Sie hatten beschlossen, dass Jana sich mit Böhmer in Düsseldorf in Verbindung setzen und gemeinsam mit ihm versuchen würde, mehr über die Rolle Zerbachs bei den damaligen Ermittlungen herauszufinden. Zudem wollte sie Eslem Keskin kontaktieren und sie auf den neuesten Stand bringen.
Wagner begleitete Max. Der wollte als Erstes Ingo Görlitz einen Besuch abstatten, den er am Vortag nicht angetroffen hatte.
Dieses Mal öffnete er selbst.
Ingo Görlitz war etwa so groß wie Max und sehr schlank. Die braune Cordhose, die er trug, schien eine Nummer zu weit zu sein, das dunkelblaue Hemd hing locker darüber. Görlitz hatte volles, dunkles Haar, dem ein frischer Schnitt gutgetan hätte. Sein Gesicht war blass, und er wirkte müde.
»Guten Morgen, mein Name ist Max Bischoff, das ist Dr. Marvin Wagner. Sind Sie Ingo Görlitz?«
Görlitz betrachtete Max mit einem kurzen Blick, um sich dann ausgiebig Wagner zu widmen und unverhohlen dessen Tätowierungen und Piercings anzustarren, bevor er schließlich nickte.
»Ja. Ich habe Sie erwartet.« Görlitz’ Stimme unterstrich den Eindruck der Erschöpfung. »Meine Tante hat gesagt, dass Sie gestern schon mal hier waren. Kommen Sie rein.«
Der Raum, in den Görlitz sie führte, war nicht sehr groß und wurde dominiert von einem massiven Holztisch, an dem sechs Stühle standen. Der Dielenboden glänzte, als sei er gerade frisch gewachst worden, die Gardinen vor den beiden Fenstern strahlten in reinem Weiß, und in der Luft hing ein dezenter Blütenduft.
Görlitz deutete zu dem Tisch, und während Wagner und Max zwei der Stühle zurückzogen und Platz nahmen, fragte er: »Möchten Sie Kaffee?«
Als sowohl Max als auch Wagner nickten, verließ er den Raum.
»Er macht nicht gerade den Eindruck, als würde es ihm gutgehen«, bemerkte Max.
Wagner nickte. »Er hat wahrscheinlich schon vom Tod der jungen Frau gehört. Und von den Umständen.«
»Mag sein. Ich bin gespannt, was er zu sagen hat.«
Max sah sich im Raum um. »Die Tante scheint sehr sauberkeitsliebend zu sein.«
»Allerdings. Hier riecht es so, wie es in der Putzmittelwerbung immer beschrieben wird.«
»Sie schauen Putzmittelwerbung?«, sagte Max verwundert.
Wagner grinste. »Es sind die profanen und alltäglichen Dinge, die es dem konzentriert arbeitenden Wissenschaftler ermöglichen, den Geist hier und da in einen erholsamen Ruhezustand des Nichtstuns zu versetzen. Für das Anschauen des Fernsehprogramms ist die Aktivität des Verstandes vollkommen irrelevant.«
Görlitz kam zurück und setzte sich auf einen Stuhl Max gegenüber. Die Blicke, mit denen er Wagner immer wieder kurz streifte, konnte oder mochte er nicht verbergen. »Kaffee kommt gleich.« Er wandte sich an Max. »Sie wollten mich sprechen. Es ist wegen damals, oder? Wegen Peters Verschwinden.«
»Ja. Eine Frage vorab: Haben Sie gehört, was in der vergangenen Nacht geschehen ist?«
Görlitz senkte den Blick und nickte. »Ja. Vor einer Stunde.«
»Wie geht es Ihnen dabei?«, wollte Wagner wissen.
Görlitz sah ihn an, als hätte er die Frage nicht verstanden. »Wer sind Sie eigentlich?«
»Mein Name ist Marvin Wagner. Ich bin ein Freund von Herrn Bischoff und helfe ihm hier und da ein wenig bei seinen Ermittlungen.«
»Ermittlungen.« Görlitz machte eine Pause und ließ den Blick zwischen den beiden hin und her wandern, bis er schließlich auf Max gerichtet blieb. »Aber Sie sind keine Polizisten.« Das war eine Feststellung.
»Nein«, sagte Max. »Nicht mehr. Ich war früher Kriminalermittler.«
»Der Polizist, dieser Zorbach oder Zerbach, der war eben hier und sagte, ich solle nicht mit Ihnen reden, wenn Sie herkommen. Er sagte, dass Sie überhaupt keine Befugnis haben, Fragen zu stellen.«
Max schüttelte den Kopf. Es schien Zerbach sehr wichtig zu sein, dass Max möglichst wenig erfuhr. »Herr Görlitz, ich möchte mich gern mit Ihnen über damals unterhalten, weil Gabriele Meininger vor zweiundzwanzig Jahren rätselhafte Einträge in ihr Tagebuch geschrieben hat und es so scheint, als hätte der Mord an ihrer Tochter etwas damit zu tun. Dazu brauchen weder Sie noch ich eine Befugnis von Herrn Zerbach. Etwas anderes ist es natürlich, wenn Sie sich nicht mit mir unterhalten möchten.«
»Wenn ich nicht mit Ihnen reden wollte, säßen wir jetzt wohl nicht hier, oder?«
»Das stimmt«, bestätigte Max.
»Aber wenn wir schon dabei sind, woher haben Sie Gabi gekannt? Ich habe gehört, Sie kommen aus Köln?«
»Aus Düsseldorf. Ich habe Frau Meininger nicht persönlich gekannt. Sie war eine gute Freundin einer Bekannten von mir. Die hat mich gebeten, nach Klotten zu kommen, weil Jessica über die Tagebucheinträge ihrer Mutter beunruhigt war.«
Die Tür wurde geöffnet, und Görlitz’ Tante kam mit einem Tablett herein, auf dem drei Tassen, ein Milchkännchen und eine Dose standen, die vermutlich Zucker enthielt.
»Guten Morgen, Herr Bischoff«, begrüßte sie Max freundlich, stellte das Tablett auf dem Tisch ab und streckte dann Wagner die Hand entgegen. »Wir kennen uns noch nicht. Beate Weirich. Ich bin Ingos Tante. Sind Sie auch ein ehemaliger Polizist?«
»Gott bewahre«, entgegnete Wagner und schüttelte kurz ihre Hand. »Ich bin ein Mann der Wissenschaft und ziehe es vor, meine Tätigkeiten bei der Jagd nach Verbrechern auf wissenschaftliche Analysen und Gutachten zu beschränken.«
»Ah, das ist ja interessant«, entgegnete Beate Weirich. »Ich kann mir vorstellen, dass das eine sehr spannende Tätigkeit ist.« Und mit einem Blick auf Max fügte sie hinzu: »Bitte entschuldigen Sie mich, ich habe noch einiges zu tun.«
Noch ehe Max etwas entgegnen konnte, wandte sie sich ab und schloss gleich darauf die Tür hinter sich.
»Sie haben damals viel Zeit zusammen verbracht, nicht wahr?«, erkundigte sich Max und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Görlitz. »Ich meine Gabriele Meininger, Peter Kautenberger, Melanie Dobelke, Achim Brandstätt und Sie.«
»Ja, kann man so sagen.«
»Waren alle mit allen gleich befreundet, oder gab es untereinander Präferenzen?«
»Präferenzen? Na ja, bei manchen Themen konnte Melli nicht mitreden. Sie war die Einzige, die zu Hause keinen Winzerbetrieb hatte.«
»Wurde sie deswegen ausgegrenzt?«
»Quatsch! Sie gehörte dazu.«
»Darf ich auch eine Frage stellen?«, warf Wagner dazwischen und wartete die Antwort gar nicht erst ab. »Ihre Tante scheint sehr nett zu sein. Wohnt sie hier?«
»Ja.«
»Ist Ihre Mutter verstorben?« Wagner sagte es leichthin, so als habe er nach dem Wetter gefragt.
Görlitz zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht.«
Als er auch nach einer Pause von einigen Sekunden nicht weiterredete, sagte Max: »Würden Sie uns das erklären?«
»Mein Vater ist früh gestorben, da war ich fünf. Krebs. Die Bauchspeicheldrüse. Ich kann mich kaum an ihn erinnern. Meine Mutter musste den Betrieb weiterführen und mich großziehen. Das war keine leichte Zeit für sie. Sie hat einen Kellermeister eingestellt und selbst von morgens bis abends mitgearbeitet. Irgendwie hat sie es hinbekommen, aber als ich dann als junger Erwachsener so weit war, dass ich den Betrieb übernehmen konnte, hat sie meine gerade geschiedene Tante zu meiner Unterstützung hierhergeholt und kurz danach alles hingeschmissen. Ich konnte es ihr nicht verübeln. Sie hat jemanden aus Chile kennengelernt und ist mit ihm in sein Land gegangen. Ein paarmal hat sie sich noch bei mir gemeldet, dann ist der Kontakt irgendwann abgerissen.«
»Das ist eine traurige Geschichte«, kommentierte Wagner.
»Haben Sie danach noch einmal versucht, Verbindung zu ihr aufzunehmen?«, fragte Max.
Görlitz schüttelte den Kopf.
»Nein, sie hat zu niemandem von hier noch Kontakt. Auch nicht zu meiner Tante.«
»Ist sie die Schwester Ihrer Mutter?«
»Ja. Ich glaube, ich habe meine Mutter zu sehr an dieses Leben erinnert, in dem sie nichts anderes hatte als Arbeit rund um die Uhr. Sie wollte diese verlorenen Jahre wohl nachholen. Ich gönne es ihr.«
Eine Weile schwiegen alle, bis Max die Stille unterbrach. »Wie gut kannten Sie Jessica Meininger?«
»Jessi? So, wie man jemanden kennt, der im gleichen Ort wohnt. Ich hatte so gut wie nichts mit ihr zu tun. Schrecklich, was mit ihr passiert ist.«
»Haben Sie auch gehört, wie man sie gefunden hat?«, fragte Max vorsichtig nach.
»Sie meinen diese Sache mit den Trauben in ihrem Mund? Ja, das habe ich gehört.«
Von der herausgetrennten Zunge wusste Görlitz also entweder nichts, oder er verschwieg es.
»Was glauben Sie, hat das zu bedeuten?«
Görlitz legte die Stirn in Falten. »Woher soll ich das denn wissen? Das müssen ja wohl die Bullen … ich meine, die Polizisten herausfinden. Dieser Zerbach tut doch so superschlau.« Er richtete seinen Blick auf die Fenster und murmelte: »Vielleicht hat sie einen Winzer zum Feind.«
Max wechselte einen schnellen Blick mit Wagner. »Einen Winzer?«
»Ja.« Görlitz wandte sich wieder Max zu. »Wegen der Weintrauben im Mund.«
»Aber die können doch noch von der letzten Ernte zufällig dort gelegen haben«, warf Wagner ein. »Ich denke nicht, dass das unbedingt ein eindeutiger Hinweis auf einen Winzer ist.«
Görlitz zuckte mit den Schultern, sah erneut zu den Fenstern und sagte leise: »Vielleicht wusste sie was, das sie nicht verraten sollte.«
Max wurde hellhörig. »Denken Sie da an etwas Bestimmtes?«
Görlitz blickte weiterhin auf die weißen Gardinen. »Irgendetwas gab es damals. Ein Geheimnis.« Er sprach mit leiser Stimme, so, als würde er mit sich selbst reden. »Bevor Piet verschwand, verhielten sich alle ganz komisch. Wir haben alle gespürt, dass etwas im Ort nicht gestimmt hat.« Nachdenklich sah er Max wieder an. »Aber keiner hat darüber gesprochen.«
»Das verstehe ich nicht. Wenn niemand darüber geredet hat, warum glauben Sie dann, dass es ein Geheimnis gegeben hat?«
»Weil es jeder gespürt hat. Sie verstehen das nicht. Alle waren plötzlich anders. Nicht nur in unserer Clique. Alle im ganzen Ort.«
»Und Sie haben keine Idee, worum …«
Das Klingeln seines Smartphones unterbrach Max. Es war Jana.
»Können Sie bitte zu mir in die Pension kommen?«
»Ja, sicher, wenn wir nachher …«
»Nein, jetzt sofort, bitte«, schnitt Jana ihm das Wort ab, und Max konnte die Aufregung in ihrer Stimme hören.
»Warum?«
»Die Mutter von Peter Kautenberger ist hier. Kommen Sie einfach.«