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Max stellte das Wasser ab, fuhr sich mit beiden Händen über Haare und Gesicht und blieb dann noch einige Sekunden mit geschlossenen Augen in der Dusche stehen. Er hatte sich an diesem frühen Winterabend für die längste seiner gewohnten Joggingstrecken entschieden, weil er den ganzen Nachmittag in seinem Büro in der Uni gesessen und Klausuren durchgesehen hatte.

Fast eineinhalb Stunden war er durch die Dämmerung, dann durch die nasskalte Dunkelheit an Medienhafen und Rheinturm vorbei zur Rheinpromenade und in einer großen Schleife über den Paradiesstrand gelaufen und hatte sich ausgepowert, bevor er wieder in seine Wohnung in Unterbilk zurückgekehrt war. Nun genoss er das wohlige Gefühl, das das auf seiner warmen Haut verdampfende Wasser hinterließ.

Schließlich zog er das große Duschtuch vom Halter, rubbelte sich trocken und schlang es sich um die Hüfte. Beim Blick in den beschlagenen Spiegel konnte er lediglich die Konturen seines Kopfes und der Schultern erahnen, also wandte er sich ab und wollte ins Schlafzimmer gehen, als sein Handy klingelte, das er auf dem Esstisch abgelegt hatte.

»Echt jetzt?«, stieß er aus und schüttelte den Kopf. Manchmal schien es, als warte ein Anrufer auf den ungünstigsten Moment für ein Telefonat.

»Bischoff«, meldete er sich, nachdem er festgestellt hatte, dass ihm die angezeigte Nummer nicht bekannt war.

»Eslem Keskin hier«, entgegnete die Anruferin zu Max’ Verwunderung.

»Frau Kriminalrätin Keskin? Haben Sie sich verwählt?«

»Mir ist klar, dass Sie sich über meinen Anruf wundern«, erklärte die Leiterin von Max’ ehemaliger Dienststelle, dem KK 11 in Düsseldorf, und zwar in einem Tonfall, der Max aufhorchen ließ.

»Allerdings, zumal um diese Uhrzeit. Ist etwas nicht in Ordnung? Stimmt etwas nicht mit Horst?«

Sein ehemaliger Partner und mittlerweile guter Freund Horst Böhmer war für Max nach wie vor das Bindeglied zur Kripo, wohingegen Kriminalrätin Keskin alles andere als ein Fan von Max war. Sie mochte ihn nicht sonderlich und trug das auch offen zur Schau. Umso alarmierter war Max über ihren abendlichen Anruf bei ihm.

»Mit dem Kollegen Böhmer ist alles in bester Ordnung, denke ich. Ich bin zurzeit nicht im Präsidium. Ich habe mir ein paar Tage frei genommen und halte mich seit vorgestern in einer kleinen Gemeinde an der Mosel auf.«

Horst ging es also gut. Max lehnte sich erleichtert an das Waschbecken. »Ah, ich verstehe. Und wo Sie gerade so entspannt in Urlaubsstimmung sind, ist Ihnen aufgefallen, dass wir beide schon lange nicht mehr miteinander geplaudert haben und dass es höchste Zeit dafür wird.«

»Wie wäre es, wenn Sie Ihren Sarkasmus wieder einpacken und mir einfach zuhören?«

»Ich kann es zumindest versuchen.«

Was immer es war, weswegen Keskin ihn anrief – offenbar wollte sie etwas von ihm, und Max gestand sich ein, dass er es genoss, sie in einer Situation zu sehen, in der sie es sich offenbar verkneifen musste, ihr gewohntes Gift gegen ihn zu versprühen.

»Ich brauche Ihre Hilfe.«

Das kam direkter, als Max es erwartet hatte.

»Moment! Habe ich das richtig verstanden? Sie, Frau Kriminalrätin Eslem Keskin, die Leiterin meiner ehemaligen Dienststelle, die keine Gelegenheit verstreichen lässt, mir zu verstehen zu geben, wie wenig sie von mir und dem, was ich tue, hält, rufen mich abends an, weil Sie meine Hilfe brauchen? Und schicken dabei nicht Horst Böhmer vor? Ich bin überrascht.«

»Sind Sie jetzt fertig?«, entgegnete Keskin mit einer Nachsichtigkeit, die Max davon überzeugte, dass ihr Anruf einen ernsten Hintergrund haben musste und dass es an der Zeit war, mit den Spielchen aufzuhören.

»Also gut, wie kann ich Ihnen helfen?«

Er hörte, wie Keskin tief durchatmete, bevor sie begann.

»Wie gesagt, halte ich mich gerade in einem kleinen Moselort namens Klotten auf. Er liegt gleich neben der Stadt Cochem, die Ihnen sicher ein Begriff ist. Ich bin allerdings nicht zum Urlaub hier, sondern zur Beerdigung meiner langjährigen Freundin, die vor ein paar Tagen an Krebs gestorben ist.«

Max spürte ein flaues Gefühl im Bauch und schalt sich einen Narren wegen des Unsinns, den er gerade von sich gegeben hatte.

»Das tut mir leid«, sagte er ein wenig beschämt.

»Ja, mir auch. Gabriele – so hieß meine Freundin – hat eine einundzwanzigjährige Tochter, und die hat mir, als ich hier angekommen bin, ein Tagebuch gegeben, das sie unter der Wäsche in einer Kommode ihrer Mutter gefunden hat. Die Einträge sind laut den Datumsangaben vor etwa zweiundzwanzig Jahren verfasst worden.«

»Das ist lange her«, bemerkte Max und war gespannt, wo Keskins Schilderung hinführen würde.

»Ja. Gabriele hat dieses Tagebuch nur ein paar Wochen lang geführt, aber das, was sie geschrieben hat, klingt sehr merkwürdig. Sie erwähnt immer wieder eine furchtbare Schuld, die sie gemeinsam mit den anderen auf sich geladen hat, und dass sie sich gegenseitig geschworen haben, niemals ein Wort darüber zu verlieren, weil das die Existenzen ihrer Familien vernichten würde. Sie schreibt, dass sie das Gefühl hat, an diesem furchtbaren Geheimnis zu ersticken, und so verzweifelt ist, dass sie sogar schon daran gedacht hat, sich umzubringen.«

»Das klingt sehr dramatisch, aber … ich bin nicht sicher, ob ich verstehe, wobei Sie meine Hilfe brauchen. Soll ich für Sie herausfinden, was das Geheimnis ist, von dem Ihre Freundin vor zweiundzwanzig Jahren geschrieben hat?«

»Jessica, das ist Gabrieles Tochter, sagte, dieses Tagebuch hätte offen in der Kommode gelegen, so dass jeder x-Beliebige es hätte finden können.«

»Ihre Freundin wollte also, dass das Buch gefunden wird.«

»Genau. Jessi glaubt, ihrer Mutter war es wichtig, dass das, worüber sie damals geschrieben hat, nach ihrem Tod ans Licht kommt. Damit sie ihren Seelenfrieden findet.«

Max dachte kurz nach. »Aber warum dann so vage? Warum hat sie nicht erklärt, worum es geht? Das wäre doch am einfachsten gewesen.«

Keskin atmete tief durch. »Gabriele hat bis zur letzten Stunde fest daran geglaubt, dass sie noch eine ganze Weile leben würde. Dann ging es aber plötzlich sehr schnell. Innerhalb von ein, zwei Tagen ist sie regelrecht in sich zusammengefallen. Ich denke, sie ist einfach nicht mehr dazu gekommen.«

»Was ist mit dem Vater von Jessica?«

»Der ist nicht bekannt.«

»Nicht bekannt?«

»Nein, Gabriele hat den Namen nie preisgegeben. Sie hat ihre Tochter allein aufgezogen.«

»Okay. Also kein bekannter Vater. Und Sie möchten jetzt, dass ich herausfinde, was diese Schuld war, von der sie geschrieben hat?«

»Ja.«

»Ich weiß nicht, ob das etwas ist, wofür ich …«

»Da gibt es noch was, das Sie wissen sollten. Ich habe natürlich gleich ein wenig recherchiert und herausgefunden, dass etwa zwei Monate vor Beginn dieser Tagebucheinträge ein junger Mann aus einer Winzerfamilie hier im Ort spurlos verschwunden ist. Die Polizei hat damals ein Gewaltverbrechen nicht ausgeschlossen, den Fall dann aber irgendwann ruhen lassen, weil es keine Hinweise gab und sie nicht weitergekommen sind. Ich befürchte, diese Tagebucheinträge könnten vielleicht etwas damit zu tun haben.«

»Was natürlich auch bedeuten würde, dass Ihre Freundin etwas mit dem Verschwinden des Mannes zu tun hatte.«

Es entstand eine Pause von einigen Sekunden, bevor Keskin leise antwortete. »Werden Sie mir helfen? Ich werde Sie selbstverständlich dafür bezahlen.«

Max dachte darüber nach, obwohl spätestens mit der letzten Information, die die Leiterin des KK 11 ihm gegeben hatte, sein Interesse definitiv geweckt war.

»Eine Frage: Wenn Sie einen konkreten Verdacht haben – warum machen Sie es nicht offiziell und lassen die Kollegen vor Ort ermitteln?«

»Weil ich natürlich nicht weiß, ob Gabrieles Tagebucheinträge tatsächlich etwas mit dem Verschwinden dieses jungen Mannes zu tun haben. Wenn ich es offiziell mache, wird aber in jedem Fall etwas an ihr hängenbleiben, auch wenn keine Beweise für ihre Mittäterschaft gefunden werden.« Erneut atmete Keskin tief durch. »Ich möchte nicht, dass wegen einer vagen Möglichkeit das Andenken an sie beschmutzt wird.«

»Das verstehe ich. Wann ist die Beerdigung?«

»Die war heute. Und? Werden Sie mir helfen?«

»Geben Sie mir die Adresse, ich komme morgen Vormittag.«