Kapitel 24
Jordan hatte keine Ahnung, wer der Typ war, der eine Waffe auf Storm richtete und es war ihm auch egal. Er wusste nur, dass er das nicht zulassen konnte.
Genauso sicher, wie er vorhin im Auto gewusst hatte, dass er umkehren musste. Zurückfahren zu Storm. Denn ihm war klar geworden, dass Storm sonst nicht mehr da sein würde. Aus seinem Leben verschwunden, so abrupt und ohne Vorwarnung, wie er es betreten hatte. Und wie er Storm einschätzte, würde er keine Spuren hinterlassen. Keine, die Jordan verfolgen könnte. Er wusste nicht, was genau es gewesen war, das ihn hatte misstrauisch werden lassen. Storms plötzliche Fügsamkeit? Die Art, wie er ihn beim Abschied angesehen hatte? Oder einfach Instinkt?
Jedenfalls schien ihn der nicht getrogen zu haben. Storm hatte die Strandvilla ganz sicher nicht verlassen, um einen Spaziergang am Meer zu machen. Er hatte abhauen wollen, ohne das versprochene Geld, ohne sich von Jordan zu verabschieden, vermutlich sogar, ohne noch einen Gedanken an Jordan verschwendet zu haben. Nur hatte etwas seinen Abgang vereitelt. Oder besser gesagt, jemand. Und dieser Jemand bedrohte ihn nun.
Das musste ein Mann aus Storms Vergangenheit sein. Vielleicht einer aus Munros Bande. Beim Anpirschen durch die Dünen hatte Jordan sein Gesicht nicht sehen können, doch jetzt, als er sich umdrehte und ein Sekundenbruchteil sich zäh zu einer Unendlichkeit dehnte, starrte er in eine reglose Maske und kalte Augen.
Er schlug zu.
Zumindest wollte er das. Doch an der Stelle, an der eben noch der Kerl gestanden hatte, befand sich nur Luft, durch die der Korpus der Gitarre mit einem müden Pfeifen schnitt und dumpf auf den Sandboden prallte. Jordan wollte das Instrument, das er
so schändlich als Waffe missbrauchte, wieder hochreißen, doch dazu kam er nicht. Ein Arm legte sich von hinten um seinen Hals und er spürte das kalte Metall der Waffe an seiner Schläfe.
»Keine Bewegung«, zischte ihm eine heisere Stimme ins Ohr.
Können vor Lachen. Jordans Muskeln schienen sich in Eis verwandelt zu haben. Er konnte nur wie gelähmt da stehen und Storm anstarren, der sich ebenfalls nicht rührte, seinen Blick stumm erwiderte.
Okay, der Typ hatte nicht erwähnt, dass Jordan nicht sprechen sollte und seine Zunge konnte er noch bewegen. »Hat Munro dich geschickt?«, stieß er hervor. Zu spät fiel ihm ein, dass dies womöglich kein kluger Schachzug war. Besser, er ließ den Mann im Dunkeln darüber, dass er über Storms Vergangenheit Bescheid wusste. Reumütig sah er Storm an, aber der ließ nicht erkennen, ob er einen Fehler begangen hatte.
»Lass ihn gehen«, sagte er nun, mit rauer, fremder Stimme. »Munro hat befohlen, ihn nicht anzurühren.«
»Du wiederholst dich, Breuer«, knurrte der Mann hinter Jordan. Er roch nach Lederfett und irgendetwas anderem, das Jordan nicht kannte. Waffenöl oder sowas? Sein Blick huschte unwillkürlich zu dem Gewehr ein paar Meter entfernt, das auf einer Art Stativ ruhte. War das hier ein Scharfschütze? Wer hatte ihn beauftragt? Und, noch wichtiger, womit?
»Wir können über alles reden«, stieß er hervor und kam sich im selben Moment lächerlich vor. Ein Schweißtropfen rann heiß über seine Wirbelsäule. Er zitterte.
Zu seiner Überraschung schnaubte der Mann hinter ihm, was beinahe belustigt klang, und ließ ihn los, gab ihm einen Stoß, der ihn nach vorn taumeln ließ. Er fiel auf die Knie, stützte sich mit beiden Händen im feuchten Sand ab. Storm war sofort bei ihm und half ihm hoch. Er fuhr zu dem Mann herum, der die Waffe sinken ließ und in ein Holster an seiner Hüfte steckte.
»Du hast das Geld nicht überwiesen«, sagte der Kerl. Auch wenn er sprach, blieb sein Gesicht völlig reglos, bar jeglicher Mimik. »Sonst wärst du nicht so schnell wieder hier gewesen.«
»Ja, verdammt«, zischte Storm. »Was zur Hölle willst du hier?«
»Dir das Leben retten«, zischte Jordan zurück.
»Das hat ja großartig geklappt.« Mit dem Kinn wies Storm auf die Gitarre, die zu den Füßen des Killers im Sand lag. »Eine Gitarre? Ernsthaft? Warum bist du zurückgekommen? Hast du deine Kreditkarte vergessen?«
»Und warum wolltest du abhauen? Bin ich es dir nicht mal wert, dass du mir die Wahrheit sagst und einfach feige verschwindest?«
Sie funkelten sich an.
»He«, sagte der Killer.
Mist, den hatte Jordan fast vergessen.
»Schätze mal, ihr habt andere Probleme als eure Beziehungsstreitereien.«
»Wir haben keine Be…«, fingen Jordan und Storm gleichzeitig an, sahen sich an und verstummten. Allmählich kam Jordan sich vor wie in einem Thriller, der sich unerwartet in eine Sitcom verwandelte.
»Ja, die haben wir«, stimmte Storm zu. Seine Stimme klang bewundernswert fest und cool. »Warum hetzt Munro mir einen Scharfschützen auf den Hals? Bestimmt nicht, um nur auf mich aufzupassen.«
»Doch, genauso ist es«, sagte der Killer, immer noch, ohne eine Miene zu verziehen. Entweder er war absolut abgebrüht oder konnte aus irgendwelchen Gründen die Muskeln in seinem Gesicht nicht bewegen. »Der Gregory-Clan ist hinter dir her.«
Jordan hätte um ein Haar die Augen verdreht. Nun war er in eine Gangster-Komödie geraten. Nur war das hier leider Realität.
»Was wollen die denn?«, murrte Storm. Also sagte ihm der Name was.
»Die wollen dich in die Finger bekommen, damit sie ein Druckmittel gegen Munro haben. Und weil sie denken, du kannst was ausplaudern, was ihnen nützen könnte.«
»Moment mal … Munro hat dich wirklich hergeschickt, damit du auf mich aufpasst? Um mich vor den Gregorys zu beschützen?«
»Bilde dir nicht zu viel darauf ein. In erster Linie will er sich selbst schützen. Würde ihm nicht gefallen, wenn du bei den Gregorys singst.«
»Schon klar.«
Jordan spürte, wie sich Storm neben ihm anspannte. Er hatte das Gefühl, dass sie einen Wendepunkt in der Unterhaltung, wenn man sie so nennen konnte, erreicht hatten. Was sie jetzt sagten, würde die Weichen stellen, wie es weiterging. Zumindest hörte sich das alles nicht danach an, als ob Munros Mann Jordan oder ihn erschießen sollte.
Er holte tief Luft. »Ich biete dir das Doppelte«, hörte er sich sagen.
Storm und der Killer starrten ihn an. Storm, als hätte er völlig den Verstand verloren und der Killer nachdenklich und mit einem Hauch Respekt im Blick.
»Was zahlt dieser Munro dir? Ich zahle das Doppelte«, wiederholte Jordan.
»Was soll ich dafür tun?«
Er zweifelte nicht mal an, dass Jordan das Geld aufbringen konnte. Jordan war wohl doch noch bekannter, als er gedacht hatte.
»Warum gehen wir nicht ins Haus und unterhalten uns vernünftig darüber?«, schlug er vor.
»Bei einem Tee?«, knurrte der Killer. Obwohl sich in seinem Gesicht weiterhin nichts regte, glaubte Jordan ein Aufblitzen von Humor in seinen Augen zu sehen.
»Von mir aus.«
Sie stapften vor dem Killer, der, wie Jordan nun wusste, Brian hieß, durch den Sand auf das Haus zu. Brian hatte sorgfältig sein Scharfschützengewehr auseinandergenommen und eingepackt, während Jordan versucht hatte, Storms abwechselnd finstere und ungläubige Blicke zu ignorieren. Er hatte einen Plan und der war in seinen Augen grandios. Er würde auch Storm gefallen, da war er fast sicher. Nun musste er nur noch Brian überzeugen.
Irgendetwas war da zwischen Storm und Brian. Sie warfen sich auf dem Weg zum Haus Beleidigungen an den Kopf, doch auf Jordan wirkte das eher freundschaftlich. Naja, wenn sie beide für Munro arbeiteten, waren sie wohl sowas wie alte Kumpel.
»Tee oder Kaffee?«, fragte er automatisch, sobald sie das Haus betreten hatten.
Brian verlangte tatsächlich einen Kakao. »Mit Sahne, wenn möglich«, sagte er höflich und setzte sich auf das Sofa. Die Situation war so skurril, dass Jordan beinahe gelacht hätte. Nur Storms deutlich sichtbare Anspannung hinderte ihn daran. Er bediente die Luxus-Kaffeemaschine, die zum Glück Kakao produzieren konnte, und behielt Brian dabei im Auge. Der sah sich mit stoischer Miene um.
Storm holte Tassen aus dem Schrank und stellte sich dicht neben Jordan. »Was soll der Scheiß?«, flüsterte er so laut, dass Brian es hören musste.
»Mir ist was Gutes eingefallen«, flüsterte Jordan zurück. »Lass dich überraschen.«
»Du überraschst mich schon, seit ich in deine verdammte Villa eingebrochen bin«, zischte Storm.
Wie ein Kompliment hörte sich das nicht gerade an. Aber Storm war auch nicht der Typ, der Komplimente verteilte. Also hob Jordan nur die Schultern und reichte ihm einen Becher Kakao mit Sahne. »Hier, für Brian.«
Mit zwei weiteren Bechern, Kaffee, schwarz, ging er wenig später ebenfalls zum Sofa. Brian und Storm saßen so weit wie möglich voneinander entfernt auf dem Sofa und Jordan wählte einen der Sessel.
»Du kannst nicht alle Probeme mit deiner Kohle lösen«, sagte Storm.
»Darauf würde ich nicht wetten«, kommentierte Brian trocken.
Einen Scharfschützen, vermutlich Auftragskiller, hatte sich Jordan irgendwie anders vorgestellt. Beängstigender. Oder hatte er einfach sämtliches Adrenalin aufgebraucht und war jetzt mit nichts mehr zu beeindrucken?
Freimütig informierte Brian ihn darüber, wieviel Munro ihm zahlte. Konnte natürlich gelogen sein, aber das interessierte Jordan nicht. Die Hauptsache war, dass er sich auf den Deal einließ. Er erklärte, wie er sich die Sache vorstellte. Die Details fielen ihm erst ein, während er sprach. Weder Brian noch Storm unterbrachen ihn. Brian lauschte ohne jegliche Gefühlsregung und Storm zog lediglich die Brauen zusammen. Auch in seinem Gesicht konnte Jordan nicht lesen, ob er seinen Plan annehmbar oder völlig daneben fand.
»Kommt natürlich darauf an, ob es dir auch recht ist, Storm«, schloss er seine Ausführungen. »Ich denke aber, das ist ein guter Ausweg.«
Es herrschte Schweigen.
»Ich will mit Jordan allein reden«, sagte Storm schließlich leise. Klang wie eine Drohung.
Mist. Er hasste den Plan. Jordan zog die Schultern hoch. »Äh. Klar«, sagte er. »Aber wir sollten uns beeilen. Munro hat Saul.«
Kaum ausgesprochen, zog sich sein Magen so heftig zusammen, dass er einen Moment fürchtete, sich gleich hier vor Storm und Brian übergeben zu müssen. Die Angst, die er um Saul hatte, war von der Begegnung mit dem Scharfschützen nur kurzfristig verdrängt worden. Doch nun tauchte wieder das Bild von Papa Saul vor ihm auf, sein rotes, panikverzerrtes Gesicht, der maskierte Kerl mit der Waffe neben ihm …
»Ok. Ich seh mich mal draußen um«, sagte Brian und stand auf. Mit einer selbstverständlichen Bewegung zog er seine Waffe und hielt sie locker in der Hand, während er auf die Veranda ging und die Tür hinter sich zuzog. Jordan sah, dass er sich mit der anderen Hand eine Zigarette in den Mund steckte und anzündete.
»Das kann doch nicht dein Ernst sein!«, fuhr Storm Jordan an. »Weißt du überhaupt, was das bedeutet?«
»Ja«, behauptete Jordan, musste sich im selben Moment eingestehen, dass er das nicht wusste. Aber konnte man sich im Leben je über irgendetwas sicher sein? Jetzt, in diesem Moment, kam es ihm richtig vor. Ob es das wirklich war würde nur die Zukunft zeigen.
»Du wirst alles verlieren«, hörte er Storm sagen.
Enttäuschung würgte ihn. Verstand Storm es nicht? Er hatte mehr von ihm erwartet, so, wie er ihn bisher kennengelernt hatte. »Das ist doch genau das, was ich tun muss. Ein neues Leben.«
»Aber doch keins, bei dem du bei Null anfängst.«
»Das ist das Beste, was mir passieren kann.«
»… sagt der Mann, der immer einen Arsch voll Geld hatte«, höhnte Storm.
»Naja, ich werde flüssig machen, so viel ich kann«, erinnerte Jordan ihn. Das schien Storm zumindest ein wenig zu besänftigen. Jordan stand auf und setzte sich neben ihn auf das Sofa. »Woher kennst du Brian?«
»Von früher.« Storm sah zur Seite.
»Schon klar. Aber … da ist doch was zwischen euch.«
»Du meinst, außer Misstrauen und Feindseligkeit?« Storm seufzte und sah ihn nun doch an. »Er ist der Drummer, von dem ich dir erzählt hab.«
Mehr brauchte er gar nicht zu sagen.
»Okay. Du vertraust ihm?«
Storm schnaubte. »Nur, so weit ich ihn werfen kann.« Nach einigem Zögern fügte er hinzu. »Er ist okay. Aber … «
Jordan ahnte, was er einwenden wollte. »Selbst, wenn es schiefgeht«, begann er. »Selbst, wenn Munro es später herausfindet. Was könnte denn schlimmstenfalls passieren? Nichts, was schlimmer als jetzt ist. Du wärst über alle Berge. Und ich … Naja, es würde einen ziemlichen Skandal geben, aber mal ehrlich, was hätte Munro davon, es aufzudecken? Der Einzige, der richtig Ärger bekommen würde, wäre Brian. Also wird er mitspielen.«
»Du willst das wirklich tun? Wir könnten auch einfach nur behaupten, dass ich gestorben bin. Du könntest …«
»Nein. Ich will das so. Erstens ist es glaubhafter. Und zweitens … das ist meine Chance. Verstehst du das nicht? Ich will so nicht weitermachen.«
»Das sagst du jetzt. Du wirst das bereuen, Blondie.«
»Ich bereue jetzt schon genug, da kommt es darauf auch nicht mehr an.«