Nachdem er sich die Adresse notiert und aufgelegt hatte, ging Max ins Schlafzimmer, wo er sich frische Sachen aus dem Schrank nahm.
Während er sich ankleidete, kreisten seine Gedanken um das Telefonat mit Keskin. Erst hatte er ihre Bitte reflexartig ablehnen wollen, denn bisher hatte sie keine Gelegenheit versäumt, ihm zu verstehen zu geben, was sie von ihm und der Tatsache hielt, dass er sich als Privatmann in offizielle Fälle einmischte. Es wäre gerade eine gute Gelegenheit gewesen, ihr das unter die Nase zu reiben, doch dann hatte er sich darauf besonnen, dass er wohl immer wieder mit ihr zu tun haben würde und es sich als nützlich erweisen könnte, wenn er ihr half. Zudem hatte sie mit ihrer Geschichte sein Interesse geweckt.
Fertig angezogen schenkte er sich in der Küche ein großes Glas Apfelschorle ein und ging damit ins Wohnzimmer, wo er sich auf die Couch setzte und dann seinen ehemaligen Partner anrief. Schon nach zweimaligem Läuten nahm Horst Böhmer das Gespräch an.
»Max! Wie schön, von dir zu hören.«
»Hallo, Horst, ich hoffe, ich störe dich nicht.«
»Das hängt vom Grund deines Anrufs ab. Falls du mich um ein Rendezvous bitten möchtest, muss ich leider ablehnen. Ich sitze gerade gemütlich auf meiner Couch, genieße ein kühles Bier und habe nicht vor, an dieser Situation etwas zu ändern.«
»Keine Angst, du brauchst dich nicht vom Fleck zu bewegen. Obwohl es dir sicher guttun würde.«
»War nett, mit dir geplaudert zu haben.«
Max grinste, wurde dann aber wieder ernst. »Keskin hat mich gerade angerufen.«
»Was?«, stieß Böhmer überrascht aus. »Die Frau Kriminalrätin ruft dich an? Ich dachte, die ist ein paar Tage in Urlaub. Wollte sie sich ihre Urlaubstage versüßen, indem sie dir einfach mal präventiv sagt, du sollst dich zukünftig aus unseren Ermittlungen raushalten?«
»Nein, ganz im Gegenteil. Sie hat mich um Hilfe gebeten.«
Erst nach einer Pause von mehreren Sekunden sagte Böhmer: »Das ist jetzt ein Scherz, oder?«
»Nein. Es geht um eine Freundin von ihr, die gerade an Krebs gestorben ist.«
In wenigen Sätzen erzählte Max seinem ehemaligen Partner von dem Telefonat und beendete seine Schilderung mit: »Ich denke, das ist eine gute Gelegenheit, sie davon zu überzeugen, dass ich vielleicht ganz anders bin, als sie es sich vorstellt.«
»Wieso anders? Hält sie dich nicht mehr für einen Ex-Polizisten, der an maßloser Selbstüberschätzung leidet und glaubt, die Polizei könnte ohne ihn keine Fälle mehr lösen?«
»Ich sollte mir angewöhnen, unsere Freundschaft hier und da einer kritischen Prüfung zu unterziehen.«
Beide Männer lachten.
»Jetzt mal Scherz beiseite«, sagte Böhmer schließlich. »Du willst doch nicht wirklich dort hinfahren, nur weil die Frau Kriminalrätin glaubt, einem Geheimnis um ihre Freundin auf der Spur zu sein?«
»Doch, genau das habe ich vor.«
»O Mann, Max! Sie benutzt dich nur. Du weißt doch, was sie von dir hält und dass sie dir noch immer die Schuld an der Sache mit Menkhoff gibt. Seit sie da ist, wirft sie dir Knüppel zwischen die Beine, wo immer es geht. Und jetzt ruft sie dich an, weil sie deine Hilfe braucht, und du springst sofort? Was, zum Teufel, ist los mit dir?«
»Ich habe wahrscheinlich einfach ein zu großes Herz. Ich melde mich, wenn ich dort bin, okay?«
»Tu, was du nicht lassen kannst«, grummelte Böhmer. »Aber sag später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«
Nachdem er aufgelegt hatte, rief Max seine Schwester Kirsten an und erzählte auch ihr von Keskins Anruf.
Kirsten hörte sich seine Schilderungen an, ohne ihn zu unterbrechen. Erst als eine längere Pause entstand, fragte sie: »Und? Wirst du ihr helfen?«
»Ich denke schon.«
»Was sagt Horst dazu?«
Das war typisch für Kirsten. Sie fragte nicht, ob er seinen ehemaligen Partner schon angerufen hatte. Sie setzte es voraus.
»Er hält mich für verrückt, weil Keskin mir Steine in den Weg gelegt hat, wo immer sie konnte, seit sie Chefin des KK 11 geworden ist.«
»So habe ich das bisher auch verstanden. Warum möchtest du ihr trotzdem helfen?«
»Vielleicht, weil das eine Gelegenheit ist, ihr zu beweisen, dass sie sich in mir getäuscht und mir die ganze Zeit über Unrecht getan hat.«
»Ist es dir denn so wichtig, was sie über dich denkt?«
Max überlegte kurz, bevor er antwortete. »Eigentlich nicht.«
»Was ist es dann?«
»Vielleicht möchte ich einfach, dass sie in meiner Schuld steht.«
»Nein.«
»Nein?«, wiederholte Max überrascht.
»Das glaube ich nicht. Zumindest ist das nicht der Hauptgrund, dass du nach … in dieses Dorf …«
»Klotten.«
»Genau, warum du nach Klotten fahren möchtest. Ich denke, das, was Frau Keskin dir erzählt hat, lässt dir jetzt schon keine Ruhe mehr. Geheimnisvolle Tagebucheinträge von einer Schuld, die die verstorbene Frau gemeinsam mit anderen damals auf sich geladen hat, ein verschwundener Mann ungefähr zur gleichen Zeit … das ist es, was dich antreibt, dem du unbedingt auf den Grund gehen möchtest. Dabei nimmst du den Nebeneffekt, Horsts neuer Chefin zu zeigen, dass sie, was dich betrifft, völlig falschliegt, als zusätzliches Bonbon mit.«
Max lächelte. »Vielleicht hast du ja recht.« Natürlich wusste er, dass seine Schwester recht hatte. Letztendlich wäre es egal gewesen, wer in diesem Fall um Hilfe gerufen hätte, der Fall an sich war es, der ihn reizte. Wenn es denn ein Fall war.
»Pass auf dich auf«, mahnte Kirsten.
»Das tue ich. Ich melde mich wieder bei dir.«
Max legte auf und schloss für einen Moment die Augen. Er sah Kirsten vor sich, wie sie in ihrem Rollstuhl saß, das Telefon noch in der Hand, und aus dem Fenster schaute, während ihre Gedanken um ein furchtbares Ereignis kreisten, das gerade einmal zwei Jahre zurücklag. Die zweite traumatische Erfahrung, die sie in ihrem Leben hatte machen müssen.
Bei der ersten war sie acht Jahre alt gewesen. Ein betrunkener Autofahrer hatte sie damals vom Fahrrad gerissen und in den Rollstuhl katapultiert. Bruch des vierten Brustwirbels, Verletzung des Rückenmarks. Max hatte noch immer den Ausdruck auf ihrem Kindergesicht vor Augen, als ihr nach der Notoperation klarwurde, dass sie wohl nie wieder herumlaufen konnte.
Vielleicht hatte dieses Ereignis mit dazu geführt, dass er so ein inniges Verhältnis zu Kirsten hatte und dass diese Geschichte vor zwei Jahren ihn derart aus der Bahn geworfen hatte, dass er den Dienst bei der Polizei quittierte.
Max schob diese Gedanken beiseite, legte das Telefon auf den Tisch und stand auf. Er musste ein paar Sachen packen für die Fahrt an die Mosel.