Ein paar Leibwächter des Präsidenten hatten sich auf den armen Mann geworfen und ihn unter heftigstem Protest und verschwörerischem Geschrei nach draußen gezerrt. Hellen sah Tom entsetzt an.
„Wenn das stimmt, sollten wir uns beeilen. Wenn uns, kurz bevor wir Kitesch finden, ein Erdbeben einen Strich durch die Rechnung macht, bin ich sauer!“
Tom lächelte. Er mochte es, wenn Hellens Ehrgeiz geweckt war. Dieses Funkeln in ihren Augen hatte ihn schon damals, als sie sich rund um die Habsburger Affäre in Wien kennengelernt hatten, begeistert. Seitdem hatte sie einiges erlebt und das Feuer in ihr war gewachsen. Tom konnte nicht verhehlen, dass er das mächtig attraktiv fand.
„Ja, WENN das stimmt. Wir sollten mit diesem Graf Bumsti reden und checken, ob seine Geschichte stimmt oder nur aus Marzipan ist.“
Hellen sah Tom verstört an.
„Marzipan?“
„Ein Insider-Joke“, setzte er zu seiner Verteidigung nach.
„Den wie immer nur du lustig findest“, kam ihre prompte Antwort. Sie lächelte. „Das ist nicht Graf Bumsti, sondern der berühmte Erdbebenforscher Sir Hillary Graves.“
„Nie von ihm gehört“, erwiderte Tom.
Nachdem sämtliche Gäste des kleinen Empfangs von der Bühne gebeten worden waren, wurden die Türen zum Festsaal geöffnet und das Publikum strömte ihn den Saal. Die Musiker des Orchesters nahmen ebenfalls ihre Plätze ein. Man hörte die für klassische Konzerte übliche Glocke schrillen. Das Zeichen, dass die Aufführung in Kürze beginnen würde. Der Gouverneur, der Patriarch und der Präsident waren zusammen mit den Securitys hinter dem Vorhang verschwunden.
„Ok, dann müssen wir diesen Sir nachher befragen. Und diesen Typen aus Wales möchte ich mir noch mal zur Brust nehmen. Der ist mir suspekt“, sagte Tom und kramte in der Innentasche seines Smokings nach den Tickets, damit die beiden ihre Plätze finden konnten.
„Was müssen wir jetzt über uns ergehen lassen?“, fragte er.
Hellen winkte mit dem Abendprogrammheft.
„Eine echte Rarität. Und so unglaublich passend. Wir hören heute Nikolai Rimski-Korsakows Oper Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch .“
„Verdammt, davon gibts ne Oper?“
Hellen nickte belustig. Sie wusste, dass man Tom mit solchen Sachen jagen konnte.
„Ich traue mich gar nicht zu fragen. Wie lange dauert das Machwerk – ungefähr?“ Er wackelte mit der Hand.
Hellen musste lachen, weil sie sich bereits auf Toms Gesicht freute, bevor sie ihm eine Antwort gegeben hatte.
„Vermutlich dreieinhalb Stunden.“
„Wie bitte? Dreieinhalb Stunden? Auf Russisch?“
„Du schaffst das!“ Hellen klopfte Tom aufmunternd auf die Schulter.
„Erinnere mich daran, dass ich von diesem Patriarchen einen Gefallen einfordere. Dreieinhalb Stunden russische Gesänge. Das verstößt ja gegen die Menschenrechte.“
Sie nahmen ihre Plätze ein und es wurde still im Saal. Der Gouverneur, der Patriarch und der russische Staatspräsident betraten die Bühne, was für gehöriges Raunen, Pfiffe und Applaus bei den Gästen sorgte.
„Offenbar wollen sie dem Publikum das Kreuz präsentieren“, flüsterte Hellen, als der Patriarch zu sprechen begann.
„Oder sie teilen uns die Lottozahlen der letzten Woche mit, denn verstehen tun wir nicht, was sie da reden.“
Tom war aufgefallen, dass Pater Fjodor, der sonst niemals von der Seite des Patriarchen wich, nicht mit auf die Bühne gekommen war. Tom durchsuchte den Zuschauerraum und sah, dass der Sekretär durch eine der Seitentüren den Raum verließ. Auch Hellen hatte es bemerkt. Mit gerunzelter Stirn wechselten sie einen raschen Blick.
„Warum geht der Sekretär gerade jetzt raus?“, wunderte sich Hellen.
„Und warum sieht der Glatzkopf, der neben diesem Waliser und Mr. Quadir sitzt, pausenlos auf die Uhr?“ Tom deutete zum Waliser, als er ihn zwei Reihen weiter vorne im Publikum erspäht hatte.
„Тихо!“, zischte eine ältere Dame aus der Sitzreihe hinter Tom.
„Ich habe zwar keine Ahnung, was sie von uns will, aber ich denke, sie möchte uns liebevoll darauf hinweisen still zu sein, wenn der Diktator spricht.“
Der russische Präsident hatte das Wort übernommen. Der Patriarch reichte ihm die Schatulle, in der das Kreuz gebettet war.
„Die Leute sind gespannt wie ein Regenschirm“, flüsterte Tom, als er durch die Reihen sah.
„Ja, die Menschen kleben förmlich an seinen Lippen.“
Der Präsident hatte das Kreuz aus der Schatulle genommen und zeigte es voller Stolz dem Publikum. Tosender Applaus.
„Kitesch ist für diese Menschen hier eine große Sache. Fast so groß wie …“
„… wie der Auftrag, den uns deine Mutter geben wollte und der jetzt wegen dem hier warten muss?“, ergänzte Tom, der Hellens Gedanken genau kannte.
„Ja, genau. Was uns Mutter da gezeigt hat, ist mit nichts zu vergleichen. Das wäre für die ganze Welt eine Sensation, wenn wir …“
In diesem Augenblick, mitten in der glühenden Rede des Präsidenten ging im ganzen Saal das Licht aus und es war stockdunkel.