Kapitel 5

Kaum war sie durch die großen steinernen Türflügel getreten, die in die Burg hineinführten, spürte sie ein hektisches Kribbeln in der Luft; dann schien ein leichtes Schimmern über ihren Körper zu tanzen, bevor es sich wieder in nichts auflöste. Sie ging an einer langen Reihe panzerbewehrter Statuen vorbei. Ihr Geist wirkte seltsam betäubt, als wären ihre Ohren von einer äußeren Macht blockiert worden. Es erinnerte sie an das Gefühl, das sie in Voids Turm gehabt hatte, nur war es jetzt viel deutlicher. Sie wusste: So fühlt sich Magie an.

Der Großmeister sah zu ihr auf und lächelte. „Whitehall hat mächtige Schutzschirme“, erklärte er. „Einige sollen Eindringlinge abweisen, andere sollen dich und deine Mitschüler davon abhalten, euch selbst zu schaden.“

Emily nickte.

Auf die Reihe unbeweglicher Rüstungen folgte eine Reihe Gemälde von Zauberern, fast alle männlich. Nur wenige Bilder zeigten Frauen, darunter war ein blondes Mädchen, das den Maler anzustarren schien, als wolle sie ihn dazu verleiten, etwas Dummes anzustellen. Sie konnte die Namen unter den Bildern nicht lesen. Keines der Bilder bewegte sich offenkundig, doch jedes Mal, wenn sie wegsah und dann wieder hinblickte, hatten alle Porträtierten eine andere Haltung eingenommen.

Sie kamen an einer kleinen Gruppe Schüler vorbei, die im Flur warteten. Sie traten zur Seite, um den Großmeister durchzulassen. Dann kamen sie zu einer Treppe und gingen in ein höheres Stockwerk. Das Gefühl von Magie in der Luft wurde immer stärker. Genau wie Voids Turm, stellte Emily fest, war Whitehall innen sehr viel größer als außen. Sie fragte sich, was noch in dem Gebäude verborgen sein mochte: geheime Gänge, versteckte Basen, vielleicht sogar ein Ort, wo die Lehrer sich zurückziehen und von den Schülern erholen konnten. Das ergab Sinn; die menschliche Natur änderte sich wohl kaum, auch wenn Magie im Spiel war.

Sie folgte dem Großmeister in einen langen Flur und blinzelte überrascht, als sie eine Reihe Schüler bemerkte, die mit dem Rücken zur Wand dastanden und die Hände auf ihre Köpfe gelegt hatten. Keiner sah ihr in die Augen, als sie vorbeiging; das musste bedeuten, dass sie in Schwierigkeiten steckten. Das überraschte sie nicht. Die Schüler, die sie von zu Hause kannte, waren auch ohne Magie in Schwierigkeiten geraten; wer wusste schon, was für Streiche man mit Magie anstellen konnte?

Am Ende des Ganges redete ein gestresst aussehender Mann in einem schwarzen Umhang mit einer Schülerin, einem jungen Mädchen, das ein bisschen krank aussah.

„Aber er hat mich verhext , Meister“, sagte sie, als Emily und der Großmeister vorbeigingen. „Ich wollte seine Haut doch gar nicht blau färben!“

„Und wie oft“, fragte der Lehrer sarkastisch, „hat man dich gewarnt, dass du niemals jemandem einen ungeprüften Zaubertrank verabreichen darfst?“

Bevor Emily darüber nachdenken konnte, hatte der Großmeister sie schon weitergeführt, an zwei Statuen von Zauberern vorbei, die einen Zauberstab in der Hand hielten, und einem merkwürdigen Geschöpf mit dem Kopf eines Menschen und dem Körper einer Ziege. Nach diesem seltsamen Anblick gingen sie durch eine Holztür in einen großen Raum, der von einem riesigen hölzernen Schreibtisch und einem thronähnlichen Stuhl beherrscht wurde. Er war spartanisch eingerichtet, nur mit zwei Bildern und ein paar Pergamenten, die Emily für Zertifikate hielt. Sie sahen jedenfalls wie die Zertifikate an den Wänden des Schuldirektors auf der Erde aus. Der Schreibtisch wirkte handgeschnitzt, kleine Siegel waren ins Holz geschnitten, aber seine Oberfläche war leer, ohne Computer oder Telefon, wie sie sie zu Hause vorgefunden hätte.

„Bleib hier stehen“, befahl der Großmeister. Er ging um den Tisch herum und setzte sich ihr gegenüber hin. Trotz der merkwürdigen Erlebnisse dieses Tages gelang es Emily irgendwie, still zu stehen. „Void wünscht, dass du Magie lernst.“

„Ja, Sir“, sagte Emily nervös. Sie hatte das Gefühl, dass sie dem Großmeister gegenüber sehr höflich sein musste. Trotz seiner geringen Körpergröße konnte er sie wahrscheinlich mit einem Fingerschnippen in eine Kröte verwandeln. Zu Hause war es verboten, Schüler zu misshandeln, selbst wenn es sich um die Art von Jugendlichen handelte, die eher einen Tritt in den Hintern verdient hätten als Liebe und Verständnis. Aber solche Verbote gab es hier vielleicht nicht.

„Du hast das Zeug zu einer richtigen Hexenmeisterin“, sagte er. Der Großmeister blickte auf den Tisch, als würde ihr Anblick ihn kein bisschen interessieren. „Wir werden das natürlich überprüfen, und dabei müssen wir sicherstellen, dass du eine solide Grundlage in allen Formen von Magie erhältst. Wir führen zunächst mehrere Tage lang Tests durch, bevor wir dich in deine ersten Kurse schicken. Außerdem wirst du Übungen machen und andere Strategien kennenlernen, um deine Kräfte in die richtige Richtung zu lenken.“

Emily nickte. Gedanken wirbelten in ihrem Kopf umher. Es gab mehr als nur zwei Arten von Magie?

Der Großmeister schaute sie scharf an. „Hast du schon einmal Magie ausgeübt?“

Emily zögerte. „Ich … ich glaube nicht“, sagte sie schließlich. „Ich habe Magie gespürt, aber ...“

Er schüttelte den Kopf. „Wir werden dir zeigen müssen, wie du deine Kräfte entfaltest. Ich lasse Meisterin Irene mit dir arbeiten, zumindest am Anfang.“

Er betrachtete sie einen langen Augenblick. „Void hat nicht ganz klar gesagt, wo du herkommst“, sagte er. „Würdest du mich freundlicherweise darüber aufklären?“

Das war keine Bitte, ging es Emily auf. Schnell gab sie ihre Geschichte wieder, von ihrer Entführung durch Shadye bis zu dem Moment, in dem Void sie auf den Rücken des Drachen gesetzt und nach Whitehall geschickt hatte. Er war der einzige Erwachsene, den sie bisher getroffen hatte, der zuhören konnte, ohne sie zu unterbrechen. Der Großmeister blieb aufmerksam, bis sie fertig war, und stellte ihr dann ein paar klärende Fragen. Emily beantwortete die erste ohne Probleme, doch die zweite war unmöglich zu beantworten. In ihrer Welt gab es keine Magie – soweit sie wusste.

„Interessant“, sagte der Großmeister. Er blickte wieder auf den Tisch hinab. „Das Wichtigste zuerst: Void oder Shadye haben dir einen Übersetzungszauber verpasst, wahrscheinlich Shadye. Etwas an diesem Zauber lässt mich vermuten, dass er für jemanden gedacht war, der ihn vielleicht nicht gewollt hätte. Du verstehst uns, aber ich vermute, du wirst unsere Schrift nicht lesen können.“

Emily schüttelte den Kopf; das Bild fiel ihr wieder ein. Sie hatte sich gefragt, wieso sie mit den Einheimischen sprechen konnte; vermutlich beherrschten weder Shadye noch Void Englisch. Natürlich hatten sie Magie angewandt, um ihre Worte für sie verständlich zu machen! Unter den gegebenen Umständen störte sie das; einer von ihnen hatte sie verzaubert und sie hatte es nicht einmal bemerkt, bevor der Großmeister sie darauf hingewiesen hatte. Was hatten sie vielleicht noch mit ihr gemacht?

Aber der Großmeister fuhr fort, bevor sie lange genug darüber nachdenken konnte.

„Ich werde dafür sorgen, dass Meisterin Irene dir einen einfachen Übersetzungszauber für geschriebene Worte beibringt“, sagte er. „Darüber hinaus ist es sicher ratsam, dass du unsere Sprache so schnell wie möglich lernst. Ein richtiges Verständnis wird es dir erleichtern, auf höchstem Niveau zu studieren.“

Das war keine Bitte, wie Emily klar wurde. Ein Teil von ihr wollte über die Forderung lachen – niemand hatte sie je gezwungen, eine andere Sprache zu lernen –, aber der praktische Teil ihres Verstandes wusste, dass sie keine Wahl hatte. Außerdem hatte sie noch nie in einem anderen Land studiert. Für Austauschschüler galten wahrscheinlich andere Regeln. Sie mussten ja mit ihren Gastgebern kommunizieren können.

Er lächelte dünn. „Du bist nicht von dieser Welt, aber ich halte dir trotzdem den Standard-Vortrag. Die Verbündeten Lande haben zahllose Streitigkeiten, alte und neue, aber sie werden an dieser Schule nicht geduldet. Schüler, die mit anderen Schülern wegen solcher Zwistigkeiten Streit anfangen, werden bestraft; wer lange genug hierbleibt, um in die Fortgeschrittenenkurse aufgenommen zu werden, von dem erwarten wir, dass er einen Eid auf den Weißen Rat ablegt und seine nationalistischen Einstellungen hinter sich lässt. Es gibt zu viele Nekromanten da draußen, als dass wir uns von internen Kämpfen ablenken lassen können.“

„Ja, Sir“, sagte Emily. Fragen drängten sich auf: Was war der Weiße Rat? Und was waren die Fortgeschrittenenkurse? Sie vertagte ihre Fragen auf später. Zunächst einmal musste sie sich hier orientieren.

Der Großmeister zuckte mit den Schultern. „Du dürftest über solche Konflikte erhaben sein; egal, welche Streitigkeiten es in deiner Welt gab, hier werden sie kaum eine Bedeutung haben. Solltest du nicht darüber erhaben sein, wirst du bestraft werden. Erstaunlich viele Schüler weigern sich, diesem klaren Hinweis Folge zu leisten, bis es letztlich zu spät ist.“

Seine Augen, die hinter dem Tuch verborgen lagen, schienen ihr Gesicht zu fixieren. „Die Versuchung ist groß, an dieser Schule Magie zu missbrauchen. Wir lassen den Jüngeren einen gewissen Spielraum, weil sie dadurch lernen, ihre Kräfte zu kontrollieren, aber es gibt Grenzen. Du wirst später noch konkretere Unterweisung erhalten, aber jegliche Handlung, die das Leben eines Mitschülers gefährdet, ist ein Grund für einen sofortigen Schulverweis. Wer es fertigbringt, einen Mitschüler zu töten, wird es mit dessen Familie zu tun bekommen.“

Emily schluckte. In was war sie nur hineingeraten? „Passiert … passiert das häufiger?“

„Zu oft“, sagte der Großmeister. Seine Stimme war grimmig, wahrscheinlich erinnerte er sich an dunkle Tage, wo ihm anvertraute Schüler verletzt worden waren – oder Schlimmeres. „Sollte es irgendwelche Zweifel daran geben, was passiert ist, wird jeder Beteiligte unter einem Wahrheitszauber befragt, bis die Wahrheit ans Licht kommt; danach werden die Strafen verhängt.“

Er stand unvermittelt auf. „Wir hoffen, dass deine Jahre bei uns dir Freude bereiten werden und dass du die Erwartungen erfüllen wirst, die Void in dich setzt, aber es gibt Grenzen für das, was wir dulden können“, schloss er. „Aber du bist nicht von hier. Du solltest imstande sein, das politische Tauziehen und die Gruppenkämpfe zu ignorieren.“

„Ich werde mein Bestes geben, Sir“, versprach Emily.

Ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Die korrekte Anrede ist Großmeister, junge Dame“, sagte er mit einer komischen Grimasse. „Ich schlage vor, dass du hinhörst, wie die Lehrer sich vorstellen, und es dir merkst. Sie nehmen es sehr persönlich, wenn jemand sie falsch anredet.“

Er lächelte sanft. „Würdest du mir folgen …?“

Die Reihe von Schülern, die an der Wand standen, war in den wenigen Minuten, die sie im Büro des Großmeisters verbracht hatten, länger geworden. Einige von ihnen warfen Emily einen Blick zu, als sie vorbeiging; die übrigen ignorierten sie, als wollten sie nicht die Aufmerksamkeit des Großmeisters auf sich ziehen. Sie fragte sich, was für Strafen in einer magischen Schule ausgesprochen wurden. Mussten sie Sätze hundertmal schreiben oder nachsitzen? Oder wurden sie einfach für ein paar Stunden in Frösche verwandelt? Sie schüttelte den Kopf und ließ den Gedanken fallen. Sie würde das zweifellos früh genug herausfinden.

Sie hielten vor einer glatten Wand an. Der Großmeister klopfte mit seinem Stab dagegen und sie öffnete sich. Ein neuer Gang tat sich auf. Seine steinernen Wände wurden alle paar Meter von Holztüren unterbrochen. Eine kleine dicke Frau watschelte aus einer seitlichen Tür und sah zum Großmeister empor; dann betrachtete sie Emily nachdenklich.

„Dies ist Madame Razz“, sagte der Großmeister. „Sie ist während deiner ersten zwei Schuljahre deine Hausmutter. Ich schlage vor, dass du ihr sehr genau zuhörst.“

„Danke, Großmeister“, sagte Madame Razz. Ihre Stimme war schneidend, sie duldete ganz sicher keinen Unsinn. „Wann ist ihre erste Unterrichtsstunde?“

„Meisterin Irene wird das organisieren“, teilte der Großmeister ihr mit. „Bis dahin hat sie Zeit, um sich mit all dem ausstatten zu lassen, was sie im ersten Semester brauchen wird.“

Er nickte Emily zu, dann wandte er sich um und schritt durch die verborgene Tür davon.

Emily drehte sich um und sah gerade noch, dass Madame Razz sie leicht missbilligend betrachtete. Doch bevor Emily sich darüber Gedanken machen konnte, bedeutete sie ihr schon, ihr zu folgen. Sie gingen den Gang entlang zu einem großen Lagerraum, der mit Kleidern, Bettzeug, Hygieneartikeln und vielem mehr vollgestopft war. Madame Razz betrachtete sie noch einmal ausgiebig, dann zog sie ein weißes Gewand aus einem Stapel Kleider und warf es ihr zu. Emily hielt es an ihren Körper und stellte fest, dass es ihr passen würde. Es würde zudem auch ihre Figur vor neugierigen Blicken verbergen.

„Die weißen Roben sind für Neuankömmlinge in Whitehall“, teilte Madame Razz ihr kühl mit. Sie nahm etwas von einem Geländer, das aussah wie ein Paar übergroße Unterhosen, dazu ein Unterhemd und ein Paar Strümpfe, und gab alles Emily. „Außerhalb deines Zimmers darfst du nichts anderes tragen, insbesondere nichts, das Zwietracht zwischen den Schülern säen könnte. Von jedem Kleidungsstück werden dir fünf Paar zugewiesen, für die du die Verantwortung trägst. Du wirst sicherstellen, dass sie in die Wäscherei kommen und von dort wieder abgeholt werden. Wenn du etwas verlierst, bezahlst du dafür.“

Ich hab dich auch lieb, dachte Emily. Der Großmeister hatte wie ein anständiger Typ gewirkt, auch wenn er deutliche Warnungen ausgesprochen hatte. Madame Razz dagegen schien von jedem Mädchen gleich das Schlimmste anzunehmen. Sie kam offenbar direkt aus einem Höllen-Internat.

„Einmal pro Woche wirst du dein Bettzeug wechseln“, fuhr Madame Razz fort, während sie ihr weitere Stoffbündel zuwarf. „Nach dem Wechsel legst du das Bettzeug zusammen mit deiner Kleidung zum Waschen hin. Zum Glück haben die Betten Standardgrößen, so dass wir das Bettzeug bei Bedarf untereinander tauschen können. Aber du bist auch dafür verantwortlich, alle Schutzzauber zu entfernen, mit denen du das Bettzeug eventuell belegt hast. Wenn du aus Versehen einen Schutzzauber am Bettzeug belässt, so dass er das Personal in der Wäscherei angreift, wird das dazu führen, dass du mindestens eine Woche lang in der Wäscherei mitarbeiten musst.“

Sie holte ein kleines Amulett aus einem Beutel und reichte es Emily. „Dies ist ein Führer durch das Innere des Gebäudes, das sich regelmäßig verändert“, erklärte sie. „Falls du irgendwohin musst, halte das Amulett in deiner linken Hand und sage den Namen des Ortes laut. Eine Lichtkugel wird in der Luft erscheinen und dich zu deinem Ziel führen. Wenn es sich weigert, hast du noch keine Genehmigung, diesen Teil des Gebäudes zu betreten. Einige Bereiche werden tabu bleiben, bis du ein bestimmtes Niveau erreicht hast. Trage das Amulett, bis du lernst, wie du mit Hilfe deiner eigenen Magie die Schule nach dem Weg fragen kannst.“

Emily blickte auf das Amulett und legte es sich dann um den Hals.

„Zahnbürste, Zahnpasta, Waschpulver, Uhr, Heiltränke“, fuhr Madame Razz fort, während sie Flaschen voller Flüssigkeiten auf den Kleiderstapel legte, den Emily im Arm trug. „Zu gewissen Zeiten jeden Monat trinke täglich einen großen Schluck von dieser Flüssigkeit, und die Auswirkungen werden deutlich verringert sein. Achte darauf, dass du keine Proben deines Blutes herumliegen lässt; es hat immer noch eine Verbindung zu dir und wer böse Absichten hat, kann dich damit verhexen oder dir noch Schlimmeres antun. Es gibt Zaubersprüche, die diese Verbindung aufheben; bis du sie erlernt hast, übergib mir alles, was mit deinem Blut befleckt ist, damit ich es entsorgen kann.“

Die Uhr war seltsam, sie schien nicht hierher zu passen. Emily betrachtete sie und entdeckte schließlich, dass sie dazu gedacht war, dass man sie um den Hals hängte oder in seiner Jacke mit sich führte, statt sie am Handgelenk zu tragen. Sie kam zu dem Schluss, dass es eine mechanische Uhr war, keine elektronische. Sie würde sie regelmäßig aufziehen müssen, damit sie weiterlief.

Schließlich holte Madame Razz ein Buch vom Ende des Raumes, dann führte sie Emily zurück in den Gang. Emily folgte ihr, wobei sie leicht unter dem Gewicht ihrer neuen Ausstattung schwankte. Dann kamen sie zu einer Tür, die genauso aussah wie all die anderen. Madame Razz klopfte laut, dann öffnete sie die Tür, indem sie mit dem Finger auf eine Rune tippte, die in den Stein gemeißelt war. Im Zimmer waren drei Betten; zwei davon waren schon gemacht und von Bücherstapeln und anderen Dingen umgeben, die Emily nicht kannte. Das dritte Bett war nichts als eine unbequem aussehende Matratze.

„Leg das Bettzeug aufs Bett“, befahl Madame Razz. „Ich nehme an, du weißt, wie man sein Bett macht?“

Sie klang, als erwarte sie von Emily nicht einmal, dass sie ihre Schnürsenkel zubinden konnte, aber Emily nickte. Sie wollte auf keinen Fall, dass ihre Mutter oder ihr Stiefvater zu Hause ihr Zimmer betraten, darum hatte sie von klein auf für alles selbst gesorgt. Es war nicht wirklich schwer, ein Bett zu beziehen; es hatte sie immer belustigt, dass Jungs – und einige Mädchen – sich darüber beschwerten, dass ihre Eltern sie dazu zwangen, ihre Betten selbst zu machen. Sich darüber zu beklagen dauerte länger, als das Bett zu beziehen.

„Ja“, sagte Emily.

„Ja, Madame, heißt das“, fauchte Madame Razz. Sie nickte in Richtung der Tür am hinteren Ende des Zimmers. „Toilette, Waschbecken und Badewanne sind da drin. Du wirst dich mit deinen Zimmergenossinnen einigen müssen, in welcher Reihenfolge ihr das Bad benutzt; ich möchte ungern eine Reihenfolge durchsetzen müssen. Das Becken in der Ecke da drüben enthält Trinkwasser; falls du Essen oder etwas anderes zu trinken möchtest, warte bis zum Morgen. Als Anfängerin darfst du nicht im Gebäude herumlaufen, wenn die Lichter erloschen sind.“

Sie drehte sich um und nickte in Richtung der anderen Betten. „Ich habe dich bei Aloha und Imaiqah einquartiert; Imaiqah besucht wie du die erste Jahrgangsstufe, Aloha ist in der zweiten. Deshalb erwarten wir, dass sie die Verantwortung für das Zimmer übernimmt. Wenn ihr das Zimmer sauber und ordentlich haltet, mit so wenig Lärm, Kämpfen und Problemen wie möglich, werdet ihr mit Zimmer-Punkten belohnt, die ihr gegen Zierrat, Bücher oder sogar Süßigkeiten eintauschen könnt. Ich möchte äußerst ungern bei Streitigkeiten zwischen euch eingreifen müssen. Falls dies unvermeidbar ist, werdet ihr alle bestraft. Verstehst du mich?“

„Ja, Madame“, sagte Emily. Sie versuchte, nicht mit den Augen zu rollen. „Ich verstehe.“

„Gut“, sagte Madame Razz. „Wie ich gehört habe, wird Meisterin Irene auf dich zukommen; falls sie dies nicht bis zum Abendessen tut, wird eine deiner Zimmergenossinnen dich zum Speisesaal hinunterführen. Oder nimm das Amulett, um den Saal zu finden.“

Sie ging zur Tür und warf Emily noch einen Blick zu. „Diese Schule gleicht keinem anderen Ort in den Verbündeten Landen“, fügte sie hinzu und ihre Stimme klang fast mitfühlend. „Es kann schwer sein, sich anzupassen, besonders wenn du aus einer adeligen Familie stammst. Wenn du Hilfe oder Rat brauchst, kannst du jederzeit mit mir sprechen.“

„Danke“, sagte Emily.

Madame Razz ging und schloss die Tür schnell hinter sich.

Emily sah sich im Zimmer um. Ihr Blick fiel auf einen Stapel Bücher neben einem der Betten. Ihr erster Impuls war, sie in die Hand zu nehmen, doch dann spürte sie den Dunst von Magie um sie herum und merkte, dass es eine ganz schlechte Idee wäre, sie in die Hand zu nehmen – jedenfalls ohne Erlaubnis. Stattdessen ging sie den Stapel Kleidung und Bettwäsche durch, dann legte sie die Kleidung in den leeren Schrank, der ihrem Bett am nächsten stand. Die Medizinflaschen kamen in den kleineren Schrank neben dem Bett, ebenso das Amulett; zuletzt begann sie, das Bett zu beziehen. Es war noch einfacher, als sie erwartet hatte, obwohl die Matratze sich rau und unbequem anfühlte, als sie sie ausprobierte.

Sie legte sich aufs Bett, starrte an die Decke und schüttelte den Kopf. Ihr Leben war auf den Kopf gestellt, doch einige Aspekte erschienen ihr leichter zu handhaben, als sie erwartet hatte. Am merkwürdigsten waren ihre Gefühle, wenn sie an ihre alte Welt dachte. Sie erschien ihr jetzt fast wie ein Traum. Und sie wusste, dass sie nie wieder zurückwollte.

Einen Augenblick fokussierte sie sich auf ihre Zimmergenossinnen. Sie hatte noch nie mit jemandem ein Zimmer geteilt, noch nicht einmal mit Freundinnen zusammen übernachtet. Wie auch immer ihre Zimmergenossinnen sein würden, sie betete, dass sie sich gut mit ihnen verstehen würde. Freunde – oder zumindest Verbündete – würden ihr Leben hier vollkommen machen.

Und hieß eine von ihnen wirklich Aloha? Oder war das nur ein Übersetzungsfehler?

Sie schüttete den Kopf, nahm Voids Buch zur Hand und begann es durchzublättern. Sie wünschte, sie könnte es lesen. Void hatte versprochen, dass sie es mit der Zeit verstehen würde, doch noch sah das Ganze für sie wie Chinesisch aus. Die krakelige Handschrift schien unergründlich.

Ich bin erst einen Tag hier, sagte sie zu sich selbst. Warte erst mal ab, was du nach einer Woche kannst.