Es ist kühl in der Halle. Ich bekomme Gänsehaut und reibe mir die Arme. Ohne Silvers warme Berührung fühlen sie sich komisch an. Ich habe mich an ihre Nähe gewöhnt.
Auf einmal merke ich, wie warme Luft aus den Ritzen an der Wand strömt. Ich höre die Maschinen, die den Raum aufheizen. Das kostet viel zu viel Energie. Tut Godmother das nur für mich?
Wieso? Sie ist doch sonst immer so sparsam.
Egal, meine Gänsehaut ist fort. Mir wird warm, und ich fühle mich schon viel besser. Ich schaue in die Kamera direkt über mir. »Danke, Godmother.«
Sie dimmt das Licht in der Halle, und ich fühle mich nicht mehr so beobachtet. Eines der Trainingsgeräte blinkt grün. Was hat Godmother vor? Soll ich jetzt etwa Sport machen?
Ich sehe nicht so aus wie mein Vater. Und sowieso trainiere ich jeden Abend länger als ich müsste. Das weiß Godmother doch am besten. Sie analysiert beim Training meine Herzfrequenz, meinen Atem, die Körpertemperatur und tausend andere Dinge.
Das Trainingsgerät blinkt kräftiger und schneller.
Ich laufe hin und erkenne, dass mein Lieblingsgerät blinkt – der Rudersimulator.
Wenn ich die Ruder zu mir ziehe, bewegt sich das kleine Boot auf dem Monitor. Es gleitet über das spiegelglatte Wasser eines Flusses. Links und rechts wachsen Bäume am Ufer.
Na ja, eigentlich sind es nur braune, dicke Striche mit grünen Kugeln oben drauf. Alles ist sehr schlicht programmiert. Godmother findet das offenbar besser so.
Die perfekte Simulation erwartet uns erst in Godland.
Das Holzboot ist auch nur ein schmaler Strich. Auf dem Ozean würde ich mit diesem wackeligen Brett nach fünf Sekunden kentern.
Ich bleibe vor dem Rudersimulator stehen. Der schwarze Sitzbezug aus Kunststoff hat Risse. Beim Laufband daneben ist ein Stück von der Handstütze abgebrochen. Und bei der Kraftstation fehlen einige Gewichte.
Eine Gruppe von Deck B musste die Metallscheiben vor einem halben Jahr abholen. Godmother wollte, dass sie neue Ersatzteile daraus formen. Bei den Generatoren im Wartungsdeck war etwas kaputtgegangen. Wir brauchten schnell Ersatz dafür.
Für alle Metalldinge ist Deck B speziell ausgebildet. Sie können die Schmelzanlage in der Werkstatt bedienen. Ich bin froh, dass unserem Deck das erspart bleibt. Bei der Metallschmelze kommt es immer wieder zu Unfällen. Einige der Analogen von Deck B haben ziemlich fiese Brandwunden.
Silver hat mir das mit den Metallteilen und der Kraftstation erklärt, mir wäre es nie aufgefallen. Ich trainiere nicht mit Gewichten, sondern drehe lieber in der Halle meine Kreise. Und dann ist da dieses Rudergerät. Mehr brauche ich nicht.
»Setz dich bitte«, sagt Godmother.
Ich mache es mir auf dem Sitz bequem, so gut es eben geht. Meine Finger drücke ich auf den Sensor und lese auf dem Monitor Hallo Yolanda! Dann greife ich nach den zwei Rudergriffen.
»Nein, du machst jetzt keinen Sport«, sagt Godmother und klingt amüsiert. Sie will gute Laune ausstrahlen, das macht mich skeptisch. Gerade eben hat sie noch todernst von Zoes Auslöschung gesprochen.
»Wir müssen reden«, erklärt Godmother. »Leider ist es hier nicht so gemütlich, aber du magst dieses Gerät, und es hat einen Sitz.«
»Stimmt, Godmother.«
Ich sage es so freundlich wie möglich. Doch der Sitz ist alt und durchgesessen. Und wieso können wir nicht in meiner Schlafkoje miteinander reden? Was eilt denn so?
»Mich beschäftigt der Unfall von Zoe sehr«, sagt Godmother. »Ich mache mir Sorgen.«
»Conrad und Dad passen auf Mary auf«, sage ich.
»Es geht mir nicht um Mary. Ich befürchte, dass sich andere Analoge etwas antun könnten.«
Ich rutsche auf dem Sitz hin und her und suche eine bequemere Position. »Warum sollte sich jemand etwas antun?«
»Selbst Zoe hatte offenbar einen Grund«, antwortet Godmother. »Obwohl sie kurz vor dem Upload stand.«
»Aber wer denn von uns? Was sagen deine Berechnungen?«
Ich überlege selbst und gehe alle Leute von meinem Deck durch. Es muss ja jemand von Deck A sein. Sonst würde Godmother nicht mit mir darüber sprechen.
Plötzlich muss ich an die einzige Person denken, die wirklich gefährdet ist.
Dad will nicht godline gehen!
Er hat den Tod meiner Mutter nie überwunden. Ich vermisse sie natürlich genau so. Aber ich weiß, mein Leben muss weitergehen. Auch ohne sie. Das hätte sie sich genauso von mir gewünscht. Garantiert!
»Dad?«, rufe ich in die Trainingshalle und springe auf.
Ich muss zu ihm.
»Nein«, sagt Godmother. »Er würde dich niemals allein lassen.«
Sie wartet einen Augenblick.
Ich schlucke.
Es stimmt, was sie sagt. Das würde Dad mir nicht antun.
Aber wenn nicht Mary oder Dad, wer dann?
»Conrad?«, frage ich.
»Er freut sich nicht auf Godland. Doch er hat sich damit abgefunden.«
Wer bleibt denn noch von den Problemfällen übrig? Endlich verstehe ich, worauf sie hinauswill. Tian macht ihr Sorgen!
Der Arme hat immer noch Liebeskummer, meinetwegen übrigens. Und deswegen sitze ich hier in der Trainingshalle für diese Aussprache. Ich will Godmother zuvorkommen. »Soll ich mit Tian reden? Zeit mit ihm verbringen oder ihn trösten?«
»Keine Sorge«, sagt Godmother sofort. »Er ist schon darüber hinweggekommen.«
Darüber hinweggekommen.
So schnell? Wie kommt sie darauf? Ich meine, es ist natürlich gut, wenn es ihm besser geht. Aber so richtig verliebt war er dann wohl nicht in mich.
Komisch, wieso mich das jetzt stört. Aber es ärgert mich wirklich.
Ich gehe die Namen von unserem Deck weiter durch. Emre und Josie sind nicht gefährdet. Die würden sich niemals selbst auslöschen. Die freuen sich auf Godland, so wie ihre Söhne Aidan und Mauro. Oft genug sprechen wir darüber.
Nun gibt es nur noch eine Person, und mir wird kurz schwarz vor Augen.
Nein!
Das darf nicht sein.
»Silver«, flüstere ich.
Ich renne zur Schleuse.
Mein Finger.
Piep.
Das Auge.
Piep.
Der Ganzkörperscan.
Piep.
Doch die zweite Tür der Schleuse öffnet sich nicht.
Was soll das jetzt?
Noch einmal Finger, Auge und Ganzkörperscan.
Nichts rührt sich.
»Godmother!«, rufe ich. »Ich muss zu Silver.«
Ich schlage in der Schleuse auf den Monitor. Nichts tut sich.
»Yolanda«, sagt Godmother in aller Ruhe.
Ich drehe mich in die abgedunkelte Halle. Das Rudergerät blinkt grün.
Was kommt jetzt?
Ich gehe langsam zurück und lasse mich erschöpft auf den Sitz fallen.
»Ja, Godmother.«
»Um Silver mache ich mir auch keine Sorgen.«
Es bleibt niemand mehr übrig von unserem Deck. Wobei das nicht stimmt. Eine Person gibt es noch.
Mich.
Mir wird schwindlig, und ich stütze mich am Simulator ab. Ich hole tief Luft, konzentriere mich auf die Atmung. Wenn ich jetzt umkippe, bringt mich das auch nicht weiter. Im Gegenteil, dann fühlt sich Godmother bestätigt.
Ich bin gefährdet? Ich könnte eine Nachahmerin werden? Ich würde vom Rand der Serverinsel in den Tod springen?
Niemals.
Godmother hat einen Rechenfehler gemacht.
Das ist mein erster Gedanke. Ein trotziger und dummer, ich weiß.
Als ich wieder etwas klarer sehen kann, streife ich mir mit den Fingern durch die Haare. Das beruhigt. Sie sind kurz geschnitten, so wie bei uns allen. Lange Haare bekommen wir in den fünfzehn Sekunden Duschzeit nicht sauber.
Ich lasse den Kopf kreisen, versuche zu entspannen. »Godmother, wieso ich?«
»Hol dir bitte eine Matte aus der Box. Du siehst nicht gut aus. Denke an deinen Kreislauf.«
Ich wusste gar nicht, dass wir noch Matten haben. Die Kisten sind seit Jahren verschlossen.
Eine der Boxen am Rand blinkt grün. Als ich dort ankomme, klickt die Verriegelung.
Ich kann sie öffnen. Unglaublich.
Die Box ist voller unbenutzter Matten. Vermutlich hebt sie Godmother für später auf, wenn die Trainingsgeräte endgültig Schrott sind. Mit den Matten lässt sich ein paar weitere Jahre trainieren.
Ich breite die Matte in der Mitte der Halle aus und lege mich auf den Bauch.
»Bitte drehe dich zu mir«, sagt Godmother.
Ich mache, was sie sagt. Ich liege auf dem Rücken und blicke in eine der Deckenkameras.
Godmother lässt ein Piano leise klimpern. Ein paar Geigen setzen ein. Es klingt okay, auch wenn es nicht meine Lieblingsmusik ist. Doch da wir fast nie Musik hören dürfen, freue ich mich darüber.
Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf meine Atmung. Ich versuche, meinen linken Arm zu spüren, meinen rechten. Dann meine Beine, meinen Bauch, den Rücken, den Kopf.
Ich mache alles genauso, wie es Godmother mir damals beigebracht hat. Nur deswegen bin ich die ersten Jahre auf der Serverinsel zurechtgekommen. Mir ging es richtig mies am Anfang. Ich habe meine Mutter so sehr vermisst.
Manchmal war mir deswegen alles zu viel als Kind. Dann spürte ich diesen Schwindel und hatte Angst, gleich umzukippen. Ich konnte nicht mehr den Unterricht besuchen. Ständig hatte ich das Gefühl, gleich auf den Boden zu knallen. Vor den Augen aller anderen! Und diese Angst machte alles nur noch schlimmer.
Godmothers Stimme hielt mich fest. Wir machten diese Atemübungen jeden Tag. Bis ich wieder im Schulraum an meinem Platz neben Silver saß.
Bin ich deswegen gefährdet? Wegen damals? Oder ist das nur einer von vielen Gründen?
»Geht es dir besser?«, fragt sie.
»Ja, Godmother.«
»Gut. Ich will dir helfen.«
»Ich weiß.«
»Deswegen wirst du die Erste sein.«
Ich richte mich auf. »Die Erste?«
»Die Erste in Godland plus.«
»Godland plus?«
Piano und Geige spielen etwas leiser, während Godmother weiterspricht: »Die Auslöschung von Zoe hat mir neue, große Risiken für Godland aufgezeigt. Darüber habe ich die letzten Stunden sehr viel nachgedacht. Ihr braucht mehr Motivation! Ihr müsst an Godland glauben.«
»Du willst mich motivieren, damit ich mich nicht … also nicht selbst …«
»… damit du dich nicht selbst auslöschst. Richtig.«
»Okay«, sage ich langsam, noch hab ich keine Ahnung, worauf das hinausläuft.
»Du bist die erste Testperson«, sagt Godmother.
Testperson klingt nicht wie ein Spaziergang über das Freideck bei schönem Wetter. Eher wie: Mal sehen, wie lange Yolanda bei heftigen Orkanböen da oben bleiben wird.
»Und was genau soll mich motivieren? Was bedeutet Godland plus?«
Godmother blendet die Musik aus. Es ist still in der Halle. Auch die Maschinen pumpen keine warme Luft mehr in den Raum.
»Du wirst die erste Analoge sein, die Godland besuchen darf.«