Kapitel 26

„Ich?“

Alassa sah auf ihr Glas hinab und nickte. „Du. Du hast mein Leben ruiniert.“

Emily starrte sie verwirrt an. Wie genau hatte sie Alassas Leben ruiniert?

Es stimmte schon, das königliche Miststück hatte eine Lektion zum Thema gebraucht, wie gefährlich es war, auf Leuten herumzuhacken, und sie machte im Grundkurs Zaubersprüche sogar Fortschritte – mit Emilys Hilfe.

Aber möglicherweise, dachte Emily, hatte Alassa, anders als viele andere Schülerinnen, nie erwachsen werden müssen. Stattdessen war sie eine Prinzessin gewesen und als solche vom Tag ihrer Geburt an verwöhnt worden.

Einer von Emilys älteren Lehrern aus ihrer eigenen Welt hatte seiner Klasse erzählt, dass Stadtkinder sich von Landkindern unterschieden. Stadtkinder lernten selten etwas Nützliches, jedenfalls im praktischen Sinne, während Landkinder von klein auf lernten, ihren Eltern zu helfen. Emily hatte ihm damals nicht geglaubt – sie hatte Kinder gekannt, die mit dem Austragen von Zeitungen Geld verdienten –, aber in diesem Moment verstand sie, was er gemeint hatte. Ein Kind wie Imaiqah, die Tochter eines fleißigen Kaufmanns, musste ihrem Vater helfen, sobald sie laufen konnte, einfach um die Ressourcen wieder hereinzuholen, die er in sie investiert hatte. Imaiqah hatte sehr schnell erwachsen werden müssen; Emily vermutete sogar, dass Imaiqah mathematisch viel begabter war als alle, die sie von zu Hause her kannte, vielleicht weil Imaiqah für ihren Vater Beträge zusammengerechnet hatte, seit sie eins und eins zusammenzählen konnte.

Alassa hingegen hatte nie wirklich etwas lernen müssen, geschweige denn sich ihren Lebensunterhalt verdienen oder für einen Krieg trainieren. Einen Kronprinzen nahm man mit aufs Schlachtfeld, sobald er gehen konnte, damit er die Kriegskunst erlernte, aber niemandem würde es einfallen, eine Kronprinzessin einer solchen Behandlung auszusetzen. Diese zarten kleinen Mädchen waren die Mütter der nächsten königlichen Generation. Man musste sie verhätscheln und beschützen und …

… was man auch sonst über Alassas Erziehung sagen konnte: Sie war nicht ordentlich auf die echte Welt vorbereitet worden. Alassa war eine Maria Stuart, beschloss Emily, keine Elisabeth Tudor. Und Maria war am Ende von ihrer Cousine, Königin Elisabeth der Ersten, enthauptet worden.

„Ich wollte dein Leben nicht ruinieren“, sagte Emily nach einer langen Pause. Es fiel ihr schwer, die richtigen Worte zu finden. Ihre Schule hatte sie einmal zu einem Psychologen geschickt und sie war von der ganzen Angelegenheit fast verrückt geworden. Der Idiot hatte dumme Fragen gestellt und noch nicht einmal zugehört, was sie antwortete. Jetzt fühlte sie einen Anflug von Mitgefühl für ihn. „Und ich wollte auch nicht, dass du eine Tracht Prügel bekommst.“

Alassa funkelte sie an. „Wolltest du mich fast umbringen?“

„Nein, aber du hast angefangen“, sagte Emily. Sie hatte nicht die Absicht, vor einem verwöhnten Miststück zu Kreuze zu kriechen, auch wenn Alassa tatsächlich etwas erwachsener geworden war. „Du hast mich in … etwas verwandelt und meine Freundin gefoltert. Hat dir keiner gesagt, dass man andere nicht einmal ein bisschen verletzen darf?“

Alassa nahm ihr Glas und trank gierig. „Meine Eltern haben mir gesagt, dass ich eines Tages Königin sein würde“, sagte sie gedankenverloren. „Ich habe versucht, mich wie eine Prinzessin zu benehmen.“

„Ich würde sagen, das ist dir gelungen“, sagte Emily. Sie konnte sich die höhnische Bemerkung nicht verkneifen. Natürlich verstand Alassa den Witz nicht. Sie wandte sich wieder dem ursprünglichen Gesprächsthema zu. „Was ist passiert?“

„Ich verstehe nicht“, sagte Alassa. „Wo habe ich etwas falsch gemacht?“

Emily spürte, wie ihre Augen sich verengten. „Was haben deine Eltern zu dir gesagt?“

Alassa sah auf und in Emilys Augen. „Wo kommst du her – in Wirklichkeit?“

„Von woanders“, sagte Emily, die nicht direkt lügen wollte. „Warum ist das wichtig?“

„Meine Eltern haben mir einen Brief geschickt“, sagte Alassa. Sie nahm noch einen Schluck von ihrem Getränk. „Ihr Waffenknecht hat ihnen berichtet, dass ein Kaufmann in der Stadt seinen Reitern etwas gezeigt hat, das er Steigbügel nennt. Derselbe Kaufmann hat auch ein neues Zahlensystem eingeführt, dessentwegen die Buchhaltergilde jetzt Maßnahmen verlangt. Und alle diese Neuerungen haben schon Namen. Duncan sagte mir, das Buchhaltungssystem sei ausgereift .“

Sie wandte die Augen nicht von Emilys Gesicht. „Selbst ich weiß, dass ein Zauber, der völlig neu erfunden ist, Zeit und Mühe braucht, bis er anwendbar ist. Dein Buchhaltungssystem scheint perfekt, zu perfekt, um wahr zu sein.“

Emily blinzelte. „Mein Buchhaltungssystem?“

„Der Kaufmann, der es eingeführt hat, ist Imaiqahs Vater“, sagte Alassa scharf. „Wie viele unterschiedliche Ideen kann ein einziger Mann haben?“

Benjamin Franklin hatte Tausende Ideen, dachte Emily. Aber Franklin – oder sein Sohn – würden in dieser Welt nicht als Influencer akzeptiert werden. Und auch er hatte auf den Schultern von Riesen gestanden.

„Du hast deine Freundin auf diese Ideen gebracht und sie hat sie ihrem Vater weitergesagt“, sagte Alassa. Ihre Stimme war völlig frei von Zweifeln. „Und jetzt stellen sie schon die Welt auf den Kopf.“

Sie klopfte auf den Tisch. „Und meine Eltern haben mir gesagt … sie haben mir befohlen , mich mit dem Schicksalskind anzufreunden. Sie sagten, ich solle dich dazu bringen, uns zu helfen, ohne weitere Unruhe im Königreich zu stiften … Sie sagten, ich solle dir helfen, von dir lernen … Ich habe ihnen gesagt, dass du mir Sachen beibringst, und sie waren stolz ! Mein Vater sagte, ich könne dich sogar in den Ferien zu uns einladen!“

Emily sah sie vollkommen ungläubig an, dann fand sie ihre Stimme wieder. „Du machst dich über mich lustig. Ich? Ein Königspaar besuchen?“

„Du bist ein Schicksalskind“, sagte Alassa. „Gesalbt von einem Drachen. Was bin ich, verglichen mit dir?“

„Ich – ich weiß nicht“, gab Emily zu. Sie war kein Schicksalskind. Und doch hatte sie schon die Welt auf den Kopf gestellt. Glaubten Alassas Eltern, dass sie Emily benutzen konnten, um ihr Reich zu sichern, wenn sie sich mit ihr gut stellten, oder glaubten sie, sie könnten mit ihrer Hilfe die Kontrolle behalten, während die Zeiten sich immer mehr wandelten? Hätten sie einige der anderen Ideen, die Emily Imaiqahs Vater vorgeschlagen hatte, gekannt – oder nur geahnt –, sie wären in Ohnmacht gefallen. „Ich habe nicht um das hier gebeten.“

„Ich habe in einem Buch nachgesehen“, sagte Alassa. „Kein Schicksalskind wollte jemals ein Schicksalskind sein. Das hält sie nicht davon ab, die Welt zu verändern.“

Emily hatte den Verdacht, dass sie dasselbe Buch gelesen hatten. Schicksalskinder war dünn, es konnte gerade so als richtiges Forschungswerk durchgehen. Es war kaum mehr als eine Liste der Schicksalskinder und ihrer Taten, von denen einige ziemlich außergewöhnlich waren. Das Einzige, was fast alle gemeinsam hatten, war, dass man sie zu Schicksalskindern erklärt hatte, nachdem sie die Welt verändert hatten. Im Nachhinein waren sie anscheinend leicht zu erkennen.

Emily war neugierig geworden und hatte versucht, herauszufinden, ob man mit Magie in die Zukunft sehen konnte. Die Bücher hatten sich darüber nur sehr vage geäußert, was darauf hindeutete, dass es nicht wirklich möglich war, jedenfalls nicht in brauchbarer Art und Weise. Das passte zu dem, was Emily über die Viele-Welten-Theorie wusste, und zum gesunden Menschenverstand. Hätte man ihr gesagt, dass eine bestimmte Handlung sie töten könnte, hätte sie anders gehandelt, was die Vorhersage unwirksam machen würde.

Aber Shadye hatte ganz klar geglaubt, er könne ein Schicksalskind erkennen – und er hatte sich komplett geirrt.

Doch Emily veränderte tatsächlich die Welt.

Und falls du glaubst, du seist unfehlbar, wisperte eine leise Stimme in ihrem Kopf, dann wirst du ganz sicher hart fallen.

„Das wollte ich auch nicht“, gab Emily zu. „Und was immer ich dir angetan habe, es tut mir leid.“

„Es tut dir leid?“, fragte Alassa. Sie fegte das Glas vom Tisch und sah zu, wie es zu Boden fiel. „Es tut dir leid ?“

Ihre Stimme wurde brüchig, als gäbe sie sich alle Mühe, nicht zu weinen. „Alle in der Schule lachen mich aus. Ich kann nicht einmal einen einfachen Zauber richtig sprechen. Ein Mädchen, das kaum eine Woche Erfahrung mit Magie hat, hat mich fast umgebracht. Der Aufseher hat mich ausgepeitscht und weinend im Flur stehen lassen. Meine Freunde lachen hinter meinem Rücken über mich. Niemand nimmt mich mehr ernst.“

Emily sah echte Tränen in Alassas Augen, während die Prinzessin weiterschimpfte. „Und jetzt sagen meine Eltern, ich soll mich an dich ranschmeißen, das Mädchen, das alles kaputtgemacht hat, was ich je hatte, und dich überzeugen, dass du meine Freundin sein willst. Lieber wäre ich tot! Weißt du, wie das ist, wenn jeder hinter deinem Rücken über dich lacht?“

„Ja“, sagte Emily unumwunden. Sie wusste, wie es war, allein zu sein, keine Freunde zu haben … und Alassa hatte keine richtigen Freunde gehabt. Vielleicht würde es niemand wagen, sie anzurühren oder auf ihr herumzuhacken, aber allein zu sein, war schon genug Folter für eine Jugendliche. Oder vielleicht würden andere es jetzt wagen, sich an ihrer früheren Peinigerin zu rächen, nachdem Emily sie fast umgebracht hatte und ohne ernsthafte Strafe davongekommen war. „Ich war früher sehr allein.“

Sie zögerte und suchte nach den richtigen Worten. „Du bist immer noch die Kronprinzessin, richtig?“

Alassa sah aus tränennassen Augen zu ihr auf. „Ja, aber warum ist das wichtig?“

„Also hast du gar nicht alles verloren“, sagte Emily ruhig und sachlich. „Du wirst den Grundkurs Zaubersprüche bestehen und anfangen, komplexere Zauber zu meistern. Nach und nach wirst du reifer werden und zu der Königin werden, der deine Untertanen Respekt und Gehorsam erweisen. Das Einzige, was du in Wahrheit verloren hast, ist die Selbsttäuschung, dass die, mit denen du dich umgibst, wirklich deine Freundinnen sind.“

Sie zögerte, dann setzte sie alles auf eine Karte. „Vielleicht ist es meine Aufgabe als Schicksalskind, dich zu steuern, so dass du die beste Königin aller Zeiten wirst. Diese Lektion brauchst du, um erwachsen zu werden.“

Alassa räusperte sich. Emily merkte, dass die Prinzessin versuchte, nicht laut loszuweinen. „Und du bist so weise, weil du ein Schicksalskind bist?“

„Nein“, gab Emily zu. „Ich habe nur etwas Ähnliches durchgemacht.“

Der Gedanke ließ Emily die Stirn runzeln. Zu Hause hatte es ganz klar so ausgesehen, als ob reiche Kinder es im Leben leichter hätten. Man sagte, Glück lasse sich nicht kaufen, aber man konnte durchaus etwas kaufen, das Glück sehr nahe kam. Und doch … wie viele Freunde waren schon wirklich mit Geld, Geschenken oder der Andeutung künftiger Belohnungen gekauft worden? Alassas Familie konnte alle, die sich um ihre Tochter kümmerten, mit Geschenken belohnen, die sie sich in ihren wildesten Träumen nicht ausgemalt hätten.

Aber Alassa würde nie wahre Freundschaft geschenkt bekommen.

Emily blickte die Prinzessin an, dann zog sie ein Taschentuch aus ihrem Gewand. „Hier“, sagte sie. „Wisch dir die Tränen ab. Danach können wir richtig reden.“

Sie blickte zu dem Gebäude hinüber und sah … nichts. „Was ist dieser Ort?“

„Eine Bar“, sagte Alassa und tupfte sich die Augen ab. „Ein Ort, wo Schüler einen trinken gehen, wenn sie mit ihren Einkäufen fertig sind.“

Emily runzelte die Stirn und betrachtete die Überreste der leuchtend roten Flüssigkeit auf dem Boden. „Was – genau – hast du da getrunken?“

„Rote Rose“, sagte Alassa. Der Name sagte Emily nichts. „Ich wollte einfach die Welt vergessen. Dass alles verschwindet.“

Etwas mit Alkohol, riet Emily. Natürlich; in dieser Welt hatte man wahrscheinlich keine Bedenken, Minderjährigen Alkohol zu verkaufen. Es schien nicht einmal eine Definition für minderjährig zu geben, geschweige denn Gesetze gegen Kinderarbeit. Imaiqah hatte ihr erzählt, dass einige Kinder aus dem Viertel für eine oder zwei Kupfermünzen in der Woche für Kaufleute gearbeitet hatten. Emily vermutete, dass die Kinder drastisch unterbezahlt waren.

Sie sah wieder zu dem Gebäude und winkte einer Gestalt zu, die sich bewegte. „Bring uns heißen Kava“, sagte sie, als das junge Mädchen in der Tür erschien. „Und auch etwas Brot.“

Alassa starrte sie an. „Was machst du?“

„Wir werden uns unterhalten“, sagte Emily. „Du weißt schon – uns unterhalten wie Freundinnen.“

Sie wartete, bis die Kellnerin mit den zwei dampfenden Bechern Kava und einem Teller mit heißem Brot wiedergekommen war. Sie gab dem Mädchen eine Silbermünze. An ihrem erstaunten Blick – und Alassas Kichern – erkannte sie, dass sie viel zu viel bezahlt hatte, aber das Mädchen nahm die Münze und verschwand, bevor Emily sie zurücknehmen konnte. Emily machte das nicht viel aus; sie hoffte nur, dass die Mutter des Mädchens oder der Vater oder für wen sie sonst arbeitete, das Geld nicht an sich nehmen würde.

„Also“, sagte Alassa nach einer langen Pause. „Woher kommst du?“

Emily dachte blitzschnell nach. Wenn sie Alassa die Wahrheit sagte … was würde passieren? Ihre eigene Welt geriet wohl nicht in Gefahr, wenn sie das Geheimnis verriet, aber für Emily selbst würde es gefährlich sein. Am einfachsten hielt man ein Schicksalskind davon ab, sein Schicksal zu erfüllen, indem man es vorher tötete.

Was würde Alassa ihren Eltern sagen und was würden sie tun, um das Ruder in der Hand zu behalten?

„Lange Geschichte“, sagte sie nach einer langen Pause. „Kannst du ein Geheimnis vor allen anderen bewahren?“

Alassa zögerte, dann entschloss sie sich sichtlich, ehrlich zu sein. „Ich kann keine Geheimnisse vor meinen Eltern wahren“, gab sie zu. „Das gehört zur königlichen Blutlinie.“

Etwas in Emily fragte sich, wie buchstäblich sie diese Behauptung nehmen sollte. Könige und Königinnen hatten über Jahrhunderte hinweg ihr Verhalten damit gerechtfertigt, dass sie behaupteten, mit göttlicher Legitimation zu herrschen, aber das schien ihr wenig mehr als dieselbe Rechtfertigung, mit der man Schicksalskinder im Nachhinein für auserwählt erklärte. Wenn Gott den Monarchen das Recht gegeben hatte zu herrschen, warum hatte er sie nicht zu guten Herrschern gemacht?

„Was meinst du?“, fragte Emily. „Die königliche Blutlinie?“

Alassa wurde feuerrot. „Die Adeligen von Zangaria schwören der Blutlinie meines Vaters die Treue. Diese Schwüre sind mit alter Magie durchtränkt, die von einem Monarchen zum nächsten weitergegeben wird. Mein Vater hat viele merkwürdige Fähigkeiten in seiner Blutlinie; ich kann ihn nicht anlügen. Meine Mutter kann es auch nicht, genauso wenig wie alle, die ihm dauerhaft Gefolgschaft geschworen haben.“

Emily dachte darüber nach. „Du meinst, er weiß immer, wenn du lügst?“

„Ich meine, ich kann nicht lügen“, sagte Alassa. „Wenn er eine Frage stellt, muss ich wahrheitsgemäß und umfassend antworten. Es ist in der königlichen Blutlinie festgeschrieben.“

„Das ergibt keinen Sinn“, protestierte Emily. „Deine Mutter ist keine Blutsverwandte, oder?“

„Sie hat bei der Eheschließung einen Eid abgelegt“, sagte Alassa. „Und wenn ich Kinder habe, werden sie mich auch nicht anlügen können.“

Emily zuckte zusammen. Sie wäre nicht gern in einem Haushalt aufgewachsen, in dem sie jede Frage wahrheitsgemäß beantworten musste, auch wenn sie die Logik des Zaubers begriff. Als Königin Elisabeth I. eine Prinzessin gewesen war, hatte man sie in einer kompromittierenden Situation erwischt, die leicht zu ihrer Hinrichtung hätte führen können, allein schon, weil eine königliche Prinzessin über jeden Verdacht erhaben sein musste. Wenn sie verzaubert gewesen wäre, so dass sie nur die Wahrheit sagen konnte, hätte man sie schnell genug für unschuldig erklären können … oder sie verurteilen können, wenn sie schuldig gewesen wäre. Es ergab Sinn, ja, aber ihr wurde von der Idee schlecht. Man konnte es mit der Wahrheit auch übertreiben.

„Ich werde es dir sagen, wenn du Königin wirst“, sagte Emily schließlich.

Alassa sah sie einen langen Augenblick an, dann nickte sie widerwillig.

Emily lächelte erleichtert, dann stellte sie eine Frage, die sie schon länger beschäftigt hatte. „Wie wurdest du in deiner Kindheit behandelt?“

Alassa begann zu erzählen, während sie an ihrem Kava nippte. Wie Emily erwartet hatte, war Alassa seit ihrer Geburt sehr gut behandelt worden. Eine Gouvernante hatte sie überallhin begleitet. Es war ein traumhaftes Leben gewesen, aber es hatte sie nicht darauf vorbereitet, zu herrschen. Emily fragte sich, ob ihre Eltern immer noch versucht hatten, einen Sohn zu bekommen, oder ob sie gedacht hatten, Alassa würde sich das Herrschen von ihrem Vater abschauen. Wenig überraschend war ihr all das Geschmeichel und Lob zu Kopf gestiegen; es war ein Schock für sie gewesen, als sie gemerkt hatte, dass Whitehall sie nicht mit der gewohnten Ehrerbietung behandeln wollte.

Emily biss von dem Brot ab und lächelte erfreut. Zu Hause hatte sie Brot nie sonderlich gemocht, doch selbst das einfachste Brot in dieser Welt war ein wundervolles Geschmackserlebnis. Es glich fast den Mangel an moderner Ausstattung – wie Computer, Fernseher und Klimaanlagen – aus, unter dem Whitehall litt. Alassa aß weniger erfreut, aber zumindest aß sie. Irgendwo in dem Miststück, beschloss Emily, steckte ein Mensch, der einen Wert hatte.

„Sie stellten einen Lehrer an, der mir Magie beibringen sollte“, erklärte Alassa, während sie das letzte Stück Brot aßen. „Mir ist nicht aufgefallen, dass er mich daran gehindert hat, selbst zu lernen.“

„Vielleicht solltest du deinen Vater fragen, warum dieser Lehrer ausgewählt wurde“, sagte Emily. Die Intrigen, die in Königshöfen ihrer Welt floriert hatten, mussten in einer Welt voller Magie noch schlimmer sein. „Vielleicht wollte dich jemand ausschalten, sobald du den Thron besteigen würdest.“

Alassa wurde bleich. „Darüber habe ich nie nachgedacht“, sagte sie. „Meinst du, das wäre möglich?“

„Könnte sein“, sagte Emily. Es war auch möglich, dass der Lehrer versucht hatte, Alassa grundlegende Zaubersprüche beizubringen, und gescheitert war, so dass er ihr einfach half, eine Reihe Zaubersprüche auswendig zu lernen. Aber sie behielt diese Meinung für sich. „Was würde passieren, wenn du Zaubersprüche nicht selbst verstehen würdest?“

„Ich würde einen Hofzauberer anstellen müssen“, sagte Alassa. Ihre Stimme wurde flach, als erinnerte sie sich an etwas, das ihre Eltern ihr in einem ihrer seltenen elterlichen Augenblicke gesagt hatten. „Sie haben meist eine negative Haltung zu den Dingen.“

Emily dachte an das Königsmacher-Spiel und schauderte. „Das kann ich mir vorstellen“, sagte sie und stand auf. Zweifellos hielten sich die Hofzauberer für die Macht hinter dem Thron. „Ich muss Imaiqah wiederfinden. Warum kommst du nicht mit uns shoppen?“

Sie lachte fast los, als Alassa sie mit offenem Mund anstarrte. „Versuch doch einmal, richtige Freundinnen zu finden“, sagte Emily. Sie musste sich zwingen, nicht zu behaupten, dass es ein Teil ihres Schicksals war. Das wäre grausam gewesen. „Imaiqah ist ein anständiger Mensch und könnte eine richtige Freundin werden, wenn du dich ihr auf die richtige Weise näherst. Und du schuldest ihr eine Entschuldigung.“

„Ich ...“ Alassa hielt inne. Sie sah verwirrt aus. Sie wurde tatsächlich erwachsen. Vielleicht konnte sie begreifen, dass man Leute respektieren musste, auch wenn sie nicht in eine vornehme Familie hineingeboren waren. „Vielleicht hast du recht.“

Emily nickte, dann ließ sie Alassa den Vortritt. Sie gingen aus dem Innenhof in eine Allee.

Eine Gestalt stand an ihrem Ende, das Gesicht hinter einer Maske verborgen. Emily spürte ein warnendes Kribbeln; sie begann einen Zauber zu sprechen, doch der verpuffte einfach an dem Zauberstab, den die Gestalt in der einen Hand hielt.

Sekunden später traf etwas beide Mädchen und ließ sie zu Boden stürzen. Emily spürte Schmerz aufflammen, dann war da nur noch … Dunkelheit.