Kapitel 1
Der Tag, an dem Jordan James seinem Leben ein Ende setzen wollte, schmeckte nach Salz und Sand.
Es war so lange her, dass er etwas geschmeckt hatte, dass er irritiert am Geländer der Veranda stehenblieb und mehrmals die Nase hochzog. Prüfend bewegte er die Zunge, presste sie gegen den Gaumen, schluckte salzigen Speichel.
Ein Ende setzen.
Das klang viel zu melodramatisch.
War auch zu lang für einen Punkt auf seiner To-Do-Liste.
Aufstehen. Duschen. Kaffee trinken. Meinem Leben ein Ende setzen.
Besser: Sterben.
Kurz und knackig.
Wenn er es recht bedachte, hätte er sich das Duschen sparen können. Reine Gewohnheitssache. Wie auch sein Leben zu einer lästigen Gewohnheitssache geworden war. Grund genug zum Sterben, oder? Er horchte in sich hinein, suchte nach der dumpfen Trauer, der reißenden Verzweiflung, irgendeinem Gefühl, und fand nur Leere und Überdruss.
Ja, er war des Lebens überdrüssig.
Dem, was er so als Leben bezeichnete.
Verdammt, er war es leid. Leid, zu warten, dass er irgendwann von selbst starb. Das konnte noch ewig dauern. Endlose, öde Tage, die sich vor ihm erstreckten wie das Meer, das den Salzgeschmack mitbrachte. Zumindest sah das Meer noch interessant kabbelig aus und unter der wogenden Oberfläche gab es vermutlich eine Menge zu entdecken, was auf Jordan nicht zutraf. Nichts davon.
Reglos starrte er auf die Wellen, die an den Strand brandeten und sich zurückzogen und an den Strand brandeten, bis er blinzeln musste.
Die letzte Dusche, der letzte Kaffee. So genau hatte er nicht darüber nachgedacht. Der Plan war gefasst und er würde ihn durchziehen, da war er leidenschaftslos. Beinahe hätte er gelacht. Leidenschaft … ein Begriff, der schon lange nicht mehr zu ihm gehörte.
Bedächtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Hatte er es mal gemocht, durch den Sand zu gehen? Er konnte sich nicht erinnern. Er konnte auch nicht erkennen, ob sich das raue Kribbeln an seinen Fußsohlen gut oder unangenehm anfühlte. Es war da. Wie er. Und bald würde er nicht mehr da sein.
Sollte dieser Gedanke ihn trösten oder erschrecken?
Egal.
Wasser leckte an seinen Zehen.
Füllten die Fußspuren im Sand.
Moment mal. Wo kamen die denn her? Von ihm sicher nicht, er hatte nicht so lange Füße. Er schaute nach rechts, nach links. Leerer Strand, soweit das Auge reichte. Und er sah ziemlich gut. Sein Körper war sowieso gut in Schuss, viel zu gut, um weiter passiv auf den Tod zu warten. Dazu fehlte ihm die Geduld.
Die Fußspuren zogen sich entlang der Wasserkante. Kein Zweifel, hier war jemand entlangspaziert. An seinem Strand. Das konnte er natürlich ignorieren. Was ging ihn das an? Aber was, wenn jemand ihn sah? Wenn der unbekannte Strandläufer beobachtete, wie er ins Meer watete, weiter und weiter, wenn dieser Jemand womöglich noch auf die Idee kam, ihn retten zu wollen …
Zu dem allgegenwärtigen Überdruss gesellte sich ein neues Gefühl. Neugier? Erst der Salzgeschmack und jetzt das. Das Universum legte sich ja richtig ins Zeug.
Jordan gab auf.
Er folgte den Spuren im Sand bis zu den Dünen. Weit brauchte er nicht zu gehen. Zwischen zwei Sandhügeln zog sich eine Schneise hindurch. Ein Zelt leuchtete rot vor dem Grün der langen Grashalme, die sich im Wind wiegten.
Von dem Strandläufer war nichts zu sehen.
Das Zelt sah nagelneu aus. Die Heringe, die aus dem Sand ragten, glänzten in der Sonne. Ein surrendes Geräusch drang durch das Rauschen des Windes und des Meeres. Jemand zog den Reißverschluss am Zelteingang hinunter. Die Planen klafften auseinander und spuckten einen Menschen aus.
Einen Mann.
Er kroch auf Händen und Knien aus dem Zelt, stand auf und schaute sich um. Als sein Blick Jordan traf, zeigte er keinerlei Regung. Blieb mit hängenden Armen stehen und starrte ihn mit ausdrucksloser Miene an.
Jordan starrte zurück.
Der Mann trug ein Tanktop, das wohl mal schwarz gewesen war. Nun sah es grau und dreckig aus. Dazu passten die Shorts von undefinierbarer Farbe. Sein Haar war an den Seiten abrasiert bis auf einen Streifen auf dem Scheitel. Von dort aus fielen ihm schwarze, wirre Strähnen ins unrasierte Gesicht. Er war mager. Nicht auf die zierliche Art, sondern wie ein ausgemergelter, ehemals muskulöser Windhund. Alles an ihm war kantig. Die breiten, knochigen Schultern, das hagere Gesicht, und die Hand, die er nun langsam hob, um damit seine Augen zu beschatten. Klar, Jordan hatte die Sonne im Rücken. Dem Mann schien sie genau ins Gesicht. Vermutlich sah er von Jordan nur eine Silhouette.
Jordan musste etwas sagen.
»He!«
Der Mann rührte sich nicht.
»He! Das hier ist Privatgelände!«
»Das hier ist Strand. Der gehört allen.«
Die Stimme des Mannes war so kantig wie sein Aussehen. Rau, tief, brüchig und doch von einer eigenartigen Schärfe.
»Nein. Dieses Stück Strand nicht.«
»Sagt wer?«
Jordan hatte nicht die geringste Lust, dem Kerl seinen Namen zu verraten. Er wollte nicht, dass der hier zeltete. Schließlich hatte er einen Haufen Geld dafür bezahlt, um seine Ruhe zu haben. Ein abgelegenes Haus an einem Privatstrand. Nicht an einem Campingplatz.
»Verschwinde!«, forderte er den Eindringling auf.
Der hob einen Mundwinkel.
Eine Spur von Ärger stieg in Jordan auf. »Wenn du bis drei Uhr nicht weg bist, rufe ich die Polizei.«
Das war doch wohl fair. Gab dem Mann mehr als zwei Stunden Zeit, seinen Kram zu packen und abzuhauen. Der Kerl ließ mit keiner Regung erkennen, ob er Jordan verstanden hatte. Stand nur da und grinste schief. Falls diese verächtliche Grimasse ein Grinsen darstellen sollte.
Da Jordan nichts mehr zu sagen hatte, und der Mann offenbar auch nicht, drehte er sich um und machte sich auf den Rückweg. Zwischen seinen Schulterblättern kribbelte es, als könnte er den Blick des Mannes dort spüren. Er drehte sich nicht um.
Zurück auf der Veranda atmete er tief durch. So hatte er sich seinen Todestag nicht vorgestellt. Er hasste Überraschungen. Dieser Kerl in den Dünen mit seinem roten Zelt hatte seinen Plan durcheinandergebracht. Der war simpel genug gewesen. Ins Meer gehen. Ertrinken.
Bei näherer Betrachtung sah er einen dicken Haken beim Punkt »Ertrinken«. Er konnte schwimmen. Das würde es nicht gerade leichter machen.
Der Plan war scheiße.
Warum war ihm das nicht früher aufgefallen?
Weil er eine verdammte Dramaqueen war, darum. Er hatte sich das so schön ausgemalt. Ein einsames Strandhaus. Ein düsterer Strand, das graue Meer, hohe Wellen, eine schwankende Gestalt, die auf das Wasser zutaumelte und von der Dunkelheit verschluckt wurde …
Frieden. Ruhe. Das große Nichts.
Andere Bilder schoben sich vor seine Fantasie. Knallige Sonne. Endloses Schwimmen. Ein kantiger Kerl, der am Strand hin und her lief und über diesen vergeblichen Selbstmordversuch eines lächerlichen Typen grinste.
Das ging so nicht. Er musste es anders angehen.
Aber nicht an diesem Tag. Er wollte sich später vergewissern, ob der Mann weg war.
Und was, wenn der sich nicht vertreiben ließ?
Sollte Jordan wirklich die Polizei rufen?
Die hatten vermutlich besseres zu tun, als einen einzelnen Camper aus den Dünen zu verjagen. Oder wäre es sinnvoller, den Vermieter des Hauses zu kontaktieren? Käme etwas seltsam rüber, da Jordan die üblichen Wachtposten extra abbestellt hatte. Gegen einen Aufpreis. Konnte er doch nicht ahnen, dass dies gleich ausgenutzt wurde.
Das war alles zu viel für Jordan. Er wollte sich nicht mit solchen Entscheidungen herumschlagen. Er wollte seine Ruhe haben, war das denn so schwer?
Vor allem Ruhe vor seinen eigenen Gedanken, die lärmend durch seinen Kopf rasten, ihm Worte zuraunten, ihm Bilder zeigten, ihn anbrüllten, donnerten …
Donnerten?
Erneut grollte ein fernes Donnern. Nicht in Jordans Einbildung, sondern in echt. Links hinter den Dünen zogen pechschwarze Wolken auf. Über dem Meer färbte sich der Himmel in einem fahlen Gelb. Jordan ging ins Haus und griff nach dem Smartphone auf dem niedrigen Wohnzimmertisch. Er ließ sich auf das Sofa fallen und suchte im Internet nach Wetternachrichten. Unwetterwarnung.
Ob er versuchen sollte, sich von einem Blitz erschlagen zu lassen? Wie gut standen die Chancen, wenn er sich an den Strand stellte? Andererseits hatte er von vielen Menschen gelesen, die einen Blitzschlag überlebt hatten. Mit üblen Folgeschäden. Darauf konnte Jordan verzichten. Also blieb er auf dem Sofa sitzen und beobachtete durch das Panoramafenster, wie es draußen dunkel wurde, als wäre es bereits Abend. Erstaunlich, wie schnell das Wetter hier am Meer umschlug. Eben noch Sonne, nun Weltuntergang. Wind heulte um das Haus, brachte die gläserne Schiebetür zur Veranda zum Klirren. Jordan sollte sie wohl besser schließen, konnte sich aber nicht aufraffen.
Sand wehte ins Wohnzimmer. Ein Blitz zuckte aus den schwarzen Wolkenbergen Richtung Horizont, für den Bruchteil einer Sekunde wurde es über dem aufgewühlten Meer taghell. Ein gewaltiger Donnerschlag brachte das Haus zum Beben. Womöglich war Jordan auch einfach nur zusammengezuckt. Er stand nun doch auf, magisch angezogen von dem Spektakel draußen. Die Luft roch nach Ozon. Wind zerrte an seinen Haaren. Sand peitschte ihm ins Gesicht. Wäre wohl besser, wenn er die Tür zuzog.
Stattdessen trat er auf die Veranda, kniff die Augen zusammen. Nach dem nächsten Donner öffnete der Himmel seine Schleusen. Ein Klischee, aber es war der Ausdruck, der Jordan zuerst einfiel. Der Regen rauschte sofort wie eine Sturzflut auf ihn hernieder, ohne jegliches vorbereitendes Getröpfel, durchnässte ihn innerhalb weniger keuchender Atemzüge bis auf die Haut. Er schien von allen Richtungen zu kommen. Ein bisschen wie in einer Autowaschanlage. Mit Lightshow und Soundeffekten.
Jordan dachte an den Mann in den Dünen. Der war hoffentlich schlau genug gewesen, sich vor dem Sturm davonzumachen.
Als hätte Jordans Gedanke es herbeigerufen, wirbelte etwas Rotes am Strand entlang.
Das Zelt.
Entweder der Mann war ohne sein Zelt abgehauen oder …
… hockte jetzt in den Dünen und fluchte.
Geschah ihm recht. Schließlich standen überall Schilder, die auf das Privatgelände hinwiesen. Betreten verboten. Der Kerl hatte an diesem Teil des Strandes nichts zu suchen. Ganz schön dreist, hier einfach sein Zelt aufzuschlagen. Jetzt konnte er sehen, wo er blieb.
Jordan dagegen konnte sich in die Sicherheit seines Hauses zurückziehen. Einen Kaffee trinken. Oder einen Whisky aus der bestens ausgestatteten Hausbar. Durch das Fenster das Gewitter anschauen.
Oder er konnte in den Sturm rennen, sich gegen den Wind stemmen, der ihm den Atem von den Lippen riss.
Richtung Dünen.
Er wischte sich Regen aus den Augen, suchte nach der Schneise zwischen den Sandhügeln. Bei jedem Schritt sank er bis zu den Knöcheln ein. Der Mann war bestimmt fort. Wer würde bei einem solchen Unwetter nicht das Weite suchen? Oder, besser, den Schutz eines Gebäudes oder eines in der Nähe geparkten Autos. Der Mann musste ja irgendwie hier hingekommen sein. Wieso hatte der sich ausgerechnet diesen Ort ausgesucht, um sein blödes rotes Zelt aufzuschlagen?
Ohrenbetäubender Donner. Das fahle Zwielicht immer wieder von stroboskopartigem Flackern erhellt. Jordan kämpfte sich weiter. Er konnte sich nicht erinnern, bei so einem Wetter schon mal draußen gewesen zu sein. Offenbar gab es einiges, das er noch nicht erlebt hatte. Körnige Wasserböen schubberten über seine Haut. Der Wind riss den feuchten Sand mit sich, vermischte ihn mit dem Regen. Und schleuderte ihn Jordan ins Gesicht. Er blinzelte, rieb sich die Augen. Ein Blitz tauchte die Dünen vor ihm in grelles Weiß. Das war die Stelle. Vielleicht.
Hinter der Schneise eine Mulde. Jordans Fuß blieb an etwas hängen, glühender Schmerz jagte durch seinen Zeh. Im nächsten Moment lag er im Sand, die Luft wurde durch den Aufprall aus seinen Lungen gepresst. Nasser Brei quoll ihm in Mund und Nase. Er stemmte sich hoch, spuckte und würgte. Vor ihm ragte der nächste Hering aus dem Sand. Na großartig. Zelt weg, Heringe noch da. Das Ding würde er an Stelle des Campers reklamieren.
Er setzte sich auf, versuchte, sich das Gesicht abzuwischen, und machte es noch schlimmer, Sand geriet ihm in die Augen, brachte sie zum Tränen und Brennen. Sein Zeh sendete pulsierende Schmerzwellen durch sein Bein, dann seinen ganzen Körper. Beim nächsten Blitzlicht begutachtete Jordan ihn. Sah aus wie immer, eine bleiche Wurst an seinem Fuß, paniert mit dunklem Sand. Doch als er ihn berührte, traf es ihn wie einen Elektroschock. Er sog zischend die Luft ein. Scheiße, hoffentlich war der nicht gebrochen. Viel machen konnte man da nicht, war der Zeh neben dem kleinen Zeh. Ringzeh, sozusagen. Den könnte er höchstens an den Nachbarzeh tapen und abwarten. Mick hatte ein paar Shows mit gebrochenem kleinen Zeh abgeliefert und niemand, der es nicht wusste, hatte etwas gemerkt.
Stopp.
Gefährliches Terrain.
Jordan hob den Kopf, ließ den Regen den Dreck aus seinen Augen spülen und die bösen Gedanken aus seinem Hirn. Wenn das nur so einfach wäre.
»He, Mann mit dem Zelt!«, rief er.
Durch das Heulen des Windes, den Donner und die tosenden Wellen hörte er seine eigene Stimme kaum. Er rief lauter: »Zeltmann!«
Quatsch. Der Mann hatte kein Zelt mehr. Das war meilenweit am Strand entlanggefetzt worden. Trieb womöglich schon auf dem Meer.
»Mann ohne Zelt!«, brüllte Jordan. Er war ja so ein Komiker. Dafür liebte man ihn. Hatte ihn geliebt. Nun war er nur noch ein Tölpel, der mit pochendem Zeh während eines Gewitters im nassen Sand hockte.