Kapitel 21
Der Satz traf Storm in den Magen wie ein Schlag.
»Und ich will, dass du lebst«, sagte er und wunderte sich darüber, wie heiser seine Stimme klang. Noch am Vortag hatte er sich einreden können, dass es ihm gleichgültig war, was mit Jordan passierte. Es war ihm scheißegal gewesen, dass dieser Boygroupschnösel hergekommen war, um sich umzubringen. Jedenfalls hatte er das geglaubt. Ihm war schließlich jeder scheißegal, außer er selbst.
Aber da hatte er auch noch nicht gewusst, wie Jordan war.
Na großartig.
»Das werde ich«, behauptete Jordan. »Schreib mir ne Postkarte aus Hawaii.«
Sollte es wirklich so einfach sein?
Klar, mit ausreichend Kohle würden Storm völlig andere Möglichkeiten offenstehen, sich Munro und seinen Leuten zu entziehen …
»Hier, nimm die.« Jordan schob eine umgedrehte Pfanne über den Küchentresen.
Erst da fiel Storm auf, dass er in Gedanken verloren mit dem hölzernen Stiel eines Löffels auf die Arbeitsplatte trommelte. Einem Impuls folgend wollte er aufhören, doch die Pfanne sah zu verlockend aus. Er schlug sie mit dem Löffel an. Jordan holte einen weiteren Holzlöffel aus einer Schublade und gab ihn Storm. Na schön, das waren keine Drumsticks, aber sie lagen zumindest gut in der Hand und für einen einfachen Rhythmus reichten sie.
Storm trommelte schneller, erinnerte sich an seinen lange zurückliegenden Unterricht. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, dass Jordan weitere Töpfe und Pfannen auf dem Tresen aufbaute, bis der wie eine schräge Percussionstation aussah. Verführte zum Experimentieren. Storm schlug die Töpfe der Reihe nach an, blieb bei einem, bezog einen anderen ein, hämmerte zwischendurch wieder auf die Pfanne. O yeah. Das hatte was. Vertieft in sein Spiel erschien es ihm völlig normal, dass sich Gitarrenklänge unter die Beats mischten.
Jordan stand am Sofa und zupfte an den Saiten der Gitarre, passte sich dem Takt an, den Storm vorgab. Schon die zweite spontane Jamsession des Tages. Wenn sie so weitermachten, wurde noch eine richtige Band aus ihnen.
Storms Brustkorb zog sich zusammen. Das Atmen fiel ihm schwer. Er ließ die Löffel sinken und lauschte den Akkorden, die durch die Luft schwebten, bis auch sie verklangen. Er schaute nur kurz in Jordans fragendes Gesicht. Kapierte der es denn nicht? Nein, wie denn auch, wenn Storm es ständig selbst vergaß. Für sie gab es nichts Gemeinsames. Nur ein paar gestohlene Minuten, in denen sie vergaßen, wer sie waren und warum es sie in diese schicke Hütte verschlagen hatte. Nur, dass die Realität Storm nach diesen Momenten immer besonders heftig in den Arsch trat.
»Dein Essen brennt an«, sagte er rau und wandte sich ab. Er flüchtete auf die Veranda. Der Anblick des Whirlpools machte ihn wütend. Er hätte mit diesem Scheiß überhaupt nicht anfangen sollen. Er hätte Jordan nicht mit in sein verkacktes Leben ziehen dürfen. Jordan war auch schon ohne ihn übel genug dran gewesen.
Na das fiel ihm ja früh auf.
»Essen ist fertig!«, hörte er Jordan rufen und verzog das Gesicht. Wie lange wollte der Kerl noch auf heile Welt machen? Wie lange wollte er noch so tun, als wäre da etwas zwischen ihnen, das über Storms Betrug und seine Lügen hinausging? Wie lange wollte er Storm noch so ansehen, als würde er etwas in ihm sehen, das es nicht gab?
Seufzend ging Storm zurück ins Haus, doch nicht, ohne den Strand genau abzuchecken. Keine Spur von Munro. Trotzdem wusste Storm, dass er irgendwo dort lauerte und ihn garantiert bald anrufen würde. Und bis dahin musste Jordan weg sein.
»Du rufst dir jetzt ein Taxi«, befahl er barsch, ignorierte den verführerischen würzigen Duft und die gefüllten Teller auf dem Tresen.
»Das mache ich nach dem …«
»Jetzt«, unterbrach Storm ihn schneidend.
Jordan starrte ihn an. Sie fochten ein stummes Blickduell aus. Es war Jordan, der zuerst nachgab und die Lider kurz senkte. »Okay.« Er angelte nach dem Smartphone, das er auf den Küchenschrank gelegt hatte.
Einen Herzschlag lang durchzuckte der Gedanke Storm, dass Jordan nun genauso gut die Polizei rufen konnte. Die würden ihn schnappen, keine Frage. Ohne Auto kam Storm hier nicht weg. Und Munro? Der hatte natürlich ein Fahrzeug dabei, davon ging Storm aus. Der würde entkommen. Falls er überhaupt noch in der Gegend war. Er konnte es sich nicht leisten, stundenlang an einem leeren Strand herumzuhängen. Hatte immer irgendwelche Geschäfte am Laufen und da er so ein verdammter Kontrollfreak war, musste er die meisten persönlich regeln oder zumindest im Auge behalten. Gangsterboss war schon ein busy Job.
Jordan rief nicht die Polizei.
Storm hörte, wie er einen Mietwagen bestellte. Auch gut. Hauptsache, er fuhr möglichst weit weg.
Schweigend aßen sie. Es war das wohl beste Essen, das Storm während der vergangenen Jahre zu sich genommen hatte. Gab es eigentlich etwas, das Jordan nicht konnte?
Ja, lügen.
»Du fährst los, sobald der Wagen da ist«, sagte Storm.
»Und du?« Jordan schob die letzten Kichererbsen auf seinem Teller hin und her, ohne Storm anzusehen.
»Ich …« Der letzte Bissen klumpte sich in Storms Kehle zusammen. Er konnte nur darauf hoffen, dass Munro ihn nicht sofort aus Wut umbrachte, weil er ihm noch zu viel Kohle schuldete. Munro würde ihn für irgendwelche krummen Dinger einspannen. Mit Glück landete Storm wieder im Knast. Mit Pech ging er dabei drauf.
»Ich kläre das mit Munro«, behauptete Storm und so ganz gelogen war das ja auch nicht.
»Ist gut«, sagte Jordan und das war eindeutig eine Lüge. Seine Miene, seine Haltung, sogar die Farbe seiner Augen, die von Meerblau zu Seegrau wechselte, zeigten allzu deutlich, dass er nicht vorhatte, ohne Storm abzuhauen. Nein, andere anzulügen war überhaupt nicht sein Ding. Eigentlich seltsam, da er es lange genug geschafft hatte, sich selbst etwas vorzumachen, was diesen Stuart anging.
»Was hast du vor?«, knurrte Storm. »Willst du mich mit einer deiner Gitarren niederschlagen und in den Kofferraum legen, wenn der Wagen da ist?«
Jordan grinste schwach. »Du bringst mich auf Ideen.«
Er setzte an, um noch mehr zu sagen, vermutlich wieder eine Rede darüber, dass sie zusammen abhauen und auf Hawaii ein neues Leben beginnen konnten, da klingelte Storms Smartphone. Storm zuckte nichtmal mit der Wimper. Dazu hatte er zu sehr damit gerechnet. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen. Nur, dass er sich wünschte, sie hätten mehr davon gehabt. Hoffentlich kam dieser verkackte Mietwagen bald. Bis dahin musste er Munro irgendwie hinhalten. Er konnte den Anruf aber auch nicht ignorieren. Dann würde Munro schlimmstenfalls persönlich hier auftauchen.
Das Telefon wog bleischwer in seiner Hand. Er starrte auf das Display. Shit. Er musste da rangehen, obwohl sich alles in ihm dagegen sträubte und Brechreiz in ihm aufstieg. Allein die Vorstellung, Munros Stimme hören zu müssen …
Er nahm das Gespräch an, erwartete einen bissigen Kommentar von Munro, weil er so lange gebraucht hatte. Doch das Einzige, was Munro sagte, war »Planänderung.«
Jordan wartete ab.
»Ist der Goldjunge in der Nähe?«, hörte er die verhasste Stimme.
»Nein.« Im Gegensatz zu Jordan hatte Storm kein Problem damit, andere zu belügen. Er war ziemlich gut darin. Nichtmal Munro bemerkte es.
»Okay. Hör mir jetzt gut zu. Wir haben den Manager. Diesen alten Rockertypen, der vorhin bei euch war.«
Alter Rockertyp? Munro war mindestens genauso alt wie Saul. Nach diesem ersten, belanglosen Gedanken sackte die Information in Storms Hirn. Die hatten Saul.
»Ja«, sagte er, da Munro offenbar eine Antwort von ihm erwartete.
»Ich ruf gleich den Goldjungen an. Im Ernst, Breuer, der hätte keinen verschissenen Finger für dich gerührt. Du bist für den nur ein Spielzeug, das er sofort billig ersetzen kann.«
»Danke für deine Einschätzung«, sagte Storm trocken. Allmählich beruhigte sich sein Herzschlag wieder. Er war raus aus der Nummer. Jordan brauchte nur zu zahlen und …
»Du sorgst dafür, dass der Goldjunge das Geld überweist und dann darfst du zurück in den Schoß der Familie kommen.«
Verdammt.
»Meine Schulden sind damit bezahlt.«
Er hörte Munro lachen. Klang wie ein trockenes Husten. Bei dem Geräusch drehte sich Storm der Magen um.
»Davon träumst du wohl. Du sorgst dafür, dass der Goldjunge die Kohle überweist. Und pass auf, dass er nicht auf dumme Ideen kommt. Sobald er versucht, die Polizei einzuschalten oder irgendwelche Mätzchen macht, zeigst du ihm, wo es lang geht. Du kannst das, Breuer. Ich vertrau dir da.«
Was sollte die Schleimerei? Wut stieg in Storm auf. »Du hast doch gesehen, dass wir hier kein Auto haben. Ich kann hier gar nicht weg.«
»Das lass meine Sorge sein. Und denk dran, es gehört zum Deal, dass du zurück zu uns kommst. Wir vermissen dich.« Seine Stimme troff vor Sarkasmus. »Wenn du meinst, du kannst dich verdrücken, stirbt der Manager. Und versuch nicht, mir weiszumachen, dass dir das egal ist. Du warst immer schon zu weich. Du würdest nicht zulassen, dass ein Unschuldiger wegen dir qualvoll verreckt.«
Jedes Wort fraß sich in Storms Eingeweide. Saul würde sowieso sterben.
Im Plauderton fuhr Munro fort: »Außerdem würde ich dann sofort die Polizei auf dich hetzen und du landest schneller wieder im Bau, als du das Wort Verräter auch nur denken kannst. Du weißt, dass mich das nur einen Anruf kostet. Aber jetzt ruf ich den Goldjungen an. Bleib auf jeden Fall an ihm dran und sobald er gezahlt hat, verschwindest du und wartest auf neue Anweisungen.«
Ein Knacken zeigte an, dass Munro die Verbindung beendet hatte.
Jordan hatte Storm die ganze Zeit angestarrt, die Augen geweitet, und war immer bleicher geworden. Er hatte es mitangehört. Storm erwartete, dass er nun sofort mit Jammern und Wehklagen beginnen würde, doch er stand nur stumm da, wie erstarrt.
Sein Smartphone dudelte.
Im Gegensatz zu Storm ging er sofort daran. Er stürzte sich darauf wie ein Hund auf ein saftiges Steak und rief atemlos: »Ja?«
Storm sah über seine Schulter, dass es sich um einen Videoanruf handelte. Auf einem allzu klaren Display sah er Saul, an einen Stuhl gefesselt. In seinem Mund steckte ein Knebel, der aussah wie ein alter Socken. Sein Kopf war knallrot und glänzte vor Schweiß. In seinen Augen flackerte nackte Panik. Kein Wunder, denn neben ihm stand ein mit Strumpfmaske maskierter Typ und hielt ihm eine Knarre an die Schläfe.
Mit eisiger Stimme gab Munro, der nicht zu sehen war, seine Anweisungen durch. Jordan sollte ihm innerhalb der nächsten Stunde 500.000 Dollar überweisen, oder Saul würde sterben.
Storm zweifelte keinen Moment daran, dass er das ernst meinte. Er hatte zu oft miterlebt, wie Munro kaltblütig Menschen getötet hatte. Munro gab Jordan keine Gelegenheit zu einer Antwort. Das Display wechselte von dem Livevideo zu dem roten Hörer, der anzeigte, dass er die Verbindung beendet hatte. Eine Sekunde später kam eine Nachricht mit der Kontonummer. Wie Storm wusste war das eine, über die man Munro nicht finden konnte. In seinen Diensten standen genug Hacker und Strohmänner, die es ihm erlaubten, seine Finanzen an Polizei und Steuer vorbei zu schmuggeln.
Da Jordan weiterhin reglos da stand und vor sich hinstarrte, räusperte sich Storm. »Und? Wirst du zahlen?«
Der Ausdruck in Jordans Augen zeigte ihm, dass er genau die falsche Frage gestellt hatte.