Kapitel 23
Mit gerunzelter Stirn betrachtete Storm die graue Metallplatte, die sich direkt vor dem Fenster hinabgesenkt hatte.
Jordan hatte tatsächlich darauf bestanden, das Haus zu verriegeln. Und wie alles an dieser Strandvilla fiel auch die Abschottung luxuriös aus. Bombensicher, im wahrsten Sinne des Wortes, so wie diese Platten aussahen. Gut, dass Storm nicht an Klaustrophobie litt. Er wartete, bis er gewiss sein konnte, dass sich Jordan weit genug vom Haus entfernt hatte und dann zur Sicherheit noch zehn Minuten länger, bevor er den Shotdown aufhob. Lautlos fuhren die Schutzplatten hoch, gaben den Blick auf das graue, aufgewühlte Meer frei. Wäre Storm auch nur ansatzweise poetisch veranlagt gewesen, hätte er in den tosenden Wellen ein Spiegelbild seiner Gefühle entdeckt.
War er aber nicht.
Er war Pragmatiker durch und durch und wenn er Gefühle hatte, verglich er die ganz sicher nicht mit Naturgewalten.
Ja, okay, er hatte Gefühle. Ausnahmsweise sogar mal andere als den Hass, den er Munro entgegenbrachte. Er machte sich verdammt noch mal Sorgen um Blondie.
Um Jordan.
Der ihm tatsächlich Geld geben wollte, einfach so. Ohne Gegenleistung.
In einem anderen Leben hätte Storm die Kohle eingesackt und sich davongemacht, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen oder noch einen Gedanken an den naiven Spender zu verschwenden. Dieses andere Leben war erst wenige Tage her und egal wie sehr sich Storm dahin zurückwünschte, gab es diesen Weg für ihn nicht mehr.
Er konnte Jordans Geld nicht nehmen.
Er wollte nicht ausgerechnet den einzigen Menschen ausnehmen, der ihm das erste Mal seit Ewigkeiten das Gefühl
gegeben hatte, etwas wert zu sein. Denn damit hätte er sich nur erneut bewiesen, dass er in Wahrheit Dreck war.
Jordan war fort und für ihn war es nun an der Zeit, zu gehen. Er wusste, dass Munro Saul töten würde, sobald er das Geld hatte. Er wusste auch, dass er Jordan nichts tun würde. Jordan war einfach zu bekannt. Zu prominent. Zu reich. Gehörte zu den Unantastbaren. Nur weil er sich auf Storm eingelassen hatte, war er für kurze Zeit in Munros Visier geraten und würde ebenso schnell wieder daraus verschwinden. Das Risiko, mehr aus ihm herauszupressen, würde Munro nicht eingehen.
Aber Munro wollte Storm.
Storm war mittlerweile sicher, dass es ihm nicht um das Geld ging. Nicht nur. Munro musste seine Macht demonstrieren, allen zeigen, dass man nicht einfach so aus seinem Kreis verschwinden konnte, wenn er das nicht wollte. Ja, das war wohl echt sowas wie seine Gangsterehre, die zumindest leicht angeknackst sein würde, wenn der Junge, den er ausgebildet hatte, sich von ihm abwandte. Für Munro zu arbeiten war kein Job, den man kündigen konnte. Und darum würde Munro alles daransetzen, Storm wieder in seine gierigen Klauen zu bekommen, rein aus Prinzip, unbeachtlich, ob Storm ihm von Nutzen sein konnte.
Er hörte Jordans Stimme. Und das lässt du einfach so mit dir machen?
Nein, würde er nicht. Er starrte aus dem Fenster auf die Hasenpfote, die auf dem Verandageländer lag. Ein Gruß von Munro, eine Erinnerung daran, dass es für Storm kein Entkommen gab. Diesmal löste sie weder Herzrasen noch Schweißausbrüche bei ihm aus, nur ein bitteres Lachen. Munro hatte lange genug Macht über ihn gehabt. Er würde verschwinden, ohne Jordans Geld, aber mit etwas, das mehr wert war.
Mit Selbstachtung.
Keine Ahnung, wie lange er sich vor Munro verstecken konnte. Ein paar Wochen? Monate, mit etwas Glück? Eines wusste Storm ganz sicher: Munro würde ihn auf keinen Fall lebend bekommen.
Aus Jordans Gepäck suchte er sich Jeans, ein langärmliges Shirt und eine Lederjacke. Bei der Jacke zögerte er. Die sah im Gegensatz zu den anderen Sachen alt aus, gebraucht. Wie ein Kleidungsstück, das Jordan etwas bedeutete. Gerade aus dem Grund zog er sie schließlich an, gönnte sich eine Sekunde lang, Jordans Duft, der darin hing, einzuatmen.
Was würde Jordan tun, wenn er zurückkam und Storm fort war?
Bestimmt wäre er zunächst stinksauer und enttäuscht. Aber das würde nicht lange anhalten. Storm glaubte an ihn. Er würde es in ein Leben schaffen. Nicht zurück in sein altes Dasein. In ein neues Leben, in dem es ihm hoffentlich gelang, sich von Stuart zu befreien. Klar, er würde es schaffen. Schließlich standen ihm alle Möglichkeiten offen. Von luxuriöser Reha für reiche Schnösel bis zu Ärzten, die ihm die passenden Medikamente und Therapien verschreiben würden. Den Rest würde er aus eigener Kraft hinbekommen.
Ganz sicher.
Er würde Storm vergessen und das war okay.
Storm passte nicht in sein neues Leben. In sein altes auch nicht. Nur in dieses dunkle Zwischenreich, in dem Jordan viel zu lange gefangen gewesen war und das er endlich hinter sich lassen musste.
Storm trat auf die Veranda. Vermutlich ließ Munro die Strandvilla beobachten. Die Hasenpfote deutete das an. Was für Anweisungen hatte er erteilt? Storm abzuknallen, wenn er zu fliehen versuchte? Möglich. Dann war es eben so. Nur allzu leicht würde er es ihm nicht machen. Er ließ sich Zeit, spähte über die Dünen. Sein vergrabenes Zeug würde er zurücklassen.
Er brauchte sowieso neue Ausweispapiere. Sein zugegeben etwas unausgegorener Plan sah vor, dass er am Strand entlangmarschierte, bis er den nächsten Ort erreichte, oder eine Straße, an der er trampen konnte. Sein Ziel war die nächste große Stadt und dort musste er irgendwie Geld auftreiben. Nicht annähernd so viel wie Jordan ihm hatte geben wollen, klar. Nur genug zum Überleben. Später für neue Ausweise. Wenn es ihm gelang, sich so lange vor Munro zu verstecken.
Im Dünengras blitzte etwas auf.
Verdammt. Munro ließ sich nicht lumpen. Wenn Storm nicht alles täuschte, war das die Reflexion auf einem Zielfernrohr. Bis zu diesem Moment hatte er nicht ernsthaft daran geglaubt, dass er Munro so viel wert war, doch er schien sich geirrt zu haben.
Okay, dann würde er also an diesem verschissenen Strand krepieren. Auch gut!
In einem Aufwallen von wütender Resignation marschierte er direkt auf die Dünen zu, nahm Kurs auf die Stelle, in der er das Aufblitzen gesehen hatte. Seine Stirn kribbelte. Jeden Moment erwartete er den Schuss, der alles beenden würde. Doch der kam nicht.
Er erreichte die Dünen und hätte fast gelacht, als ihm auffiel, wohin sein Weg ihn geführt hatte. Genau hier hatte er vor ein paar Tagen sein Zelt aufgeschlagen.
Nun war dort ein Scharfschützengewehr aufgebaut.
Und auf den zugehörigen Schützen brauchte Storm auch nicht lange zu warten.
»Umdrehen. Langsam«, erklang eine eiskalte Stimme.
Er hob automatisch die Hände und drehte sich um.
In zehn Metern Entfernung kam ein Mann aus den Dünen, eine Knarre im Anschlag, schwarze Cargohose, schwarzes T-Shirt, eine Mütze tief ins Gesicht gezogen.
Ein Gesicht, das Storm kannte.
Er war älter geworden, klar, sie hatten sich zehn Jahre nicht gesehen, doch die hellblauen Huskyaugen und vor allem die stoische Miene erkannte Storm sofort. Nun fiel ihm der Name ein.
»Brian«, stieß er hervor.
Brian machte keine Anstalten, die Waffe zu senken. »Breuer«, sagte er gelassen.
Sonst nichts.
Das war also Brian, der Storm die Grundzüge des Schlagzeugspiels beigebracht hatte. Und noch so einiges …
Brians Gesicht verriet nicht, was er von dieser Situation hielt. Wie auch. Bei einem seiner Einsätze für Munro hatte es ihn schwer erwischt. Nervenbahnen waren irreparabel durchtrennt worden und hatten sein Gesicht in eine reglose Maske verwandelt. Damals war er Munros Mann fürs Grobe gewesen. Lange her.
»Bist also unter die Scharfschützen gegangen«, stellte Storm fest. »Auftragskiller?«
»Manchmal«, sagte Brian.
»Und heute? Hat Munro dir aufgetragen, mich zu erschießen?«
»Nein. Ich soll nur auf dich aufpassen.«
»Wie nett.«
Sie maßen sich mit Blicken.
»Und Jordan?«
»Nicht mein Auftrag.«
Eiseskälte breitete sich in Storm aus. »Was soll das heißen? Hat Munro jemanden auf ihn angesetzt?«
»Ruhig Blut, Breuer.« Wenn Brian hätte grinsen können, hätte er es vermutlich jetzt getan. Zumindest klang er amüsiert. »Seit wann machst du dir Sorgen um andere? Den Superstar soll niemand anrühren, so lautet Munros Order. Der soll nur zahlen und er ist raus. Auf dich hat der Boss es abgesehen.«
Das war ja nichts Neues. Storm wurde übel vor Erleichterung. Er versuchte, Brian einzuschätzen. Ziemlich schwierig, wenn nicht gar unmöglich, da er aus seiner Miene rein gar nichts herauslesen konnte. Damals hatte ihn das anfangs irritiert. Bis er herausgefunden hatte, dass Brian andere Möglichkeiten kannte, seine Stimmung mitzuteilen. Das Schlagzeugspielen war eine davon gewesen. Und er hatte einiges mit seinen langen, kräftigen Fingern anstellen können …
Storm merkte, dass ihm das Blut ins Gesicht schoss. Verdammt, wurde er jetzt etwa rot? Er war nicht mehr der Junge, den Brian gekannt hatte und der seine Unsicherheit hinter Aggressionen und Arroganz versteckt hatte. Mittlerweile war er wirklich aggressiv und großspurig. Wen sah Brian in ihm? Suchte er nach Spuren von dem Jungen von damals oder registrierte er lediglich den Mann, der er jetzt war? Erinnerte er sich überhaupt noch?
Über Storm schlugen die Erinnerungen zusammen wie eine Flutwelle. Er war nie der Typ gewesen, der sich von Emotionen mitreißen ließ. Sonst wäre er wohl kaum so alt geworden. Doch Jordan, der verdammte Blondie, schien etwas in ihm geknackt zu haben. Er erinnerte sich an Brians Duft nach Aftershave und Schweiß, an die Wärme seiner Brust, als er auf seinem Schoß gesessen hatte, zusammen auf den Hocker hinter dem Schlagzeug gezwängt, auf seine Hände, die seine umfasst gehalten und geführt hatten. Sein anerkennendes Nicken, wenn Storm den Beat hielt.
Jahrelang hatte er nicht an ihn gedacht. Warum ließ es ihn nicht kalt, dass er unerwartet vor ihm stand? Alles andere als kalt …
Brian war eine Weile sein Zufluchtsort gewesen. Gestohlene Momente, in denen er sich aus den Fängen von Munro befreit hatte. Und nun war es ausgerechnet Brian, den Munro auf ihn hetzte.
Zufall?
Munro hatte nie erfahren, dass er es mit Brian getrieben hatte. Zumindest hatte er nichts gesagt, aber das musste nichts heißen.
»Spielst du noch?«, fragte Brian.
Er erinnerte sich.
Storms Kehle war so eng, als würde sich eine Ledermanschette um seinen Hals zuziehen. Er musste sich räuspern, bevor er sprechen konnte. »Bisschen schwer, ein Schlagzeug mit in den Knast zu nehmen.«
»Hatten die keins da?«
»Nope.«
»Scheißladen.«
»Kann man wohl sagen.«
Brian hielt die Waffe immer noch auf ihn gerichtet. Und Storm konnte ums Verrecken nicht sagen, ob er abdrücken würde. Ums Verrecken. Haha.
Eine Bewegung hinter Brian erregte seine Aufmerksamkeit. Shit, was war das? Hatte Munro mehr als einen seiner Männer für ihn abgestellt? Dachte er, Brian würde nicht mit ihm fertig? Das Dünengras bewegte sich. Aber es war keiner von Munros Leuten, der dort durch den Sand kroch. Sich anpirschte. Wie ein verdammter Anfänger.
War er ja auch.
Was zur Hölle dachte sich Jordan dabei? Wieso war er zurückgekommen? Er konnte es in der kurzen Zeit unmöglich in die Stadt und zurückgeschafft haben, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er auch noch zur Bank musste. Er hatte umgedreht, dieser Vollpfosten.
Die Einsicht, dass sie beide in den nächsten Minuten sterben würden, löste keine Furcht in Storm aus. Nur eine alles überdeckende Wut. Das war so unfair! Jordan fing gerade erst wieder an, leben zu wollen! Da konnte er nicht einfach so abgeknallt werden!
»Tu es nicht«, sagte er tonlos.
Brian rührte sich nicht, in seinem Gesicht regte sich natürlich kein Muskel, nur in seinen Augen flammte etwas auf. Ein Funkeln, das Storm nur zu deutlich zeigte, dass er Jordans stümperhaften Anschleichversuch längst bemerkt hatte. Vermutlich sogar noch vor Storm.
»Er hat nichts damit zu tun«, flüsterte Storm. Seine Zunge fühlte sich taub an und viel zu groß für seinen Mund. »Du sollst ihn nicht anrühren, das hat Munro doch gesagt, oder? Das würde ihm nicht gefallen.«
Storm hatte keine Ahnung, was Brian tun würde. Sich umdrehen und Jordan erschießen? Zuerst Storm erledigen und Jordan überwältigen? Ihn am Leben lassen? Wenn er nur …
In dem Moment sprang Jordan aus seiner Deckung auf. Er holte mit einem Gegenstand aus, schwang ihn so schnell, dass Storm zunächst nicht erkannte, was das für ein Ding war. Und als er es wusste, glaubte er es nicht.
Jordan James ging mit einer Gitarre auf einen Scharfschützen los.