche die öligen Maschinen und höre ihren Lärm. Godmother macht uns ein wenig Licht. Mit den Deckenstrahlern könnte sie alles grell beleuchten, will sie aber nicht, sie will immer ein Vorbild sein. Sie spart Strom.

Eine Leuchtspur am Boden blinkt grün.

»Folgt bitte diesem Weg«, sagt Godmother. »Er führt euch zur Entsalzungsanlage.«

Ich lasse Silver und Tian vorausgehen, versuche, in den dunklen Ecken und Gängen mehr zu erkennen. Ich war während meiner Schulzeit ein paarmal hier.

Wir mussten die Namen der über einhundert verschiedenen Geräte auswendig lernen. Wir erfuhren, wo die Ersatzteile lagern und wie wir manche im Notfall selbst in der Werkstatt herstellen können.

Später übten wir alle möglichen Reparaturen, aber nicht hier unten, sondern im Unterrichtsraum – eine Etage über dem Wartungsdeck. Dazu trugen wir ziemlich abgenutzte VR

»Moment bitte«, sagt Godmother, und ich stoße gegen Tian, der schneller anhält als ich. Er ist übervorsichtig.

Ein Schrank links von uns blinkt grün. »Yolanda, nimm dir eine der Trageleuchten mit.«

Ich suche mir die größte aus und ziehe sie aus der Halterung.

»Silver, du musst das lange Messer einpacken.«

Silver vergleicht die Längen und nimmt sich das größte.

»Tian, du bist ab jetzt mein Auge. Ich sehe im nächsten Abschnitt vieles nur verschwommen.«

»Ja, ich passe auf, Godmother«, sagt Tian.

Das mit der Pumpe damals darf sich nicht wiederholen. Godland braucht unsere Finger.

Wir folgen weiter den grünen Lichtpunkten auf dem Boden. Vor uns schieben sich Tore auf und verschließen sich hinter uns sofort wieder.

Wir gehen von Raum zu Raum, vorbei an riesigen Generatoren. Ich halte mir mit der freien Hand ein Ohr zu, so laut brummen diese Maschinen.

Silver bleibt stehen, der Weg endet vor einer riesigen Luke am Boden. Ich schalte die Trageleuchte ein und lese die Aufschrift ESA-1. Die Abkürzung kenne ich noch aus der Schule, ESA steht für Entsalzungsanlage.

Ich strahle mit der Leuchte nach links und sehe die drei Luken von ESA-2, ESA-3 und ESA-4.

Silver fragt das, was ich denke. »Godmother, funktioniert keine der Anlagen mehr?«

»Da hat früher aber jemand an der falschen Stelle gespart«, flüstert Tian. »Ein Filter für die ganze Insel ist ein Witz.«

»Wie bitte, Tian?«, fragt Godmother. »Ich verstehe dich kaum hier unten bei den vielen Geräuschen.«

Tian spricht lauter. »Da haben wir jetzt ein Problem.«

»Richtig. Doch ihr löst das Problem.« Godmother klingt prächtig gelaunt. Sie hat ja auch keine Finger, die sie dabei verlieren kann. Vermutlich soll es motivierend klingen.

»Bereit?«, fragt Tian.

»Ja«, antworten Silver und ich gleichzeitig.

»Godmother, bitte öffne die Luke«, sagt Tian.

»Geht vorher auf die Seite«, sagt Godmother. »Seid ihr in Sicherheit?«

»Sind wir, Godmother«, schreit Tian. So laut muss er auch wieder nicht sein.

Die Luke quietscht fürchterlich, und ein schwarzes Loch tut sich vor uns auf. Ich strahle mit der Leuchte hinein, und unter uns funkelt Wasser.

Verdammt.

»Wenn wir zum Filter wollen, müssen wir schwimmen«, sage ich.

»Und tauchen«, ergänzt Tian.

Silver fasst unsere Beobachtungen treffend zusammen. »So eine Scheiße.«

Godmother räuspert sich. »Tian, könntest du das Problem bitte etwas differenzierter darstellen?«

Tian kniet sich hin und versucht, im Wasser mehr zu erkennen. »Nicht nur der Filter ist im Eimer.«

»Wir sehen Wasser, es ist etwa so tief wie …« Tian sucht im Raum nach einem Vergleich, irgendetwas, womit er die Tiefe beschreiben könnte. Dabei verstummt er plötzlich. Er reißt den Mund auf und starrt auf eine Stelle direkt über mir.

Ich blicke hoch und sehe die kaputte Kamera. Sie hängt von der Decke.

Ich stupse Silver an, zeige hoch, und wir drei sehen uns an. Die Kamera ist aus der Fassung gerissen, das passiert nicht einfach so. Das hat jemand gemacht.

»Tian, was ist los?«, fragt Godmother. »Wieso redest du nicht weiter?«

Tian konzentriert sich wieder. »Das Wasser ist vielleicht drei Meter tief.«

»Dann ist der Abfluss verstopft«, sagt Godmother. »Wenn der Filter defekt ist, kommt zu viel Dreck und Abfall in die Anlage. Das Problem könnt ihr lösen.«

Ein paar Meter neben uns blinkt eine Kiste grün. Silver holt einen Taucheranzug in ihrer Größe heraus.

»Wieso du?«, frage ich.

Sie schaut mich gereizt an. »Gibt es etwa Freiwillige?«

Silver will ihren Schutzanzug ausziehen und öffnet den Reißverschluss. »Umdrehen!«, sagt sie zu Tian, und der schaut wieder ins Wasser der Entsalzungsanlage.

Kaum hat Silver den Taucheranzug an, helfen wir ihr mit den Flossen, der Brille und der kleinen Sauerstoffflasche. Tian prüft die Ventile und reicht ihr das Mundstück.

Silver klettert in die Anlage, ich leuchte ihr den Weg zum Wasser runter und folge ihr. Ich will so nah wie möglich bei ihr sein, falls sie Hilfe benötigt.

Tian schaut von oben zu und sagt Godmother, was wir machen.

Plötzlich rutsche ich aus, die Leuchte fällt mir aus der Hand und platscht ins Wasser, ich suche Halt mit den Füßen, doch sie gleiten von der glibberigen Stange weg.

Ich greife nach den Leitersprossen, verfehle sie um ein paar Zentimeter.

Schreiend stürze ich an Silver vorbei ins Wasser, direkt neben die Leuchte, die langsam nach unten sinkt. Sie ist wasserdicht, mein Schutzanzug nicht. Ich fühle das kalte Wasser überall.

»Yolanda!«, ruft Silver.

Sie springt ins Wasser und schwimmt mit den Flossen zu mir. »Hast du dich verletzt?«

»Ich bin okay.«

»Was ist passiert?«, fragt Godmother mit besorgter Stimme.

Tian blickt zu mir runter, ich klettere ein paar Sprossen der Leiter hoch und zeige ihm den ausgestreckten Daumen.

»Alles ist okay«, sagt Tian und verzichtet auf Details.

Ich bin froh darüber. Die Sache war peinlich genug, und es ist gut, wenn sie unter uns bleibt.

Silver taucht, das große Messer hält sie in einer Hand. Meine Trageleuchte ist am Boden der Anlage angekommen. Sie strahlt durch das Wasser hoch zu uns.

Silver bleibt an einer Stelle tief unten, vermutlich reinigt sie den Abfluss mit dem Messer. Minuten vergehen, und Tian und ich können nichts machen außer warten.

»Taucht Silver noch?«, fragt Godmother.

Tian betrachtet den Müll, der auf der Wasseroberfläche

Weitere zwei Minuten vergehen. Wieso dauert das so lange? Ich mache mir Sorgen um Silver, Godmother sich offenbar auch. »Welche Sauerstoffflasche trägt sie?«

»Eine rote«, sage ich. Oder war sie braun? Im dreckigen Wasser ist nichts mehr zu erkennen.

»Dann reicht ihr Sauerstoff nur noch für 50 Sekunden«, sagt Godmother.

»Erkennst du was?«, ruft Tian zu mir runter.

Doch ich sehe nur Müll.

»Noch dreißig Sekunden«, sagt Godmother.

»Tian!«, rufe ich.

»Was?«

»Ich tauche zu ihr!«

Seine Antwort verstehe ich schon nicht mehr. Ich hole tief Luft und springe von der Leiter ins Wasser. Nass bin ich ja sowieso schon.

Das Wasser ist dreckig, und ich kann nichts erkennen. Ich tauche noch einmal auf, um Luft zu holen, stoße mich von der Wand ab und tauche wieder zu Silver runter.

Sie entdeckt mich und hämmert mit der Hand auf ihren Fuß. Die Schwimmflosse ist fort, das Bein steckt im Dreck fest. Das Messer liegt am Boden.

Ich habe kaum noch Luft, darf aber nicht noch einmal auftauchen. Silver erstickt hier unten!

Mit beiden Händen versuche ich, ihren Fuß aus dem Dreck zu ziehen. Ihr Bein bewegt sich keinen Zentimeter. Auf einmal bekomme ich ein Netz zu greifen. Ihr Fuß hat sich in einem Netz verfangen!

Da sehe ich zwei Hände am Netz. Sie bewegen sich! Sie reißen und rütteln an Silvers Fuß.

Wie kommen diese Hände hierher? Wer ist das?

Bei einer Hand fehlt ein Finger.

Tian!

Er ist zu uns getaucht.

Gemeinsam ziehen Tian und ich an Silvers Fuß. Beim ersten Ruck tut sich nichts, beim zweiten bewegt sich etwas. Beim dritten platzt das Netz auf. Silver ist frei, und wir schießen zu dritt hoch an die Wasseroberfläche.

Ich hole so tief Luft wie noch nie in meinem Leben. Silver hustet und keucht. Wir halten uns alle an der Leiter fest.

Ich verstehe nicht, was Godmother uns zuruft, die Lautsprecher sind zu weit weg. Tian spuckt den Dreck aus, den er unter Wasser geschluckt hat.

»Silver hat sich verfangen«, rufe ich hoch zu den Mikrophonen von Godmother. »Wir konnten sie retten.«

Während wir drei nach Luft schnappen und uns erholen, rutschen unsere Hände die Leiter runter. Ein gutes Zeichen: Das Wasser sinkt, der Abfluss ist frei!

Nach ein paar Sekunden berühren meine Füße den Boden der Anlage.

»Danke Leute. Das war knapp«, sagt Silver.

Ihre Stimme ist brüchig, doch ich bin froh, sie zu hören. Silver umarmt mich und Tian gleichzeitig. Sie drückt uns an sich, bis ihr die Taucherbrille vom Gesicht rutscht.

Wir warten, bis das ganze Wasser durch den Abfluss geronnen ist, bis nur noch Pfützen übrig bleiben.

Mit Godmothers Hilfe besorgt Tian eine Blechwanne. Er lässt das schwere Ding an einer Seilwinde zu uns runter. »Da müssen wir den Müll reinmachen!«

Ich hebe die Trageleuchte auf. Sie hat keinen Schaden genommen, und ich richte sie auf den verschlammten Boden. Silver und ich sammeln alles ein. Sogar ein kaputter Reifen hat sich im Netz verfangen.

Wir hieven das Ding in die Wanne, und etwas scheppert. Mich interessiert das nicht, Müll ist Müll, und sowieso will ich endlich fertig werden und etwas essen. Der Alarm war mitten in der Nacht. Wir hatten noch kein Frühstück!

Inzwischen knurrt mein Magen so laut, dass es selbst Godmother oben bei Tian hören muss. Okay, ich übertreibe. Aber nur ein bisschen.

Silver beugt sich über die Blechwanne und zieht etwas aus dem Netz. Es ist eine kleine Kiste aus Metall.

Sie grinst über das ganze Gesicht. »Klare Sache. Ein Piratenschatz.«

Dafür, dass sie vor ein paar Minuten fast erstickt wäre, hat sie ziemlich gute Laune.

Ich bin dagegen überhaupt nicht gut drauf und trete auf den schlammigen Boden. »Nur Müll! Müll wie alles hier!«

Tian wirft mir zwei Schaufeln runter. »Kann ich euch helfen?«

Ich winke ab, wir brauchen nicht mehr lange.

Ich hebe Silvers Messer auf, aber sie zieht es mir aus der

Soll sie doch! Das stört mich nicht, den Rest schaffe ich allein. Hauptsache, wir haben das Messer wiedergefunden. Godmother ist sehr wütend, wenn wir etwas kaputt machen oder verlieren. Hoffentlich können wir später die abgebrochene Flosse wieder ankleben.

Der Deckel der Metallkiste springt auf, und ich blicke zu Silver. Neugierig bin ich natürlich schon.

Sie packt ein Marmeladenglas aus.

Ich klopfe ihr auf die Schulter. »Marmelade! Besser als jeder Piratenschatz!«

Das meine ich ernst. Die letzte Marmelade habe ich mir vor vielleicht fünf Jahren auf ein Brot geschmiert. Das ist ein halbes Jahrzehnt! Inzwischen stehen die Gläser leer im Regal der Kantine. Eine kleine Erinnerung an bessere Zeiten.

Silver öffnet vorsichtig den Deckel. In dem Glas ist keine Marmelade, sondern ein Stück Papier.

Verdammt.

Ich schüttele enttäuscht den Kopf, doch Silver ist ganz aufgeregt.

»Komm«, sage ich, »lass uns fertig werden!«

Silver beachtet mit nicht und zieht den Zettel raus.

Für mich ist das Kinderkram. Da hat sich jemand vor langer Zeit einen Scherz erlaubt. Schön, die hatten früher ihren Spaß. Von wegen geheimnisvolle Schatzsuche und so. Es sei ihnen gegönnt. Aber was hab ich davon?

Der Filter muss auch noch gereinigt werden! Abfluss und Filter – so lautet der Auftrag von Godmother. Wir sind erst mit dem Abfluss fertig.

Sie entfaltet das Papier und liest, was darauf steht.

Plötzlich verschwindet ihr Grinsen.