Kapitel 17
»So, du Freak.« Saul spuckte die Worte aus, während er Storm aggressiv musterte.
Es war gar nicht so lange her, dass Storm in einer solchen Situation den Blick gesenkt hätte. Er hatte auf die harte Tour gelernt, dass man im Knast am besten überlebte, wenn man Streit aus dem Weg ging, statt ihn zu suchen. Wenn man jeglicher Provokation auswich. Kein Blickkontakt. Außer man legte es auf einen Kampf an. Doch hier war nicht der Knast und Saul war auch keiner der hartgesottenen Kerle, denen Storm dort begegnet war, sondern nur ein Manager-Heini, der Jordan herumkommandierte. Und Jordan ließ es auch noch zu. Das ärgerte Storm mehr, als es sollte. Umso mehr hatte es ihn überrascht, dass Jordan ihn verteidigt hatte. So halbwegs, jedenfalls.
Also starrte Storm zurück und registrierte befriedigt, dass Sauls Blick anfing zu flackern und der Mann schließlich blinzelte.
»Was hast du vor?«, blaffte Saul Storm an.
Storm schwieg. Er grinste Saul nur frech an. Der kam auf ihn zu, beugte sich zu ihm runter, hielt jedoch ausreichend Sicherheitsabstand. Trotzdem war er nah genug, dass Storm die roten Äderchen in seinen Augen sehen konnte.
»Ich sag dir jetzt was, Bürschchen«, zischte Saul. Winzige Speicheltröpfchen flogen von seinen Lippen. »Wenn du nur das Geringste tust, das Jordan schaden könnte, bist du dran.«
Hm. Munro hatte das mit den Drohungen besser drauf. Von dem könnte sich dieser Möchtegern ein paar Scheiben abschneiden.
»Okay«, sagte Storm und grinste weiter. Wenn Saul ihn einschüchtern wollte, musste er früher aufstehen. Da war Storm ganz andere Kaliber als ihn gewohnt. Wenn der wüsste … Schließlich hing sein Leben von Storm ab und er hatte keine Ahnung. Wusste nicht, dass draußen jemand wartete, der sich schon so lange außerhalb von Gesetz und Moral herumtrieb, dass er keine Hemmungen besaß, Saul abzuknallen, wenn der ihn störte.
Storm hatte keine Lust darauf, dass Munro hereinstürmte und hier eine Sauerei veranstaltete. Das hätte seinen Plan zerstört. Und Jordan in Gefahr gebracht. Also musste er diesen seltsamen Achtziger-Rocker-Verschnitt loswerden, und zwar schnell.
»Warum verpisst du dich nicht einfach?«, versuchte er es auf die höfliche Tour. »Jordan will dich hier nicht haben.«
»Jordan weiß nicht, was gut für ihn ist.«
»Aber du, ja?« Diesmal brauchte Storm sich gar nicht zum Grinsen zu zwingen.
»Ich kenne Jordan länger als du.«
»Aber nicht unbedingt besser.«
»Was willst du wirklich von ihm?«
»Außer Liebe?« Storm klimperte mit den Wimpern.
Saul zog die Mundwinkel nach unten und wandte sich ab. »Was hältst du davon?«, fragte er Jordan, der gerade zurückkam.
»Danke, aber ich brauch das Zeug nicht«, erwiderte Jordan so frostig, wie Storm ihn noch nie hatte reden hören. Hatte Saul ihm Drogen mitgebracht?
Saul hob die Schultern. »Vorbereitung auf das Studio?«
»Ich mach erst die Reha. Sag das Studio ab.«
Storm hielt unwillkürlich den Atem an. Würde Saul damit weitermachen, Jordan zu bevormunden? Was war das überhaupt für ein Manager? Stürmte hier rein, machte Jordan zur Sau, beleidigte seinen Besuch … Und Jordan hatte es zugelassen, bis auf seine schwache Verteidigungseinlage für Storm. Doch nun schien er sich besonnen zu haben. Ob Saul damit klarkam? Oder würde er weiterhin seine »Ich will doch nur dein Bestes« Nummer abziehen?
»In Ordnung«, sagte Saul.
Jordan verzog keine Miene, nickte nur. »Okay. Danke für deinen Besuch. Ich melde mich. Bis dann. Schick mir die Reha-Unterlagen per Mail.«
Offenbar verstand Saul, wann er verloren hatte. Er warf Storm noch einen hasserfüllten Blick zu und ging an Jordan vorbei Richtung Haustür. »Ich lass sie dir hier!«, rief er, bevor er die Tür zuknallte.
Der Typ hatte keine Ahnung, dass heute sein Glückstag war. Dass er gerade noch davongekommen war und das hier auch anders hätte enden können. Mit seinem Hirn, das an der Wand klebte, zum Beispiel.
Storm stieß die Luft aus. »Warum nimmst du den Stoff nicht, den er dir mitgebracht hat? Ist bestimmt gutes Zeug. Der hat doch Kohle. Also, du hast Kohle aber er verwaltet sie, oder?«
»Du denkst, Saul hat mir Drogen mitgebracht?« Jordan hob einen Mundwinkel zu dem verunglückten Versuch eines Grinsens. »Da kennst du ihn aber schlecht. Der ist vollkommen straight edge. Der trinkt nicht mal Kaffee. Uns hat er immer schon Vorhaltungen gemacht, wenn wir mal ein Bier getrunken haben. Der erste Schritt ins Verderben und so.«
»Was ist los mit diesem Arschloch? Warum behandelt er dich wie ein kleines Kind?« Und warum ließ Jordan es zu?
Jordan ließ sich neben Storm aufs Sofa fallen. »Als er anfing, uns zu managen, waren wir noch halbe Kinder. Gerade mal sechzehn. Irgendwer verpasste ihm den Spitznamen Papa Saul und das gefiel ihm. Er hat sich immer als väterlicher Berater gesehen. Wir sollten eine große, glückliche Familie sein.«
»In der sich einige Mitglieder leider selbst verleugnen mussten.«
»Wie es in Familien eben so ist.« Jordan lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er war blass um die Nase.
»War es das erste Mal?«, fragte Storm.
»Was?« Jordan ließ die Augen geschlossen.
»Dass du dich gegen ihn aufgelehnt hast. Ihm ne klare Ansage gemacht hast. Dein Papa Saul sah nämlich ganz schön erstaunt aus.«
»Ich weiß nicht. Ja, vielleicht. Während der letzten Jahre hatte ich keine Kraft für nix.« Mit einem tiefen Seufzer setzte sich Jordan auf, beugte sich nach vorn und rieb sich über die Augen. »Er hat es echt nur gut gemeint. Sich um mich gekümmert, als alle anderen abgehauen sind. Ich glaub, ich war zu hart zu ihm.«
»Ist mir scheißegal, solange du hart zu mir bist.«
»O Mann, Storm. Deine Witze werden immer schlechter«, brummte Jordan, aber er lächelte kaum merklich. Ziel erreicht.
»Also was hat der Alte dir denn für gutes Zeug mitgebracht, das du nicht haben willst?«
»Hat er gerade gesagt, er lässt sie hier?« Jordan setzte sich wieder auf.
»Hab ich so verstanden. Wieso?«
»Mist. Ich muss die reinholen.«
Nun wurde Storm allmählich neugierig. Er folgte Jordan zur Tür. Davor lag ein Haufen Instrumentenkästen. »Hä? Sind da Waffen drin?«
Jordan, der sich schon gebückt hatte, um einen der Koffer aufzuheben, richtete sich auf und starrte Storm an. »Waffen?«
»Ja, Maschinengewehre und so. Transportiert man die nicht in solchen Kästen?«
Jordan starrte noch eine Weile, dann prustete er los. »Du bist einmalig. Was für Filme hast du dir eigentlich angeschaut? Du willst mir doch nicht erzählen, dass du das aus dem echten Leben kennst.«
»Doch, klar, in höchsten Verbrecherkreisen, in denen ich verkehre, wenn man deinem Papa Saul Glauben schenken darf, wird das durchaus so gehandhabt«, erklärte Storm in extra gestelztem Ton. Das brachte Jordan noch mehr zum Lachen. Er sah so verdammt jung dabei aus. Fast wie früher, wie auf den Fotos. So rein und hell und klar wie ein Engel. Mit einer ziemlich dreckigen Lache.
»Du verarschst mich doch!«, stieß er hervor und wischte sich Lachtränen aus den Augenwinkeln. »Außerdem … ich will dich ja nicht enttäuschen, aber Saul hält dich höchstens für einen Kleinganoven. Sonst hätte er mich nicht mit dir allein hier zurückgelassen.«
Na schön, vermutlich war Storm das. Galt aber nicht für Munro. Obwohl auch der seine Waffen nicht in Gitarrenkästen mit sich herumschleppte. Hoffentlich war der zufrieden, nun, da Saul wieder gefahren war. Hoffentlich hielt der sich vom Haus fern. Storm hasste den Gedanken, ihn in Jordans Nähe zu wissen. »Bringen wir den guten Stoff rein«, sagte er.
Sie legten die Gitarren im Wohnzimmer auf das schicke leere Regal. Zumindest war es leer, nachdem sie die nur zur Deko dienenden Bücher zur Seite geschoben hatten.
»Wieso bringt der dir gleich vier Gitarren mit?« Storm tippte auf den einzigen Kasten, der Gebrauchsspuren aufwies. Eine Menge Aufkleber. Von diversen Stadien, die Sinners Wear Socks damals gefüllt hatten. Von Städten. Fluglinien. Erinnerungen an ein Leben als berühmter Boygroupstar.
Jordan fuhr sich durch das Haar. »Diese da …« Er zeigte auf den Aufkleberkasten. »Die ist vom gleichen Modell wie meine Lieblingsgitarre. Saul hofft garantiert, dass er mich damit zum Spielen bringt.«
»Was ist mit deiner Lieblingsgitarre passiert?«
Jordans Gesicht verschloss sich. »Die hab ich nicht mehr.« Er zog den Kasten zu sich heran. Die Scharniere klappten mit einem metallischen Schnacken auf. Die Gitarre in dem Kasten sah schon ganz cool aus. Nicht neu, eher wie ein Instrument mit Geschichte.
»Wie lange hast du nicht gespielt?«
»Nicht mehr seit …« Jordan biss sich auf die Unterlippe.«
»Seit deine Kumpel und dein Schwarm mit dem Flugzeug abgestürzt sind«, beendete Storm den Satz für ihn.
»Nenn ihn nicht Schwarm«, fauchte Jordan ihn an. »Er war mehr als ein Schwarm! Er war … er …«
»… war ein Lügner, der dich ausgenutzt hat.« Storm wartete auf den Wutanfall. Er hatte nach dem Stress mit Saul Lust auf Sex zum Entspannen, und ja, auch ein bisschen zum Abreagieren. Die Vorstellung, dass Jordan ihn noch mal hart hier am Sofa fickte, ließ seinen Schwanz vorfreudig zucken.
»Vermutlich«, murmelte Jordan.
Verdammt.
»Darf ich mal?« Storm berührte mit den Fingerspitzen den Korpus der Gitarre. Das brachte Jordan neben ihm zum Zucken, als hätte er ihm das Instrument am liebsten weggerissen.
»Ich kann auch eine von den anderen nehmen.«
»Nein. Nimm sie. Das Ding bedeutet mir nichts. Ich hab diese Gitarre noch nie gesehen. Nimm sie. Spiel. Kannst du das überhaupt?«
»Weiß nicht. Hatte auch lange keine mehr in der Hand. Ich wollte früher mal …« Storm hielt verblüfft inne. Was war denn mit ihm los? Wollte er Blondie nun etwa von den Träumen und Hoffnungen seiner Jugendzeit vorjammern?
»Ja?« Jordan sah ihn abwartend an.
»Ich wollte früher mal ein berühmter Boygroupstar werden.« Viel mehr Sarkasmus konnte man kaum in einen Satz legen.
Jordan grinste schief. »Wird überbewertet.«
»Klar. Wenn man nicht auf jede Menge Kohle, Ruhm und heiße Groupies steht.« Das meinte Storm halbwegs ernst. Er nahm die Gitarre und fing an, sie zu stimmen. Zwischendurch sah er Jordan prüfend an, doch der saß auf dem Sofa und hob nur eine Braue, als sich ihre Blicke begegneten. So verstimmt war das Ding gar nicht. Da hatte jemand kürzlich Vorarbeit geleistet. Während Storm an den Seiten zupfte, sagte er leichthin: »Okay, ganz so war es nicht. Ich wollte in einer Metalband spielen.«
»Leadgitarre?«
»Nee, Drummer.« Storm klampfte ein paar Akkorde.
»Und?«
»Hat nicht in mein Leben gepasst.« Storm war zu sehr mit Überleben beschäftigt gewesen.
»Wieso ausgerechnet Drummer?«
Storm hob die Schultern. »Fand ich irgendwie ganz cool.«
»Hast du es wenigstens mal ausprobiert?«
Storm nickte. »Kannte mal einen Schlagzeuger, der hat mich rangelassen.« Er grinste Jordan vielsagend an. »Keine Berühmtheit wie du, aber heiß.«
Das war nicht mal gelogen. Eigentlich schade, dass sich Storm nicht mal mehr an den Namen des Kerls erinnern konnte. Irgendwas mit B. Barney, Bert, egal. Damals hatte Storm Drogen für Munro vertickt. Zu seinem Einsatzgebiet gehörte auch ein Metal-Club, in dem regelmäßig Konzerte stattfanden. Storm hatte Publikum und Band mit Stoff versorgt und sich von dem Bassisten angraben lassen. War aber letztendlich auf den Drummer hinausgelaufen, warum, wusste Storm nicht mehr. Nur, dass er sich tatsächlich öfter mit dem Typ getroffen hatte. Meist nach den Bandproben. Nach dem Sex hatte der Drummer ihm die Grundzüge des Schlagzeugspielens beigebracht. Storm hatte das als eine Art Bezahlung angesehen. Wenn er jetzt darüber nachdachte, war er nicht sicher, ob es so gemeint gewesen war. Damals hatte er sich nicht vorstellen können, dass es Sex auch ohne Gegenleistung gab. Einer zahlte immer.
»Wieso ist nichts daraus geworden?«, riss Jordan ihn aus seinen nostalgischen Gedanken.
»Schlagzeugspielen oder die Sache mit dem Kerl?«
»Beides?«
Storm hob die Schultern. Er wusste es nicht mehr. Es war noch nicht so lange her. Acht Jahre? Seine Vergangenheit lag in gnädigem Nebel hinter ihm, in einer Dunkelheit, die er mied, so gut es ging. Im Knast hatte er was über die Verdrängung traumatischer Ereignisse gelesen. Vielleicht traf das auf ihn zu. Ab und an flackerten düstere Erinnerungsfetzen auf, doch obwohl er Munro bis aufs Blut hasste, konnte er sich nur an wenig konkrete Erlebnisse mit ihm erinnern. Sie lauerten, irgendwo tief in ihm vergraben, und er war noch nicht bereit, sich ihnen zu stellen.
Konnte sein, dass er das nie sein würde.
Das wenige, an das er sich erinnerte, reichte ihm.