Meine Nacht war schrecklich. Ich habe wirre Sachen geträumt und bin ständig aufgewacht. Total verpennt sitze ich am Tisch in der Kantine. Was immer Godmother vorbereiten musste, ich werde es heute erfahren. Und ich werde hören, wie sie allen von Zoes gestrigem Unfall erzählt.

Ich zittere vor Aufregung, der Schlafmangel vielleicht.

Silver sitzt neben mir. Ich spüre ihren Arm, sie drückt ihn leicht gegen meinen. Das ist unsere für Kameraaugen unsichtbare Geheimsprache. Na ja, es ist kein Code oder so. Aber die Berührung bedeutet so viel wie: Wir stehen das zusammen durch.

Sachte drücke ich meinen Arm an ihren.

Ich starre auf die Platte mit Trockenfisch und meinen dampfenden Kaffeebecher. Doch weder Silver noch ich rühren etwas an. Mary sitzt uns gegenüber, und ihr geht es genauso. Sie bekommt keinen Bissen herunter.

Alle anderen haben Appetit wie immer.

Das einzige Thema am Tisch ist die abendliche Zeremonie.

»Wenn das mein Upload wäre, ich könnte wochenlang davor nicht schlafen«, sagt Mauro.

»Dann würdest du verhungern«, entgegnet Mauro.

»Ohne Schlaf stirbst du auch.«

Das geht minutenlang hin und her zwischen den Brüdern.

Alle sind aufgeregt – bis auf Silver, Mary und mich. Wir wissen als Einzige, dass die Zeremonie nicht stattfinden kann. Denn Zoe hatte einen Unfall – sie ist tot.

Wiiiiieeeeep. Wiiiiieeeeep. Wiiiiieeeeep.

Mary zuckt zusammen und stöhnt auf. Sie tut mir leid, sie bräuchte einen ruhigen Tag. Doch der Alarm bedeutet das Gegenteil davon: Wir müssen alle sofort zur Meldestelle.

Wiiiiieeeeep. Wiiiiieeeeep. Wiiiiieeeeep.

Auf dem Weg zur Schleuse blicke ich noch einmal zum Tisch. Ich hätte zumindest ein Stück Fisch essen sollen, mein Magen knurrt.

Nacheinander treten Silver und ich durch die Schleuse. Die Turnhalle füllt sich, und ich stupse Silver an. »Schau mal!«

»Kann nicht sein«, sagt sie. »Deck B kommt auch.«

Wenn der Alarm für beide Decks gilt, ist etwas so richtig kaputtgegangen. Nicht bloß ein Filter in der Entsalzungsanlage. Vielleicht ist irgendwo ein riesiges Leck?

Erst als ich Mary neben Conrad entdecke, ahne ich, was gleich kommt: Godmother will uns allen von Zoes Unfall erzählen.

Mary muss dasselbe denken. Sie vermeidet es, in unsere Richtung zu sehen, und starrt auf den Hallenboden.

Wiiiiieeeeep. Wiiiiieeeeep. Wiiiiieeeeep.

Mauro und Aidan stellen sich genervt neben uns. Tian kommt und quetscht sich zwischen sie. Neben mir wäre noch Platz gewesen.

Ich kenne keinen von denen richtig. Wir sehen uns ja so gut wie nie.

Endlich hört der Alarm auf.

»Vier Minuten!«, verkündet Godmother. »Gut gemacht. Eure Dienstzeit verkürzt sich um drei Tage.«

»Danke«, sagen manche von uns.

Andere nicken nur. Ich tue nichts von beidem. Godmother stellt uns frei, wie wir auf solche Nachrichten reagieren.

»Ich muss euch leider etwas sehr Trauriges mitteilen«, sagt Godmother.

Mary blickt kurz zu Silver und mir.

Keiner rührt sich, nur Dads schweres Schnaufen ist zu hören.

Endlich spricht Godmother weiter. »Zoes Leben ist ausgelöscht.«

Ausgelöscht.

So nennen wir es auf der Serverinsel, wenn Analoge vor dem Upload sterben. Das kommt nicht oft vor.

Vor drei Jahren erkrankte ein Mann auf Deck B sehr schwer. Er hatte noch eine lange Dienstzeit vor sich und durfte sich nicht hochladen. Godmother wollte keine Ausnahme machen. Es wäre ungerecht, wenn Kranke früher nach Godland dürften.

»Wer will dann noch gesund sein?«, hat sie uns damals gefragt.

Ausgelöscht.

Das heißt, endgültig nicht mehr da zu sein, nicht mehr zu leben – weder auf der Serverinsel noch in der digitalen Ewigkeit von Godland. Einfach im schwarzen Nichts zu verschwinden.

Es ist noch drei, vier Sekunden still in der Trainingshalle. Dann reden alle gleichzeitig. Godmother lässt es zu und unterbricht niemanden. Sie ruft kein »Stopp« oder »Ruhe!«, sie droht nicht mit Strafen.

Das erlebe ich zum ersten Mal.

Sie hat die besondere Situation für uns erkannt.

Ein Mann von Deck B fällt in Ohnmacht. Vielleicht ein enger Freund von Zoe? Sofort eilen drei Leute zu Hilfe.

Zoes Deck muss sich gestern gefragt haben, wo sie den ganzen Tag steckte. Wer weiß, welche Geschichten ihnen Godmother erzählt hat.

Conrad hält Mary eng umschlungen. Er kann nicht ahnen, was nur sie, Silver und ich wissen: dass Mary fast wie Zoe gesprungen wäre. Beinahe hätte Mary auch einen Unfall gehabt.

Oder hat sie ihrem Conrad gestern etwas gesagt? Hat Godmother das geduldet?

Anmerken kann ich den beiden nichts. Conrad lehnt seinen Kopf an Marys und hat die Augen geschlossen.

Endlich wird es wieder ruhig im Raum.

Alle wollen wissen, was geschehen ist. Doch zuerst müssen wir schweigen, so sind die Regeln. Das wissen wir.

»Das war ein tragischer Unfall«, sagt Godmother. »Zoe stand so kurz vor dem großen Neuanfang in Godland.«

Silver, Mary und ich kennen diese zwei Sätze noch von gestern. So schnell vergisst man keine Lügen.

Ein Mann in Dads Alter von Deck B tritt einen Schritt vor. »Godmother.«

»Ja, Mirco?«

Was erhofft er sich von dieser Frage? Godmother wird ihre Aussage wiederholen. Das war ein tragischer Unfall. Zoe stand so kurz vor dem großen Neuanfang in Godland.

Darauf hätte ich alles gewettet. Gut, dass ich es nicht getan habe.

»Zoe war gestern auf dem Freideck«, fängt Godmother an. »Sie hatte sich dort mit Mary von Deck A getroffen. Ihr alle wisst, sie haben zusammen in den Laboren und Krankenstationen gearbeitet. Sie waren Freundinnen. Zoe und Mary wollten vor der Zeremonie in Ruhe miteinander reden. Mary sollte die feierliche Upload-Rede halten. Das war der große Wunsch von Zoe. Deswegen ermöglichte ich beiden ein Treffen auf dem Freideck.«

Marys Schluchzen ist in der ganzen Halle zu hören.

Auch mir kommen Tränen, ich wische sie mit der Handfläche weg. Ich spüre die Wärme von Silvers Arm, und das tut gut.

Godmother wechselt die Stimmlage. Sie klingt nicht mehr so weich und warm, sondern etwas strenger. »Aber Zoe ist zu nahe an den Rand getreten. Sie war nicht wie vorgeschrieben gesichert. Zu groß war ihre Aufregung vor dem lang ersehnten Neuanfang in Godland. Der Boden war nass. Sie rutschte aus und fiel in die Tiefe.«

Godmothers Unfallbericht hat einen Haken. Mir fällt das sofort auf. Und den anderen?

Es stellt sich doch die Frage, woher Godmother das alles so genau weiß? Sie hat weder gut funktionierende Augen noch Ohren auf dem Freideck.

Hat sie jetzt so einen gewaltigen Fehler gemacht?

Das wäre ihr erster.

Ihre Augen und Ohren waren nicht die Kameras und Mikrophone auf dem Freideck, sondern Silver und ich.

»Silver und Yolanda haben mir alles ausführlich geschildert. Sie hörten Marys verzweifelte Hilferufe. Yolanda versuchte, mit der korrekten Absicherung und einem Rettungsring zu helfen. Doch Zoe ist bei dem hohen Seegang ertrunken. Sie war nach wenigen Sekunden ausgelöscht.«

Godmother beendet ihren Bericht. Ich weiß nicht, wer diese Geschichte glaubhaft findet. Und ich werde es auch nicht erfahren, zumindest nicht in der Trainingshalle. Nirgends auf der Serverinsel gibt es mehr Kameras als hier.

»Wieso erfahren wir vom Unfall erst jetzt?«, fragt Emre vorwurfsvoll. Er schaut nicht in eine Kamera, sondern zu Silver und mir.

Bevor wir etwas sagen können, antwortet Godmother: »Die beiden standen unter Schock. Ich musste sie erst behandeln. Und ich musste viele Vorkehrungen treffen.«

Emre ist noch immer aufgebracht. »Was denn für Vorkehrungen?«

»Das erzähle ich dir gleich im Kontrollzentrum.«

Dad will etwas sagen, auch eine Analoge von Deck B räuspert sich.

»Godmother«, sagen beide gleichzeitig.

Doch Godmother ignoriert sie.

»Conrad!«, ruft sie stattdessen.

Marys Mann tritt vor. »Ja, Godmother.«

»Du bist ab jetzt noch öfter an Marys Seite. Auch wenn du Küchendienst hast. Ihr bleibt zusammen. Immer.«

»Mary darf nach diesem tragischen Unfall und in dieser für sie besonders schweren Zeit nicht allein sein.«

Ich sehe mindestens zehn Köpfe, die zustimmend nicken. Viele scheinen Godmothers Weisheit zu bewundern. Doch von mir hat sie ein paar fette Minuspunkte bekommen. Denn ihre Weisheit lässt Lügen zu.

Inzwischen melden sich fünf von Deck B.

»Keine Fragen mehr hier«, sagt Godmother. »Ich spreche gleich mit jedem vertraulich.«

Die Halle leert sich zügig, ich will gerade in die Schleuse, da höre ich Godmother. »Yolanda!«

Ich drehe mich zu einer Kamera und gehe mechanisch einen Schritt auf sie zu. »Ja, Godmother.«

»Bitte bleib noch kurz in der Halle.«

Silver wartet einen Moment bei mir. Sie versucht ein Lächeln, will mir Mut machen. So richtig gelingt es ihr nicht.

Dad kommt zu mir, küsst mich auf die Wange. Gut, dass nicht mehr so viele da sind und das sehen können.

»Sehr mutig von dir«, sagt Dad.

Ich runzle die Stirn.

»Dein Rettungsversuch auf dem Freideck. Alles okay mit dir?«

Ich stammle vor mich hin und suche nach einer Antwort. »Ja … schon … das mit Zoe … also …«

Silver rettet mich und spricht weiter. »Sie ist ziemlich fertig. Aber Godmother kümmert sich ja jetzt um sie.«

Dad lächelt. Doch bei ihm sieht es genauso falsch aus wie bei Silver. »Stimmt«, sagt er trocken und wendet sich zu mir. »Da bist du jetzt in den besten Händen.«

»Jesper«, sagt Godmother.

Dad dreht sich zu einer Kamera.

»Ja, Godmother.«

»Hab bitte ein Auge auf Conrad und Mary. Das alles ist für die beiden nicht leicht.«

»Natürlich«, sagt Dad und geht nach Silver als Letzter durch die Schleuse.

Ich bleibe allein zurück in dieser riesigen Halle.

Nur noch Godmothers Stimme ist bei mir.

Und das macht mir irgendwie Angst.