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Zurück in der Pension, erkundigte Max sich bei Lisa Passig nach einem Zimmer für Wagner. Zum Glück hatte sie noch etwas frei. Als er sie dann nach Lokalen in Klotten fragte, erfuhr er zu seiner Überraschung, dass es im Ort tatsächlich eine Pizzeria gab. Sie bot sofort an, einen Tisch zu reservieren, was Max sehr aufmerksam fand. Eine sympathische Frau, ging es ihm durch den Kopf, als er sich kurz darauf in seinem Zimmer frischmachte.

Bereits eine Viertelstunde vor der verabredeten Zeit traf Max in dem Lokal ein und war überrascht, als er Marvin Wagner entdeckte, der bereits mit einem halbvollen Bierglas vor sich an einem Tisch am Fenster des ansonsten fast leeren Lokals saß und ihm breit lächelnd zuwinkte.

Beinahe wäre Max stehen geblieben, um den Anblick eine Weile auf sich wirken zu lassen, bevor er den Wissenschaftler begrüßte. Wagner trug einen schwarzen Hoodie, den auf der Brust ein Totenkopf mit glühend roten Augen zierte.

Auf seiner Glatze zeigte sich ein Kranz aus dunklen Stoppeln, die darauf hindeuteten, dass er sich den Kopf ein paar Tage lang nicht rasiert hatte. Er trug Ohrtunnel von der Größe einer Ein-Euro-Münze, seine auffälligen Tätowierungen lugten an beiden Unterarmen und an den Seiten des Halses aus dem Hoodie heraus. Ein silberner Ring zierte Wagners linken Nasenflügel, jeweils ein Metallstift war durch seine Augenbrauen gestochen.

Als Max auf Wagner zuging, stand dieser auf.

»Der Herr Bischoff. Sie haben sich seit unserem letzten Treffen keinen Deut verändert. Aber nicht nur das. Auch auf älteren Fotos sehen Sie genauso aus wie jetzt. Sie wundern sich vielleicht, dass ich ältere Fotos von Ihnen kenne, aber ich hatte bei unserer ersten Zusammenarbeit ein wenig recherchiert und im Zusammenhang mit einigen Ihrer spektakulären früheren Fälle Fotos von Ihnen im Netz gefunden. Einige davon habe ich mir gerade wieder angeschaut, während ich auf Sie gewartet habe, und was soll ich sagen – keine Veränderung. Lediglich der angestrengte Gesichtsausdruck ist seitdem verschwunden, was damit zusammenhängen mag, dass Sie nicht mehr offiziell als Kriminologe tätig sind und sich demzufolge auch nicht mehr dem Druck der Vorgesetzten und den Argusaugen einer überkritischen Öffentlichkeit stellen müssen. Seien Sie gegrüßt.«

Max musste lachen über den Redeschwall, mit dem Wagner ihn empfing. »Schön, dass wir uns wiedersehen, Herr Dr. Wagner. Ich habe ein bisschen ein schlechtes Gewissen, dass ich Sie …«

»Marvin«, unterbrach der Wissenschaftler ihn.

»Was?«

»Dr. Wagner finde ich anstrengend. Nennen Sie mich doch einfach Marvin. Und ich nenne Sie im Gegenzug Max, okay? Ist das eigentlich Ihr richtiger Name oder eine Abkürzung von Maximilian oder noch Schlimmerem?«

»Nein, keine Abkürzung. Ich heiße wirklich Max. Und ja, gern … Marvin.«

Wagner nickte zufrieden und deutete auf den Tisch. »Setzen wir uns doch, Max.«

Max setzte sich und legte das Tagebuch von Gabriele Meininger auf dem Tisch vor sich ab.

»Was war das für eine Tagung in Trier, an der Sie teilnahmen?«

Wagner verdrehte die Augen. »Open Science.«

Als Max ihn fragend ansah, nickte Wagner. »Grob gesagt geht es dabei um Strategien und Verfahren, um alle Bestandteile des wissenschaftlichen Prozesses über das Internet offen zugänglich zu machen. Sinn des Ganzen ist es, Wissenschaft, Gesellschaft und Wirtschaft neue Möglichkeiten im Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu eröffnen.«

»Ah!«, sagte Max.

»Das fasst es recht gut zusammen. An sich ein interessantes und wichtiges Thema, aber die meisten Redner auf solchen Tagungen neigen leider dazu, mit der Art und bedauerlicherweise oft auch mit dem Inhalt ihrer Vorträge meine Augenlider schwer wie Blei werden zu lassen.«

Ein junger, dunkelhaariger Mann kam zu ihrem Tisch, reichte ihnen die Speisekarten und fragte Max, was er trinken wolle. Dabei warf er immer wieder verstohlen Blicke auf Wagner, der vor sich hin grinste.

Max entschied sich für ein Glas Pinot Grigio, Wagner orderte ein weiteres Bier für sich, wobei der Kellner es vermied, ihm in die Augen zu schauen. Als der junge Mann sich abwandte, sagte Max: »Ich glaube, Sie haben einen neuen Fan.«

Wagner grinste. »Ja, die Wissenschaft in neuem Kleid, das verwirrt die Menschen zuweilen. Ich habe es nicht nur einmal erlebt, dass man mich zu Vorträgen, die ich halten sollte, nicht einlassen wollte, weil man mir nicht glaubte, dass ich der vortragende Psychologe bin. Ich bin sicher, der ein oder andere glaubt, dass ich die Menschen auf der Erde studiere, um meine Erkenntnisse dann an das Mutterschiff zu senden, das irgendwo im Schatten des Mondes auf das Angriffssignal wartet.«

Sie lachten und schlugen die Speisekarten auf. Nachdem sie sich beide für eine Pizza entschieden hatten, deutete Wagner auf das Tagebuch. »Darf ich?«

»Ja, natürlich, bitte.« Max schob ihm das Buch über den Tisch zu.

Nachdem Wagner die ersten Seiten umgeblättert und den Inhalt eine Weile betrachtet hatte, murmelte er: »Kleine Buchstaben, stark nach links geneigt.« Er strich mit dem ausgestreckten Zeigefinger über die Seite. »Minimaler Druck, die Wörter stehen eng beieinander, Schrift fällt leicht nach unten ab.« Er sah auf. »Auf den ersten Blick kann ich sagen, dass es sich bei der Schreiberin um eine eher introvertierte Person handelt. Während sie diese Zeilen schrieb, fühlte sie sich wahrscheinlich kraft- oder mutlos. Die nach links gerichteten Buchstaben deuten auf Zurückhaltung oder verborgene Gefühle hin und können ein Hinweis auf eine Persönlichkeit sein, die sich wohler fühlt, wenn sie im Hintergrund agieren darf.«

»Wow!«, stieß Max aus. »Das alles sehen Sie innerhalb einer Minute?«

»Das war nur eine grobe Einschätzung. Näheres kann ich Ihnen morgen sagen, wenn Sie mir erlauben, das Tagebuch nachher mitzunehmen. Die Handschrift, lieber Max, ist wie die Körpersprache eines Menschen. Sie ermöglicht einen Blick in die Psyche und die Persönlichkeit und ist eine Art Charakterzeugnis, so einzigartig wie ein Fingerabdruck.«

»Schauen Sie sich bitte mal den Eintrag ganz hinten an, auf einer der letzten Seiten.«

Wagner blätterte die Seiten durch bis zu dem hinteren Eintrag. Nachdem er die Wörter eine Weile schweigend betrachtet hatte, sah er auf.

»Selbst wenn man den Inhalt vernachlässigen würde, hätte ich auf gesundheitliche Probleme getippt. Wenn bei einem Menschen Leber und Niere schwächeln, reichern sich Giftstoffe im Gehirn an. Die Schrift wird zittrig bis zur Unleserlichkeit. Solche Schriftveränderungen sind außerdem typisch für Mineralstoffmangel, Nebenwirkungen von Medikamenten, Vergiftungen oder den übermäßigen Gebrauch von Alkohol und anderen Drogen. In diesem speziellen Fall schätze ich aber, dass die Schreiberin zusätzlich in katastrophaler seelischer Verfassung war, als sie die wenigen Worte schrieb. Sie wollte ihre fundamentalen Gedanken irgendwie zu Papier bringen, was sie aber alle Kraft gekostet hat, die noch in ihr war. Um es auf einen Satz zu reduzieren: Die Schrift bestätigt das, was die geschriebenen Worte sagen.«

»Hm …« Max kniff die Augen zusammen. »Vielleicht studieren Sie uns ja wirklich.«

Wagner nickte lachend. »Das tue ich in der Tat. Es gibt für mich als Wissenschaftler nichts Faszinierenderes als die Menschen und das, was sie tun.«

Der Kellner brachte die Getränke, und sie gaben ihre Bestellungen auf.

Wagner wartete, bis der junge Mann gegangen war, und deutete zu dem Tagebuch vor sich. »Lassen Sie uns zum Inhalt dieses Buches kommen. Sind alle Einträge so wie das, was ich gerade gelesen habe? Ich meine die im vorderen Teil. Mir scheint, die Frau ist an der Last ihrer Schuld, ob tatsächlich vorhanden oder lediglich eingebildet, fast zerbrochen.«

Max nickte. »Ja, und so wie Gabriele Meininger von ihrer Freundin beschrieben wurde, neigte sie nicht zu Phantasien oder Übertreibungen. Irgendetwas muss an der Sache dran sein. Ich befürchte nur, es wird in diesem Ort schwer werden herauszufinden, was das ist.«

Max berichtete Wagner von seinen Begegnungen und Erlebnissen des Nachmittags und war gerade dabei, das kurze Gespräch mit der Tante von Ingo Görlitz zu schildern, als ein etwa sechzigjähriger, untersetzter Mann mit schütteren, graumelierten Haaren an ihren Tisch trat und Max düster ansah. »Hören Sie auf, die Menschen hier zu belästigen.« Er sprach nicht sonderlich laut, aber in einer Art, die ein unangenehmes Gefühl hinterließ.

»Darf ich fragen, wer Sie sind?«, entgegnete Max, nachdem er schnell einen Blick mit Wagner getauscht hatte.

»Setzen Sie sich in Ihr Auto und fahren Sie dahin zurück, wo Sie hergekommen sind.« Der Mann ignorierte die Frage und richtete den Blick auf Marvin Wagner. »Und nehmen Sie den da gleich mit.« Dabei betrachtete er den Psychologen, als sei dieser ein lästiges Insekt.

Auf Wagners Gesicht zeigte sich ein Grinsen. »Aber der da hat sich gerade eine Pizza bestellt, die er unbedingt essen möchte. Das wird also leider nichts mit dem Zurückfahren.«

Max drehte sich auf dem Stuhl, so dass er dem Mann zugewandt war. »Wie wäre es, wenn Sie uns erst einmal verraten, wer Sie sind? Dann können wir uns gern unterhalten.«

»Lassen Sie die Leute hier in Ruhe und verlassen Sie Klotten.«

»Aber warum sollten wir das tun?«

Erneut wanderte der Blick zu Wagner und wieder zurück zu Max. »Es kann hier gefährlich sein für Leute, die den Menschen im Ort schaden wollen.«

»Schauen Sie mich an«, forderte Wagner den Mann auf. »Ich bin tätowiert und habe Ringe und Nadeln im Gesicht. Mache ich auf Sie den Eindruck, als hätte ich Angst, mich in einem gefährlichen Weinort aufzuhalten?«

Die Miene des Mannes verfinsterte sich noch mehr. »Manchmal verschwinden hier Menschen und tauchen nie wieder auf. Nicht dass Ihnen auch so etwas passiert.«

Mit diesen Worten drehte er sich um und ging zur Tür.