Silver bleibt bei Mary. Ich renne zum Rand.

»Die Sicherung!«, ruft Silver mir zu.

Stimmt, natürlich!

Ich hole mir aus dem Notfallkasten neben der Schleuse eine Weste, knipse eines der Seile daran fest. Endlich laufe ich zu der Stelle, an der Mary stand.

Doch der Wind ist zu stark!

Ich lege mich einen Meter vor dem Abgrund hin. Sicher ist sicher. Auf dem Bauch rutsche ich nach vorn, bis mein Kopf über das Freideck reicht. Ich schaue in die Tiefe und suche nach Zoe. Die Wellen da unten sind riesig. Das Wasser klatscht gegen die Inselwand aus Stahl.

Ich schreie ihren Namen gegen das Ozeanrauschen.

»Zoe!«

Nichts.

Ich sehe nur Wasser.

Kurz blitzt es rot unter mir auf, etwas treibt zwischen den Wellen.

»Zoe!«

Ich richte mich auf, laufe zum Notfallkasten neben der

Silver ruft mir zu: »Hast du sie gefunden?«

Sie hält Mary fest umklammert.

»Ja!«, schreie ich zurück. »Hab sie!«

Vielleicht muss Silver mir doch gleich helfen. Hochziehen kann ich Zoe nicht allein.

Aber so weit bin ich noch nicht. Ich lege mich wieder an den Rand, rutsche auf dem Bauch bis zur Kante.

Den Rettungsring halte ich fest umklammert. Ich muss gleich gut zielen, sonst treibt er ab, und Zoe bekommt ihn nicht zu fassen.

Aber wo ist sie jetzt?

»Zoe!«

Inzwischen strahlt die Morgensonne kräftig auf den Ozean. Ich schirme mit einer Hand die Augen ab, das grelle Licht tut trotzdem weh. Ich finde Zoe nicht mehr und schreie ihren Namen, bis mir der Hals wehtut.

»Zoe! Zoe! Zoe!«

Da funkelt es wieder rot zwischen den Wellen, bestimmt zehn Meter entfernt. Die Strömung hat sie fortgetrieben. Ob ich so weit werfen kann? Bestimmt nicht im Liegen!

Ich stehe vorsichtig auf, um mehr Schwung zu holen. Der Rettungsring fliegt zu Zoe und klatscht neben ihr ins Wasser. Mein Wurf war gut.

Sie muss sich nur daran festhalten, dann werde ich Silver rufen und mit ihr Zoe hochziehen.

Zoe greift nicht nach dem Ring.

Sie will nicht gerettet werden, sie macht ernst. Am Tag vor der Zeremonie! Was ist nur los mit ihr?

Da schiebt sich eine gewaltige Wolke vor die Sonne, und ich muss meine Augen nicht mehr mit der Hand abschirmen. Ich wische mir das Gesicht trocken.

Endlich kann ich wieder klar sehen.

Schreien muss ich nicht mehr. Das hat sich erledigt.

Was da unten zwischen den Wellen rot funkelt, das ist nicht Zoe. Es ist eine riesige rote Plastiktüte.

Sie treibt wie eine Qualle im Wasser. Ich drehe mich zu Silver, die Mary noch immer umarmt.

Mein verzweifelter Blick erklärt alles. Silver presst die Lippen zusammen und nickt langsam.

Auf dem Weg zur Schleuse spricht keiner von uns. Wir werden Godmother die Wahrheit sagen. Mary will das so. Eine Verlängerung der Dienstzeit ist ihr total egal, das habe ich begriffen. Sie freut sich nicht auf Godland. Ihr bedeutet das offenbar nichts.

So wenig wie Zoe.

Und meinem Vater.

Ich gehe zuerst durch die Schleuse.

Finger, Augen, Körperscan, und ich bin im Treppenhaus. Hier ist es im Vergleich zum Freideck angenehm warm. Ich ziehe mir die Mütze vom Kopf, meine Schutzjacke trägt noch Mary.

Was dauert da so lange? Erzählt Mary etwa jetzt schon alles Godmother? Aber wieso in der Schleuse? Sie ist doch noch total fertig.

Endlich öffnet sich die Schleuse, und Mary steht vor mir. Silver folgt umgehend.

»Mary!«, sagt Silver. »Wir wollten doch zusammen mit Godmother …«

Sie wird von Godmother unterbrochen. »Ich habe Mary in der Schleuse gefragt, wieso sie so traurig aussieht. Sie hat mir alles erzählt.«

Mary schluchzt, und Silver und ich nehmen sie in unsere Mitte.

»Es ist meine Schuld. Ich habe nicht geahnt, was geschehen würde«, sagt Godmother. »Eigentlich wollte Zoe mit Mary über die Zeremonie sprechen, über die Abschlussrede.«

Mary bekommt wieder kein Wort raus. Ich will nur noch in meine Koje und ein paar Stunden allein sein. Silver will bestimmt bei Mary bleiben.

»Ich bin sehr traurig«, sagt Godmother. »Das war ein tragischer Unfall. Zoe stand so kurz vor dem großen Neuanfang in Godland.«

Ich schaue irritiert zu Mary.

Was hat sie Godmother in der Schleuse erzählt?

Auch Silver kann ihre Verwunderung nicht verbergen und wiederholt das entscheidende Wort. »Unfall?«

»Ja, ein Unfall«, sagt Godmother. »Die Wahrheit würde die anderen Analogen verstören.«

»Verstören?«, frage ich.

Godmother sieht meine Zweifel. Wir sind nicht mehr auf dem Freideck. Ihren Kameraaugen entgeht hier drinnen nichts.

»Yolanda, viele werden sehr traurig sein. Und das kann zu falschen Reaktionen führen.«

Mary schaut betroffen auf den Boden, Silver hält ihre Hand fest umschlossen.

Ich muss schlucken.

»Willst du solche schlimmen Dinge nicht in Zukunft verhindern?«, fragt Godmother.

»Natürlich, aber wenn wir mit allen darüber reden und …«

Godmother unterbricht mich. »Das war ein tragischer Unfall. Zoe stand so kurz vor dem großen Neuanfang in Godland.«

Ich hasse es, wenn Godmother dummer Computer spielt. Doch ich begreife natürlich, was diese Wiederholung bedeutet: Kein Argument von uns wird sie umstimmen.

Das war ein tragischer Unfall. Zoe stand so kurz vor dem großen Neuanfang in Godland.

»Wir müssen uns ausruhen«, sagt Silver und zieht Mary mit sich.

Wir gehen langsam die Stufen zu unserem Deck nach unten. Keiner macht den Mund auf, jeder ist in Gedanken versunken. Und denken kann man auf der Serverinsel, was man will.

Wir Analogen sind nicht mit Godland verbunden. Erst nach dem Upload sind unsere Gedanken digitalisiert. Dann weiß Godmother natürlich, was in uns vorgeht.

Dort ist das okay für mich. Da darf sie alles über mich wissen. Wenn ich in Godland bin, werde ich keine Geheimnisse mehr

Und es gibt niemanden, den ich davon abhalten muss, in den Ozean zu springen. Auf so eine Idee kommt dort keiner.

In Godland ist alles perfekt. Wirklich alles.

Auch wir Menschen sind es.

Aber mein Weg dorthin ist noch lang. Und bis dahin werde ich noch viele Dinge denken, von denen Godmother lieber nichts erfährt. Jetzt zum Beispiel, da ärgere ich mich über Godmothers Verhalten.

Obwohl Zoe absichtlich gesprungen ist, müssen wir von einem Unfall sprechen. Die Wahrheit kennen nur Mary, Silver und ich.

Godmother hat eine Lüge erfunden. Und wir werden sie verbreiten.

Wenn Godmother heute lügt, hat sie es früher auch schon getan? Und wenn ja, wie oft?

Wer musste vor uns schon Godmothers Lügen erzählen?

Bevor wir unser Deck erreichen, meldet sich Godmother noch einmal. »Silver bleibt heute den ganzen Tag bei Mary.«

»Sehr gern«, sagt Silver, und ich bin froh, dass jemand auf Mary aufpasst.

»Ich werde morgen allen von dem Unfall erzählen«, sagt Godmother.

Silver schüttelt wütend den Kopf. »Wieso warten wir damit einen ganzen Tag?«

Godmother bleibt die Ruhe selbst. »Ich muss noch wichtige Dinge vorbereiten.«