Kapitel 12
Jordan stützte sich auf der Küchentheke ab. Seine Arme zitterten und ihm war schwindelig. Dieser elende Geruch nach Rührei und Toast … er hatte seit dem Unfall beides gegessen. Doch nie hatte ihn ein so heftiger Flashback getroffen. Für ebenso quälende wie kostbare Sekunden war er bei Stu gewesesen. Als wäre er in seine Vergangenheit zurückgereist. Er glaubte sogar immer noch, ihn lachen zu hören.
Ohne genau zu wissen, was er vorhatte, taumelte er ins Schlafzimmer. Sank auf das Bett und verzog das Gesicht, als er die zerwühlten Laken sah. Scham schnürte ihm die Kehle zu. Wie war er nur auf die bescheuerte Idee gekommen, dass sowieso alles egal war?
Und was ist besser? , wisperte seine innere Stimme. Dich weiter in Selbstmitleid zu suhlen, oder Sex mit einem wildfremden Kerl zu haben?
So schnell es auch vorbei gewesen war - während Storm seinen Schwanz gelutscht hatte wie ein Profi, hatte Jordan alles vergessen.
Auch Stu?
Und was ist schlimm daran, dem Schmerz für eine Weile zu entfliehen?
Schließlich tat er doch die ganze Zeit nichts anderes, als zu versuchen, eben nicht an Stu zu denken. Warum sonst wendete er ständig die Stopp-Methode an, um alles zu verdrängen, was auch nur entfernt mit seiner Vergangenheit als Mitglied von Sinners Wear Socks zu tun hatte? Und mit Stu?
Vorhin, an der Rühreipfanne, hatte er seit Ewigkeiten das erste Mal zugelassen, dass sich Stu für längere Zeit in seine Bedanken drängte als für ein kurzes, stechendes Aufflackern. Hatte er die Erinnerung umarmt.
Und was war passiert? War er etwa gestorben? Zusammengebrochen? Er hatte lediglich das Rührei anbrennen lassen und Storm rausgeworfen.
Und jetzt krümmte er sich nicht als heulendes Bündel auf dem Boden zusammen, sondern saß auf dem Bett und konnte erstaunlich klar die Ereignisse Revue passieren lassen.
Wie von selbst bewegte sich seine Hand zur Schublade des Nachtschränkchens neben dem Bett, zog sie auf. Er tastete nach der Brieftasche und nahm sie heraus. Das Foto war noch da. Versteckt hinter ein paar alten Quittungen in dem mittleren Reißverschlussfach, das Jordan seit Jahren nicht angerührt hatte. Oder doch? Das Foto sah erstaunlich abgegriffen aus. Es zeigte ihn mit Stu, an einem Strand, sie strahlten in die Kamera, die Arme umeinander gelegt, das Haar zerzaust.
Je länger Jordan auf das Foto starrte, desto deutlicher spürte er den Wind, der mit seinem Haar spielte, die Wärme von Stus Hand auf seiner Hüfte, roch den Duft von Stus Haut, nach Sonnenmilch und Sand. Das Foto war während einer Tour aufgenommen worden, an einem ihrer seltenen freien Tage. Sie waren gemeinsam zum Strand gefahren, die ganze Band, in einem Cabrio. Während der Fahrt hatten sie gesungen und Dave hatte zu viel getrunken, wie üblich. Jordan sah vor sich, wie er eine leere Bierdose aus dem Auto schleuderte und dabei grölte. Einen Tag lang waren sie frei gewesen.
Doch nicht frei genug.
Denn Jordan erinnerte sich auch noch an das andere. Das, was am Strand passiert war, als er allein mit Stu im Sand gelegen hatte. Sie hatten sich ein Badetuch geteilt, weil Stu, schusselig wie immer, seins vergessen hatte. Die anderen tobten im Meer herum, aber sie waren liegen geblieben, so dicht nebeneinander, dass Jordan die Hitze hatte spüren können, die von Stus Körper ausgegangen war. O ja, Jordan erinnerte sich daran, wie er wie in einem Traum die Hand ausgestreckt und mit den Fingerspitzen Stus Schulterblatt berührt hatte, wie er die Tätowierung auf seinem Rücken nachgefahren war … wie seine Lippen die Finger abgelöst hatten …
… und er erinnerte sich daran, dass Stu ihn abgeschüttelt hatte wie eine lästige Fliege, dass er aufgesprungen war, sein gerötetes Gesicht in verzweifelter Sehnsucht verzerrt. Erinnerte sich an seine Stimme, heiser und rau: »Hör verdammt noch mal auf damit. Du hast es versprochen. Hör auf mit dem Scheiß.«
Erinnerte sich an die Mischung aus Wut und Resignation, die ihn auf dem Badetuch festgehalten hatte, während Stu zu den anderen ins Meer rannte, mit ihnen herumtobte und lachte, als ginge ihn das alles nichts an. Als ginge ihn Jordan nichts an.
Ein Klopfen ließ ihn aufblicken. Storm lehnte an der offenen Schiebetür. »War das vorhin ein Rauswurf für immer oder hast du dich wieder eingekriegt?«
Er war blass um die Nase und sah aus, als wäre ihm schlecht.
Erneut wurde Jordan von einer Woge Scham überspült, diesmal, weil er sich wie ein Arschloch benommen und es nicht mal bemerkt hatte.
»Nein, Quatsch. Nicht für immer. Ich … hab bloß an was gedacht.«
Storm sah ihn stumm an. Erwartete er eine Entschuldigung? Schließlich stieß er sich von der Tür ab und schlenderte auf seine raubtierhafte Art durch den Raum, setzte sich neben Jordan.
Dreist wie immer.
Gegen seinen Willen musste Jordan grinsen. Dieser Kerl nahm sich echt eine Menge heraus. Eigentlich hätte ihn das abstoßen müssen, doch es zog ihn im Gegenteil an.
»Dein Ex?«, fragte Storm und deutete auf das Foto, das Jordan in den Händen hielt. »He, Moment mal, das ist dieser dunkelhaarige melancholische Typ, der Träumer, oder? Aus deiner Band.«
Rasch steckte Jordan das Foto zurück in seine Brieftasche, als könnte allein Storms Blick es beschmutzen.
»Aha!«, hörte er Storm sagen. »Verstehe. Ihr wart ein Paar und das durfte niemand wissen, was?«
»Wie kommst du denn auf den Mist?«, murmelte Jordan.
»Naja, Boygroup und so. Mädchenschwarm. Garantiert wollte euer Manager nicht, dass ihr offen schwul seid. Stimmt's oder hab ich recht?«
»Stuart war nicht offen schwul. Er hat sich sogar eingeredet, dass er überhaupt nicht schwul ist.« Und wieso redete Jordan überhaupt mit Storm über ihn? Wahrscheinlich, weil er ein Fremder war. Jemand, dessen Urteil Jordan nicht gleichgültiger hätte sein können. Jemand, den er nie mehr wiedersehen würde.
»Aber du«, sagte Storm. Keine Frage, eine Feststellung. »Oder bi oder so. Jedenfalls stehst du auf Kerle. Und auf dem Foto seht ihr aus wie verliebt.«
»Das waren wir«, sagte Jordan rau. Ein masochistischer Teil von ihm drängte ihn dazu, weiterzureden, eine Blöße zu zeigen, Storm die Gelegenheit zu bieten, verletzende Kommentare abzulassen. »Mir wär's egal gewesen, wenn es alle gewusst hätten. Aber Stu nicht. Er hat mich zurückgewiesen. Seine Karriere war ihm wichtiger.« In Jordans Stimme lag nicht mal ein Hauch von Bitterkeit. Darüber war er hinaus. Er empfand nur noch Trauer und Bedauern über das, was sie hätten haben können.
»Du hast aber nicht locker gelassen, was?«, sagte Storm überraschend sanft.
Jordan schüttelte den Kopf. Er starrte auf seine geballten Fäuste. »Vermutlich war das damals einer der Gründe, warum es nicht mehr funktioniert hat. Mit uns. Mit der Band.«
»Schuldgefühle?«
»Nicht deshalb.« Es wäre sogar besser gewesen, wenn sich die Band damals für immer getrennt hätte.
Storm saß so dicht neben ihm, dass er seinen Atem auf seiner Wange spürte. Mit einem mal konnte er seine Nähe nicht länger ertragen. Er stand auf. »Du siehst übrigens scheiße aus.«
Storm schaute zu ihm hoch, ohne eine Miene zu verziehen. Seine Gesichtszüge wirkten wieder kantiger als am Morgen. »Na besten Dank auch. Kann nicht jeder so ein Schönling sein wie du, Blondie. Oder dein Schwarm.«
»So meinte ich das nicht. Du bist total bleich. Zeit für ein Frühstück.«
»Klar. Mittag ist ne gute Zeit, um zu frühstücken.«
Er klang, als meinte er das ernst. Jordan hatte noch keinen Menschen kennengelernt, den er so schwer einschätzen konnte wie ihn. Ob ihn gerade das an ihm reizte?
Jedenfalls folgte er Jordan aus dem Schlafzimmer. »Diesmal mache ich aber die Eier.«
Jordan winkte ab. »Keine Eier. Wenn du willst, kannst du den Bacon essen, der ist noch gut.«
»Bacon auf Toast, klingt super.« Jetzt hörte sich Storm eindeutig sarkastisch an. »Dass du sowas überhaupt zu dir nimmst. Ich dachte immer, ihr Stars steht mehr auf Superfood. Weizengrasdrink, grüne Smoothies und ähnliche Scherze.«
»Ich steh auf Kaffee.«
Und darum machte sich Jordan auch gleich einen. Und einen für Storm, der nicht protestierte, als Jordan den gefüllten Becher vor ihn auf den Küchentresen stellte. Er hatte auf einem der Barhocker Platz genommen. »Ich weiß, was dein Problem ist«, verkündete er nach dem ersten Schluck.
Jordan stellte noch einen Teller mit Toast, einen weiteren mit den krumpeligen Streifen Bacon und Butter und Marmelade auf die Theke. »Dann bist du weiter als jeder meiner Therapeuten«, sagte er leichthin.
»Ja, es war nämlich der Geruch.« Während Storm sich einen Streifen Bacon in den Mund schob, ließ er Jordan nicht aus den Augen. »Eier, Toast, das komplette Frühstücksduftprogramm. Das hat was ausgelöst und es hat dir nicht gefallen.«
»Woher weißt du das denn?«, knurrte Jordan.
»Woher wohl? Ich kenn den Scheiß. Funktioniert übrigens auch mit Geräuschen.«
Jordan musste schlucken. Er vergaß oft, dass er nicht der einzige Mensch auf der Welt war, der traumatische Erlebnisse hinter sich hatte. Mit Sicherheit hatte Storm jede Menge Mist im Knast durchmachen müssen. Und davor vermutlich auch schon. Er machte auf Jordan nicht den Eindruck eines Menschen, der eine behütete Kindheit hatte genießen dürfen.
»Sag mal, welche Rolle hätte ich eigentlich in einer Boygroup?«, fragte Storm mit vollem Mund.
»Rolle?«
»Na, jeder spielt doch eine Rolle in diesen Bands. Du warst bei Sinners Wear Socks der strahlende Sonnenschein, der Typ, der immer gut drauf ist und den alle lieben. Dein Stu musste den nachdenklichen Träumer spielen. Dann gab es noch den dümmlichen Muskelprotz, den nerdigen Schlaumeier und den Checker, der alles am Laufen hält. Seid ihr eigentlich gecastet worden und man hat euch die Rollen zugeteilt oder wart ihr schon vorher so? Ein bisschen?«
»Tim war jedenfalls nicht dumm.« Und Stuart … ja, er war ein Träumer gewesen. Und er hatte eine dunkle Seite gehabt, sich manchmal in düsteren Stimmungen verloren. Aber er war auch witzig gewesen, charmant, konnte alle mit seiner guten Laune mitreißen …
»Macht einen kaputt, ständig eine Rolle zu spielen, was?« Storm griff nach dem nächsten Stück Bacon, kaute noch an Toast.
»Das machst du doch auch. Spielst den harten Kerl, den nichts erschüttern kann.« Jordan verschränkte die Arme.
»He, ich bin ein harter Kerl. Das wäre also meine Rolle in der Band? Nicht schlecht.«
Storm grinste, doch diesmal ließ sich Jordan nicht täuschen. Irgendetwas hatte sich geändert. Storm aus der Bahn geworfen. Und das war sicher nicht Jordans rüder Ton von vorhin gewesen.
»Wo warst du eben?«
»Am Strand. Viel mehr gibt es hier ja nicht.« Storm hob die Schultern. »Hast du schon gehofft, du bist mich los? No, Sir. Du hast mich noch nicht bezahlt. Außerdem denke ich, da ist noch mehr zu holen. Du hattest noch nicht oft genug Spaß. Würde gegen meine Gaunerehre sprechen, dir den nicht noch zu verschaffen, bevor du ins Wasser gehst.«
»Wenn es mir Spaß machen soll, dir zuzusehen, wie du fettiges Essen in dich reinstopfst - vergiss es. Da musst du dich schon mehr ins Zeug legen.«
»Wie wäre es für den Anfang, dass du auch mal was von dem Fettkram nimmst?« Auffordernd schob Storm Jordan den Baconteller rüber. Zögernd nahm Jordan ein Stück. Das war schließlich der Deal, oder? Und schmeckte wirklich nicht übel.
»Und was hast du als Nächstes geplant?« Erstaunt stellte Jordan fest, dass er wirneugierig darauf war. Allmählich fand er Gefallen an dem Deal. Lenkte ihn zumindest besser ab als Bingewatching von hohlen Serien.
»Lass dich überraschen.«