»Ihr müsst euch wärmer anziehen«, fordert Godmother, »es ist kalt draußen.«

Auch wenn die Kameras und Mikrophone dort kaum etwas taugen, die Messgeräte funktionieren natürlich. Godmother weiß, wie stark der Wind weht, aus welcher Richtung er kommt. Sie kennt die Temperatur, den Luftdruck und die Luftfeuchtigkeit.

Wir holen dicke Schutzjacken und Mützen aus unseren Kojen. Godmother braucht uns gesund.

Zwei Minuten später gehen wir durch die Schleuse auf das Freideck. Endlich!

Draußen zieht ein eisiger Wind über das Deck. Er treibt mir Tränen in die Augen.

Die Sonne steht dicht über dem Horizont und schimmert auf den Wellen. Es ist noch nicht lange hell.

Ich blicke hoch zum riesigen Windrad weit über uns. Die Rotorblätter drehen sich verrückt schnell mit einem tiefen Brummen.

Wumm. Wumm. Wumm.

Eine riesige Welle klatscht auf einen der leeren Container,

»Verdammt!«, brüllt Tian.

»Zwischen den Solarzellen ist es besser«, sagt Silver und läuft los.

Wir folgen ihr und setzen uns in eine Mulde zwischen den fünf Meter hohen Aufbauten. Hier ist es windstill und trocken. Wir rücken eng zusammen, sonst versteht keiner etwas. Der Lärm von den Wellen und dem Windrad ist überall.

»Kennt eine von euch Zoe gut?«, fragt Tian.

Ich wundere mich über seine Frage. Will er nicht wissen, was es mit der Botschaft auf sich hat?

»Hab Zoe kaum gesehen«, sage ich.

»Ich schon«, sagt Silver. »Sie besucht uns oft im Labor. Und du?«

Tian wischt sich das Wellenwasser aus dem Gesicht und lehnt sich gegen eine der Stützen der Solarzelle. Er hält seine Hand mit den vier Fingern hoch. »Sie hat mir damals die Fäden gezogen.«

»Stimmt«, sagt Silver. »Mary war krank.«

Tian nickt. »Wie alt ist Zoe?«

»So um die siebzig«, sagt Silver. »Neunzehn Jahre Dienstzeit.«

»Wieso hat sie ein Jahr Verkürzung bekommen?« Ich höre selbst den Neid in meiner Stimme. Das ist mir natürlich peinlich. Zoe ist eine alte Frau. Sie hat es verdient, endlich godline zu gehen.

»Zoe arbeitet so hart wie Mary«, sagt Silver. Sie hat meinen Neid bemerkt und ärgert sich über mich. »Diese alte Frau hat jede Verkürzung verdient!«

»Das ist erst unsere zweite Zeremonie«, sagt Tian.

»Wie hieß der Typ von der ersten noch mal?«, fragt Silver.

Keinem von uns fällt der Name ein. Es war die Zeit, in der noch Schiffe kamen. Da gab es mehr Abwechslung, die Zeremonie war zwar ein Ereignis, aber eben eines von vielen.

Tian beugt sich zu uns vor. Silver und ich rücken näher.

»Auf dem Wartungsdeck. Was war da los? Was habt ihr entdeckt?«

Ich dachte schon, er interessiert sich überhaupt nicht mehr dafür!

»Da war eine kleine Kiste«, fängt Silver an, »und darin lag ein Zettel …«

»… im Marmeladenglas …«, ergänze ich, als ob das eine Rolle spielen würde.

Tian streckt die Hand aus. »Zeigt mal den Zettel!«

Silver schüttelt den Kopf.

»Was?«, fragt Tian und zieht die Hand zurück.

Silver zeigt auf mich. »Den hat sie leider gegessen.«

Tian schaut mich sprachlos an.

Ich ziehe die Schultern hoch. »Fand ich sicherer. Godmother sieht doch unten alles. Den Zettel hätte sie vielleicht entdeckt.«

»Schon gut«, sagt Tian und schaut zu Silver. »Und was stand drauf?«

»Godland ist ein Fake. Seid bereit«, sagt sie.

Tian schaut uns ernst an und schweigt. Hat der keine Meinung dazu? Ist er verunsichert? Weiß er nicht, wie er darauf reagieren soll? Oder ahnt er mehr als wir? Ist die Botschaft etwa keine Überraschung für ihn?

Jetzt sind es Silver und ich, die schweigen.

Tian lacht auf, aber es klingt irgendwie gespielt. »Deswegen das ganze Theater hier?«

Er spricht wie einer der Alten. Das ganze Theater … Nur Conrad und Mary waren überhaupt schon einmal in einem Theater. Wir Jungen verwenden diese Redewendungen einfach so, wir plappern ihnen nach.

»Was für ein Theater?«, fragt Silver.

»Das geheime Gespräch auf dem Freideck.« Tian steht auf, will gehen. »Mit dem Zettel können wir doch überhaupt nichts anfangen!«

Ich halte ihn am Hosenbein fest. »Warte! Wir müssen zumindest mal darüber reden!«

Tian schüttelt meine Hand vom Stoff. »Über was denn? Da stand nur Godland ist ein Fake.«

»Genau.«

»Das ist kein Geheimnis«, sagt Tian. »Godland ist eine Computersimulation. Natürlich ist Godland nicht echt. Das wissen wir doch alle, und trotzdem wollen wir dorthin. Weil es hier einfach nur Scheiße ist und …«

»Warte!«, unterbricht ihn Silver. »Das kann auch anders gemeint sein.«

»Aha, wie denn?«, fragt Tian gereizt.

»Godland ist ein Fake kann auch bedeuten: Es gibt diese Simulation gar nicht!«

Tian blickt Silver fassungslos an und setzt sich endlich wieder zu uns. »Du meinst, wir müssen zwanzig Jahre für nichts

»Nein. Nicht ich meine das! Aber vielleicht die Person, die diesen Zettel geschrieben hat.«

Tian beruhigt sich wieder. Er kapiert offenbar, was Silver ihm sagen will. Sie will diesen Zettel nur richtig deuten. Sie will die Worte verstehen. Und natürlich glaubt sie nicht an das, was da behauptet wird.

Tian zieht seine Mütze ab und stopft sie in eine der mindestens zehn Taschen seiner Schutzjacke. Offenbar ist ihm bei der Diskussion warm geworden. »Und was soll das mit diesem Seid bereit

Ich schüttele den Kopf. Keine Ahnung.

Silver versucht es. »Wir sollen glauben, Godland existiert nicht. Okay. Und dann kommen die …«

»… wer immer die sind …«, wirft Tian ein.

»… und holen uns vielleicht ab«, macht Silver weiter.

»Wohin auch immer«, sage ich. »Vielleicht auf eine andere Serverinsel.«

»Sind ja tolle Aussichten«, sagt Tian. »Halten die sich für unsere Retter oder was?«

»Vielleicht eine Sekte«, sage ich. »In den Jahren vor der Evakuierung wimmelte es nur so von solchen Gruppen.«

»Sagt wer?«

»Hat mir mein Vater erzählt. Diese Leute sprachen vom Jüngsten Tag, behaupteten, die Klimakriege seien ein Zeichen Gottes. Für meinen Vater waren das nur Ausreden.«

»Was für Ausreden?«, fragt Tian, vermutlich nur, um zu diskutieren. Weil so schwer zu verstehen ist es ja nicht wirklich.

»Weil das Chaos nichts mit Gott zu tun hat …«

»Ist ja jetzt egal. Also, es war menschliches Versagen über Jahrzehnte hinweg.«

Silver nickt etwas zu eifrig. »Zu viel Konsum, zu viel Verschmutzung, zu viel Ich – zu wenig Wir.«

Tian und ich starren Silver an.

»Das ist nicht von mir, das ist von Mary.«

»Schon gut.« Tian steht schon wieder auf.

Wieso kann er nicht einfach mal zwei Minuten sitzen bleiben?

»Egal, ob Sekte oder nicht«, sagt er, »die Sache geht uns nichts an.«

Ich versuche ihn wieder am Bein zu fassen, doch er macht einen Schritt zurück. Also stehe ich auf. »Was? Uns geht das nichts an? Wen denn sonst bitte?«

Tian zieht die Schultern hoch. »Godmother vielleicht?«

»Gut. Dann rede ich eben mit ihr darüber!«

Silver zieht mich wieder zu sich runter. »Bist du verrückt? Das mit dem Zettel hätten wir ihr gleich sagen müssen! Auf dem Wartungsdeck, in der Anlage. Oder beim Frühstück. Aber nicht erst jetzt. Sonst weiß sie doch, was wir hier oben machen. Was frische Luft für uns bedeutet.«

»Das ahnt sie sowieso schon«, sagt Tian.

Sie haben natürlich recht, wir müssen vorsichtig sein.

Tian schaut durch einen Spalt zwischen den Solarzellen in den Himmel. »Wir müssen das mit dem Zettel für uns behalten. Sonst gibt es Ärger.«

»Sehe ich auch so«, sagt Silver und schaut mich an. »Yolanda?«

Und noch etwas finde ich daran gut: Silver, Tian und ich treffen gemeinsam eine Entscheidung. Es fühlt sich wieder an wie früher. Als Tian noch nicht in mich verknallt war und Silver deswegen auch nicht eifersüchtig.

»Okay«, sage ich. »Wir werden Godmother nichts sagen. Die Botschaft ist vielleicht schon zehn Jahre alt, sie kann ewig im Ozean herumgetrieben sein.«

Die beiden anderen überlegen. Silver nickt langsam. Tian löst endlich den Blick vom Himmel und schaut mich an. »Aber was denken wir wirklich darüber?«

Ich verstehe ihn nicht richtig, und er merkt das. »Godland soll ein Fake sein. Und wenn sie doch recht haben und es wirklich so ist?«, erklärt er.

»Quatsch«, sage ich. »Wir sehen ja, dass es Godland gibt.«

»Tun wir das wirklich?«, fragt Tian. »Wie denn?«

Gute Frage.

Wir sehen Godland natürlich nicht. Aber Godmother steuert alles. Wieso sollte sie uns anlügen? Was hätte sie davon?

»Wieso bist du auf einmal so kritisch?«, fragt Silver.

Tian winkt ab, gähnt übertrieben laut und zeigt zur Schleuse. »Ich muss ein paar Stunden Schlaf nachholen.«

»Danke für die Antwort«, spottet Silver.

Aber ich verstehe Tian auch. Wir sind alle erschöpft von unserem Einsatz heute Nacht.

»Wir sehen uns zum Mittagessen«, sagt Tian und verschwindet in der Schleuse.

»Etwas, was Tian nicht wissen darf?«

»Na ja, es geht um euch beide.«

Silver schaut mich mit großen Augen an.

»Godmother hat Tian gesagt, was du für ihn empfindest.«

Silver sieht nicht sehr überrascht aus. Keiner kann seine Gefühle vor Godmother verstecken. Sie beobachtet uns ja rund um die Uhr.

»Diese Drecksmaschine«, sagt Silver.

»Sie wollte Tian nur aufmuntern, weil ich ihn …«

Hinter Silvers Schultern bewegt sich etwas, und ich verstumme. Silver folgt meinem Blick und dreht sich um.

Weit entfernt, am Rand des Freidecks, steht jemand. Eine Welle bricht an der Metallkante und zieht die Person fast mit sich in den Ozean. Sie ist viel zu nah am Rand!

An der Stelle dürfen wir uns nur mit einer Sicherung aufhalten. Und dieser Mensch trägt keine der dicken Halterungen mit Seil. Zumindest kann ich von hier nichts erkennen.

»Das ist Mary«, sagt Silver.

Mary nähert sich noch einen Schritt dem Rand, und ich renne los.

Silver folgt mir.

»Stopp!«, schreie ich.

Mary hört nicht auf uns. Wenn sie noch einen Schritt macht, stürzt sie in den Ozean.

»Mary!«, ruft Silver. »Nein!«

Silver erreicht sie zuerst, packt sie an der Jacke und zieht Mary zu sich. Beide landen auf dem nassen Boden. Der Abgrund zum Pazifik ist keinen Meter entfernt.

Sie will sich von Silvers Griff befreien und tritt um sich. Ich packe ihre Beine und presse sie auf den Boden. Selbst wenn ihr das wehtut, besser als im Pazifik zu ertrinken ist es.

Bestimmt eine Minute geschieht nichts.

Mary hört endlich auf, sich zu wehren.

Sie weint, und Silver umarmt sie. Sie spricht leise mit der alten Frau. Alles bekomme ich nicht mit, doch die paar Worte reichen mir.

»Willst du mich im Stich lassen?«, fragt Silver und weint inzwischen genauso wie Mary.

Ich weiß, wie sie das meint.

Mary bedeutet Silver sehr viel. Sie kam wie Tian ohne Mutter und Vater auf der Serverinsel an. Tians Eltern waren bereits in den Klimakriegen gestorben. Silvers Eltern haben es nicht rechtzeitig bis zur Küste geschafft. Sie kamen zu spät zur Evakuierung. Silver verbrachte die Nächte bei einer Tante, die sie zu den letzten Schiffen brachte.

Schon zu Schulzeiten besuchte Silver die alte Mary jeden Tag im Labor. Mary war keine Mutter für sie, aber so etwas wie eine Ersatz-Oma. Deswegen durfte sie später bei Mary in die Lehre gehen. Godmother ließ die beiden sehr viel Zeit miteinander verbringen.

Godmother weiß, was gut für uns ist.

Kaum denke ich über diesen Satz nach, bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Vielleicht sollte ich Godmother doch von dem Zettel erzählen? Wieso muss ich sie anlügen?

Andererseits sehe ich auch keine richtige Gefahr. Selbst wenn es so etwas wie eine Sekte gäbe, was soll passieren? Ein paar Verrückte haben eine Botschaft geschrieben, mehr nicht.

»Wieso wolltest du springen?«, frage ich, und Silver straft mich mit bösen Blicken.

Sie will Mary in Ruhe lassen.

Das verstehe ich. Aber wir müssen wissen, was mit ihr los ist. Sonst steht sie morgen wieder hier am Rand. Den Sprung in die Tiefe würde sie überleben. Doch bei dem Seegang wäre selbst eine gute Schwimmerin nach wenigen Minuten tot.

»Silver«, sage ich, »wir müssen erst mal weg von hier.«

Sie nickt mir zu, wir ziehen Mary hoch, nehmen sie in unsere Mitte und gehen zur Anlage mit den Solarzellen zurück.

Wir setzen uns wieder in die windstille Mulde.

Ich bilde mir ein, dass der Platz noch warm ist von vorher, als wir mit Tian hier saßen. Doch das ist Quatsch. So lange keine Sonne auf diesen Stahlboden scheint, bleibt er eiskalt.

Silver streicht Mary über das Gesicht. »Ist es wegen Zoe? Wegen der Zeremonie morgen? Ihrem Upload? Fällt dir der Abschied so schwer?«

Mary starrt auf den Boden und zittert. Ich ziehe meine Schutzjacke aus und lege sie ihr über die Schultern. Silver streift ihre Jacke ab, und wir finden zu zweit etwas Wärme darunter.

So sitzen wir zu dritt minutenlang und schweigen. Der Ozean rauscht, und das Windrad donnert über uns hinweg.

Wumm. Wumm. Wumm.

Silver rutscht etwas näher zu Mary und ich rutsche mit, sonst klappt das mit der geteilten Schutzjacke nicht mehr. Und krank werden will ich nicht.

»Mary, wie viele Dienstjahre hast du noch?«, fragt Silver. »Nur noch zwei, oder?«

»Du bist doch bald selbst in Godland«, sagt Silver. »Du hast es bald geschafft!«

Ich versuche auch noch ein paar Sätze. Aber Mary reagiert nicht, egal was wir sagen.

Silver schaut mich ratlos an. Sie ist am Ende mit ihren Ideen. Ich habe noch eine.

Und so erzähle ich Mary von meiner Mutter, wie sie auf der Flucht hierher gestorben ist. Ich spreche nicht oft davon.

Ein gewaltiger Sturm riss meine Familie auseinander. Genau das ist der Grund, wieso sich mein Vater nicht auf Godland freuen kann.

Dad weiß, er wird seine große Liebe nie wiedersehen. Meine Mutter kam nie auf der Serverinsel an. Sie kann Godland nicht zwanzig Jahre lang dienen, um hochgeladen zu werden. Wenn mein Vater irgendwann zur Himmelspforte darf, kann er nur seine Erinnerungen nach Godland mitnehmen, aber nicht meine Mutter.

Ich streichle Marys Hände, die noch immer auf ihrem Gesicht ruhen. »Deswegen nennt mein Vater die Himmelspforte das Tor zur Hölle. Er kann sich nicht auf Godland freuen. Nicht ohne meine Mutter.«

Silver findet meine Idee offenbar gut, sie kapiert, worauf ich hinauswill, und macht weiter. »Mary, du gehst zusammen mit Conrad! Du wirst ewig mit deinem Mann godline sein.«

Vielleicht begreift Mary so langsam, was ihr Sprung bedeutet hätte. Sie wäre wie mein Vater für immer von ihrer Liebe getrennt worden.

Will sie diese Trennung etwa? Will sie gar nicht mehr mit Conrad zusammen sein? Doch sie kann ja ohne ihn godline gehen. Mary könnte sich dort ihren Traumpartner selbst erschaffen.

Inzwischen zittert sie am ganzen Körper.

»Lass uns ins Warme«, sagt Silver.

Mary blickt an uns vorbei zum Rand der Serverinsel. Sie schaut zu der Stelle, von wo wir sie gerettet haben.

Sie spricht leise und mit brüchiger Stimme.

»Zoe …«, fängt sie an und sucht nach Worten. Der Satz dauert ewig.

Ich bin so froh, dass sie endlich mit uns spricht. Bis ich begreife, was Mary eben gesagt hat.

»Zoe ist vor mir gesprungen.«