Max war wie vom Donner gerührt und starrte den Mann an, der seelenruhig im mittlerweile strömenden Regen dastand und ihn anschaute. Die dunklen Haare waren von grauen Strähnen durchzogen und lagen nass auf seinem Kopf. Auf den Fotos von damals hatte Kautenberger noch blonde Haare gehabt, aber dennoch zweifelte Max keine Sekunde daran, dass er es war, der vor ihm stand.
Mit einem schnellen Blick nach beiden Seiten prüfte Max, ob noch jemand anderes unterwegs war und den Mann sah, doch er war allein. Kein Wunder bei dem Wetter.
Regenwasser lief ihm in die Augen, und er wischte es weg. Als er die Augen wieder öffnete, rechnete er fast damit, dass der Mann verschwunden war, ein Trugbild, das der Schnaps in ihm erzeugt hatte.
Aber er war noch da, setzte sich in Bewegung, kam langsam auf Max zu.
Max’ Puls beschleunigte sich, und jede Trübung seines Verstandes, wie er sie kurz zuvor noch deutlich gespürt hatte, war mit einem Mal verschwunden.
Die Hände des Mannes waren leer, wie Max mit einem schnellen Blick feststellte. Keine Waffe und nichts, was man als solche benutzen konnte. Obwohl ihn das beruhigte, blieb er wachsam.
Zwei Meter vor Max verharrte der Mann. »Sie wissen, wer ich bin?«, fragte er mit sonorer Stimme.
»Sie sind Peter Kautenberger?« Es war mehr eine Frage als eine Feststellung.
»Ja. Und Sie sind Max Bischoff. Ich brauche Ihre Hilfe. Und Sie brauchen meine.«
»Aber warum … Ich meine, woher …«
Verdammt! Er war wohl doch noch nicht so nüchtern, wie er gedacht hatte.
»Kommen Sie mit.« Kautenberger – wenn er es wirklich war – drehte sich um und ging los, ohne auf eine Reaktion von Max zu warten. Der war einen Moment unschlüssig, wie er reagieren sollte, doch dann setzte er sich in Bewegung und wollte dem Mann folgen, als dieser abrupt stehen blieb und sich umwandte. Mit schnellen Blicken in alle Richtungen suchte er die Umgebung ab, bevor er Max wieder ansah.
»Ich werde nur mit Ihnen allein sprechen. Wenn Sie jemanden anrufen, verschwinde ich, und Sie werden mich nicht mehr zu Gesicht bekommen. Versprechen Sie mir, dass Sie nicht versuchen, jemanden zu benachrichtigen.«
»Hören Sie, ich …«
»Mein Leben hängt davon ab. Und ich habe keine Zeit. Es darf mich niemand sehen. Ich möchte Ihr Wort. Jetzt. Oder ich gehe.«
»Ja, gut. Ich gebe Ihnen mein Wort. Ich werde niemanden benachrichtigen.«
Eine Weile sah Kautenberger Max in die Augen, dann nickte er. »Ich glaube Ihnen. Kommen Sie.«
Er zog sich die Kapuze seiner Jacke über den Kopf bis tief in die Stirn, dann erst lief er wieder los. Max folgte ihm.
Mit jedem Schritt, den sie gingen, schossen ihm neue Fragen durch den Kopf, die er am liebsten alle sofort gestellt hätte, aber er ahnte, dass Kautenberger nichts sagen würde, bis sie ihr Ziel erreicht hatten.
Nach wenigen Minuten erreichten sie ein Weingut und gelangten über einen schmalen Weg hinter das Haupthaus. Dann ging es über einen matschigen, hier und da mit Gras und Unkraut bewachsenen Hof auf ein kleines, offensichtlich sehr altes und unbewohntes Gebäude zu und daran vorbei. Vor einer schmalen Treppe auf der Rückseite hielt Kautenberger kurz an, sah sich erneut um und stieg dann die Stufen hinab. Sie endeten vor einer alten Holztür.
Kautenberger bückte sich und zog aus einer rostigen, verbeulten Dose, die auf dem Boden lag, einen Schlüssel heraus, mit dem er die Tür öffnete.
Der Raum, in den Max hinter Kautenberger trat, roch feucht und muffig, und es schien, als sei es dort kälter als draußen. Kautenberger drückte die Tür zu, schloss sie ab und ging an Max vorbei. »Kommen Sie.«
Max folgte ihm mit einem mulmigen Gefühl durch den in schummriges Licht getauchten Raum auf eine Treppe zu. Wenn dieser Mann vorhatte, ihn anzugreifen, dann bot Max ihm die beste Gelegenheit dazu. Andererseits war das, was er gerade erlebte, vielleicht die einzige Chance, Licht ins Dunkel um das Verschwinden von Peter Kautenberger bringen und den Mord an Jessica Meininger aufklären zu können. Zudem sagte ihm sein Instinkt, dass dieser Mann ihn nicht angreifen würde.
Blieb zu hoffen, dass sein Gefühl ihn nicht täuschte.
Sie stiegen die Treppe hinauf und kamen in einen kleinen Flur. »Kommen Sie«, wiederholte Kautenberger und öffnete eine Tür zu seiner Rechten. Das Zimmer dahinter war etwa fünfzehn Quadratmeter groß. Auf dem Boden lagen eine Isomatte und zwei neu aussehende Decken, daneben standen einige geöffnete und ein paar geschlossene Dosen sowie zwei große Wasserflaschen. Max ahnte, dass er gerade zu sehen bekam, wo Peter Kautenberger übernachtete, seit er wieder in Klotten aufgetaucht war.
»Das war früher unser Weingut«, sagte Kautenberger und deutete in den Raum. »Das hier ist ein altes Gebäude, das wir auch damals schon nur noch als Schuppen genutzt haben. Mittlerweile steht es leer. Die meisten der alten Winzerbetriebe im Ort haben solche ungenutzten Gebäude auf ihrem Grundstück.«
Das mochte für einen ehemaligen Winzersohn interessant sein, aber für Max waren andere Dinge wichtig, und er konnte es nicht erwarten, Antworten auf seine Fragen zu bekommen.
»Wo waren Sie die ganze Zeit, und warum sind Sie damals …«
Kautenberger hob eine Hand und schüttelte den Kopf. »Nein, das führt so zu nichts.« Er deutete auf das Deckenlager. »Setzen Sie sich. Ich rede, und Sie hören zu. Ich denke, dann sind Ihre Fragen beantwortet.«
»Also gut.« So schwer es Max auch fiel, es würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als auf das einzugehen, was Kautenberger wollte.
Er ließ sich auf die Isomatte nieder. Kautenberger blieb stehen.
»Jemand hat vor zweiundzwanzig Jahren versucht, mich umzubringen, und es wäre ihm fast gelungen.«
»Wer?«, konnte Max sich nicht zurückhalten zu fragen.
»Das weiß ich nicht sicher, aber hören Sie zu.« Nun setzte sich auch Kautenberger auf den Boden.
»Ich habe vor rund zweiundzwanzig Jahren mitbekommen, dass im Betrieb der Brandstätts darüber diskutiert wurde, Teile ihres Weins zu panschen. Damals beschäftigte ich mich bereits intensiv mit ökologischem Weinbau, also Bodenpflege, Düngung und Pflanzenschutz unter Berücksichtigung von Erkenntnissen der Ökologie und des Umweltschutzes. Obwohl ich zu meinem Vater nie ein gutes Verhältnis hatte, war das etwas, was wir beide ganz ähnlich sahen. Wir hatten schon sehr viel Geld investiert, um unseren Betrieb auf organisch-biologischen Anbau und Produktion umzustellen. Die Vorstellung, dass ein Winzer aus Klotten aus Profitgier das alles zunichtemachen und darüber hinaus die Betriebe der ganzen Region in den Ruin treiben könnte, hat mich fast wahnsinnig gemacht. Ich habe mit Achim darüber geredet und mein Vater mit Achims Vater, aber ich habe ihren Zusicherungen nicht getraut und mich an unsere damalige Clique gewandt. Die haben das allerdings abgetan und mich am Ende sogar angefeindet, weil ich keine Ruhe gegeben habe.«
Kautenberger stockte und kaute auf seiner Unterlippe herum.
»Zogen Sie nicht in Betracht, dass Achim Brandstätt und sein Vater es ernst gemeint haben könnten, als sie beteuerten, nichts derartiges zu tun?«
Für einen Moment befürchtete Max, Kautenberger hätte ihn nicht gehört, doch dann sah er ihn an. »Natürlich war das möglich. Aber lediglich die Möglichkeit reichte mir nicht. Der Gedanke, sie könnten es doch tun, ließ mir keine Ruhe. Jedenfalls war ich nacheinander bei Ingo, Gabi, Melli und auch immer wieder bei Achim, um mit ihnen darüber zu reden.
Dann arbeitete ich eines Abends in unserem Weinberg, das war kurz vor der Ernte, und habe die Reife der Trauben kontrolliert. Da hat mich jemand von hinten niedergestochen.«
Erneut machte Kautenberger eine kurze Pause, doch dieses Mal wartete Max ab, bis er weiterredete.
»Ich wäre damals verblutet, wenn nicht mein Vater gekommen wäre und mich nach Hause gebracht hätte.«
»Er hat Sie zufällig dort gefunden?«
»Nein, jemand hat ihn angerufen und ihm gesagt, wo ich bin.«
»Der Täter?«
»Wenn, dann war es eine Täterin, denn mein Vater sagte, die Stimme war zwar stark verstellt, aber sie gehörte zu einer Frau.«
»Moment, eine Frau sticht Sie von hinten nieder und ruft dann Ihren Vater an, damit er Sie rettet?«
»Ich habe viele Jahre Zeit gehabt, darüber nachzudenken, und bin zu dem Schluss gekommen, dass das wahrscheinlich eine Frau aus dem Ort war, die mich zufällig dort entdeckt und Angst vor der Situation hatte, die mich andererseits aber nicht einfach liegen lassen wollte. Also hat sie anonym meinen Vater informiert.
Jedenfalls hat mein Vater damals entschieden, niemandem etwas davon zu erzählen, dass er mich gefunden hat. Er hatte Angst, dass derjenige sonst noch einmal versuchen könnte, mich umzubringen. Und dann womöglich mit mehr Erfolg. Er hat einen Freund angerufen, einen pensionierten Arzt, und der hat mich versorgt, bis ich wieder halbwegs fit war. Zum Glück waren keine inneren Organe ernsthaft verletzt. Als ich mich halbwegs auf den Beinen halten konnte, haben wir Klotten in der Nacht verlassen, und ich bin nach Kalabrien gereist, zur Familie des Schwagers meines Vaters. Dort lebte ich die letzten zweiundzwanzig Jahre. Um zu vermeiden, dass die anonyme Anruferin irgendwann ausplaudert, dass ich noch gelebt habe, als sie meinen Vater verständigt hat, erzählte er im Ort von dem Anruf, behauptete aber, mich im Weinberg an dem Abend nicht gefunden zu haben.«
»Ihr Vater hat das alles gut durchdacht«, bemerkte Max. »Eine beachtliche Leistung angesichts der extremen Situation.«
»Ich weiß nicht, ob mein Vater die Situation als so extrem empfunden hat. Seine Gefühle für mich waren nie tief.«
»Urteilen Sie nicht zu hart über ihn? Immerhin hat er Ihnen das Leben gerettet.«
Kautenberger zuckte mit den Schultern. »Ja, vielleicht. Auch das werde ich nicht mehr erfahren.«
Erneut machte er eine Pause, bevor er fortfuhr. »Jedenfalls habe ich die Ereignisse hier im Ort über all die Jahre immer verfolgt. Als ich gehört habe, dass es Gabi plötzlich schlechter ging, bin ich zurückgekommen, weil ich dringend noch etwas mit ihr besprechen wollte, bevor …« Er senkte den Blick. »Ich bin einen Tag zu spät gekommen. Und dann hat jemand Jessica ermordet.«
Max ließ das, was er gerade gehört hatte, ein wenig sacken, bevor er sagte: »Das ist ja eine unfassbare Geschichte.«
»Ja, ich weiß, aber sie ist wahr.«
»Was wollten Sie so dringend noch mit Gabriele besprechen?«
Kautenbergers Blick wurde noch eine Spur trauriger. »Melli darf das nie erfahren.« Er machte eine längere Pause, und so gerne Max auch nachgehakt hätte, ließ er ihm doch die Zeit, die er brauchte. Max ahnte, dass er gleich etwas Wichtiges erfahren würde.
»Ich wollte von Gabriele wissen, ob Jessica meine Tochter ist.«
»Oh!, entfuhr es Max, der mit allen möglichen Gründen für Kautenbergers Rückkehr gerechnet hatte, aber nicht damit.
»Aber waren Sie damals nicht mit Melanie Dobelke zusammen?«
»Wie gesagt, sie darf nie davon erfahren.« Kautenberger sah Max in die Augen, und in seinem Blick lag etwas Flehendes. »Es war nur ein Moment der Schwäche, bei Gabi genauso wie bei mir. Nur einmal. Und dann war sie schwanger … es würde zeitlich passen.«
»Verstehe«, sagte Max. »Und jetzt werden Sie es nicht mehr erfahren. Es sei denn, Sie geben sich zu erkennen und lassen einen DNA -Test durchführen. Dann haben Sie Sicherheit.«
»Nein! Über zwanzig Jahre war ich im Ungewissen, habe mit mir gehadert, ob ich zurückkommen und mit Gabi reden soll, und habe mich immer wieder dagegen entschieden, bis ich hörte, dass sie bald sterben wird.«
Kautenbergers Augen glänzten feucht, dann schwappten die Tränen über und liefen ihm über die Wangen. »Jetzt ist es zu spät. Für Jessica und für mich. Was macht es noch für einen Unterschied, ob sie meine Tochter war oder nicht? Ich war ihr nie ein Vater und werde auch keine Gelegenheit mehr haben, es zu sein.«
»Das ist schlimm.«
»Ja.«
»Haben Sie denn mittlerweile eine Vorstellung, wer es gewesen sein könnte, der Sie damals umbringen wollte?«
Kautenberger ließ sich mit der Antwort Zeit.
»Ich glaube, es war jemand aus meinem damaligen Freundeskreis.«
Die Vermutung kam für Max weniger überraschend, als Kautenberger es vielleicht gedacht hatte. Diese Schlussfolgerung war naheliegend.
»Ich stimme Ihnen zu, es wäre möglich«, sagte er. »Aber das reicht natürlich nicht.«
»Nein, ich weiß. Deshalb habe ich mich auch den dreien gezeigt. Damit sie wissen, dass ich wieder da bin, und vielleicht einen Fehler machen.«
»Sie haben sich allen dreien gezeigt? Ich weiß nur von Achim Brandstätt und Melanie Dobelke.«
»Das wundert mich nicht. Ingo war schon immer eher jemand, der nichts sagt, bis er seiner Sache ganz sicher ist. Deshalb war er auch derjenige, der mir damals am dringendsten ins Gewissen geredet hat, vernünftig zu sein und damit aufzuhören, den Brandstätts Dinge zu unterstellen, die nicht bewiesen waren. Es war dunkel, und ich denke, er hat seinen Augen nicht getraut und wollte abwarten, ob er mich noch mal irgendwo entdeckt. Das sieht ihm ähnlich.«
»Und was ist mit dieser Frau, wie heißt sie noch gleich … Burchert? Was hat die damit zu tun?«
»Ach ja, die Frau.« Kautenberger nickte. »Ich kenne sie nicht. Das war ein Versehen. Sie hat mich zufällig bemerkt, als ich auf dem Weg zu der Stelle im Weinberg war, an der ich damals niedergestochen worden bin. Sie hat meinen Namen gerufen, da bin ich weggerannt.«
»Und dann war da noch Ihre Mutter.«
»Ja, meine Mutter …« Kautenbergers Blick wurde wieder glasig. »Sie hat mit einem anderen Mann ein neues Leben angefangen. Offenbar hätte ich sie bei diesem Vorhaben gestört, deshalb hat sie mich zurückgelassen.«
Er musterte Max eindringlich. »Haben Sie ein gutes Verhältnis zu Ihrer Mutter?«
»Ja.«
»Können Sie sich vorstellen, was es für ein Gefühl ist, von der eigenen Mutter zurückgelassen zu werden bei einem Vater, mit dem man sich überhaupt nicht versteht? Wissen Sie, wie wertlos man sich fühlt, wenn die eigene Mutter …« Er schluckte. »Ich wollte, dass sie sieht, dass ich noch lebe. Ich wollte, dass sie weiß, dass sie trotzdem keine Chance mehr hat, meine Mutter zu sein. Die hat sie damals verspielt. Ähnlich, wie ich es vielleicht auch als Vater getan habe.«
»Das verstehe ich«, sagte Max, auch wenn das nicht ganz stimmte. Wer konnte schon verstehen, was in einem jungen Menschen vorgeht, der das erlebt?
»Ich habe eine anonyme Nachricht bekommen. Wenn ich wissen wolle, was damals passiert ist, soll ich Brandstätt fragen. Den alten oder den jungen. Jemand hat sie unter meiner Zimmertür hindurchgeschoben. Stammt sie von Ihnen?«
»Ja, die habe ich geschrieben. Ich halte es für wahrscheinlich, dass es einer der beiden war, der versucht hat, mich umzubringen, weil sie mich anders nicht mundtot machen konnten.«
»Das ist durchaus möglich. Zumindest hat mein erneutes Auftauchen dazu geführt, dass mir Brandstätt senior endlich von dem Gespräch zwischen dem Kellermeister und seinem Sohn erzählt hat, das Sie damals durch Zufall mitgehört haben. Und Sie haben recht. Dass Sie damals keine Ruhe gegeben haben, wäre ein Motiv. Aber da fällt mir noch etwas anderes ein. Es gibt da jemanden. Kornmeier. Er ist heute Oberkommissar in Cochem. Damals war er noch in der Ausbildung. Sie waren mit ihm befreundet?«
»Tobias Kornmeier … Können Sie ein weiteres Geheimnis für sich behalten? Ich möchte nicht, dass er Ärger bekommt.«
»Das hängt davon ab, um welche Art von Geheimnis es sich handelt. Wenn es in irgendeiner Form strafrelevant ist …«
»Ich wusste, das Tobias Kornmeier damals bis über beide Ohren in Melli verliebt war. Das hat sie mir mal gesagt. Aber er hatte nie eine Chance bei ihr, er war viel zu jung. Und außerdem war sie mit mir zusammen. Aber er himmelte sie an.«
Das erklärte auch, warum Kornmeier so sauer auf Zerbach gewesen war, ging es Max durch den Kopf.
»Als ich in Italien war, habe ich ihn kontaktiert. Ich habe ihm bei Mellis Leben das Versprechen abgenommen, nie jemandem ein Sterbenswort davon zu sagen, dass ich lebe. Auch nicht Melli, weil ich wusste, dass es ihr das Herz brechen würde. Ich habe ihn aber gebeten, auf Melli zu achten. Er war derjenige, der mich über all die Jahre mit Informationen darüber versorgt hat, was mit ihr und in Klotten im Allgemeinen passierte. Von ihm wusste ich auch, dass Gabi schwer krank war und es ihr plötzlich sehr schlecht ging.«
Max dachte über Kornmeier nach. Genau genommen hatte er sich schuldig gemacht, denn es hatte damals einen Mordanschlag auf Kautenberger gegeben, und Kornmeier hatte Informationen zurückgehalten, die dazu hätten führen können, den Fall aufzuklären. Aber das war nichts, weswegen Max die Notwendigkeit sah, aktiv zu werden.
»Wie sehen Sie das denn heute? Ich meine, Ihr Verhalten von damals bezüglich Brandstätt.«
Kautenberger blickte Max verwundert an. »Wie soll ich das sehen? Genauso wie damals. Allein die Möglichkeit, dass ein Winzer aus Klotten so was tun könnte, reicht schon aus, höchst alarmiert zu sein. Ich würde auf jeden Fall wieder alle Hebel in Bewegung setzen, um ihn davon abzuhalten.«
»Aber auf diese Art kann man eine Existenz auch vernichten. Wenn ich das richtig verstanden habe, dann kam diese Idee, den Wein zu panschen, von einem neuen Kellermeister, der daraufhin entlassen worden war. Ein deutliches Zeichen, dass Achim Brandstätt und sein Vater das nicht tun wollten. Das hat man Ihnen auch gesagt, aber Sie haben trotzdem weiter gegen die beiden agiert. Sie wissen, dass so was leicht zu Rufmord werden kann.«
Kautenberger zuckte mit den Schultern. »Ja vielleicht, aber ich riskiere es lieber, die Existenz von jemandem zu vernichten, der mit dem Gedanken gespielt hat zu betrügen, als zuzulassen, dass die Existenzen von vielen anderen vernichtet werden, die unschuldig sind.«
Auch eine Einstellung , dachte Max und überlegte, dass es verwunderlich war, dass Peter Kautenberger das rechtlich nicht korrekte Verhalten von Kornmeier bei seinem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn in Kauf nahm.
»Ich habe es damals schon gehasst, dass die Unschuldigen immer die Dummen sein sollen«, fügte Kautenberger verbittert hinzu.
»Tja, wie gesagt, Ihre Geschichte ist … wow! Aber letztendlich bringt sie uns nicht wirklich weiter.«
»Das ist sehr schade, ich hatte gehofft …«
»Dennoch danke, dass Sie sie mir erzählt haben. Was haben Sie denn jetzt vor? Werden Sie sich wieder offiziell in Klotten zeigen?«
»Nein. Aber ich werde den damaligen Täter dazu bringen, sich zu verraten.«
»Aha! Und was genau bedeutet das?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Warum nicht?«
Kautenberger stemmte sich hoch. »Auch das kann ich Ihnen nicht sagen. Aber ich habe vor unserer Begegnung bereits die nötigen Schritte unternommen, und Sie werden es bald erfahren, ganz sicher.«
Auch Max stand auf und sah den Mann an. Er fragte sich, auf welche Art und Weise das geschehen würde, und wusste nicht, ob er tatsächlich erpicht darauf war.
»Was immer Sie beabsichtigen, Sie sollten damit zur Polizei gehen und denen alles erzählen. Auch, was genau Sie vorhaben. Die sind für solche Fälle ausgebildet und wissen, was zu tun ist.«
»Sie meinen so, wie sie es damals wussten, als mein Fall untersucht wurde?«
»Dass Sie freiwillig untertauchen würden, damit konnte doch wirklich niemand rechnen.«
Max sah ein, dass er so nicht weiterkommen würde.
»Bringen Sie sich nicht unnötig in Gefahr.«
»Keine Angst, das tue ich nicht. Und Sie haben recht. Ich vertraue letztendlich trotz der ergebnislosen Ermittlungen damals darauf, dass diejenigen, die dafür ausgebildet wurden, es schaffen, den Täter zur Strecke zu bringen. Mit meiner Hilfe.«
»Das ist eine gute Einstellung«, sagte Max, obwohl er nicht nur bezüglich Hauptkommissar Zerbach unsicher war. Irgendetwas an der Art, wie Peter Kautenberger das gesagt hatte, gefiel ihm nicht.
Die beiden Männer traten gemeinsam ins Freie, doch Kautenberger begleitete Max nicht zurück auf die Straße, sondern blieb vor dem verlassenen Haus stehen. Der Regen war wieder in ein unangenehmes Nieseln übergegangen.
»Ich wünsche Ihnen viel Erfolg. Ich habe meinen Teil dazu beigetragen, dass der Täter gefasst wird und nach all der Zeit jetzt seine gerechte Strafe erhält.«
Max nickte ihm zu und wandte sich ab. Und das flaue Gefühl in ihm wurde immer intensiver.