Kapitel 49

Emily stand allein in einer riesigen Menschenmenge.

Zu den verbleibenden Schülern kam ein kleines Heer aus Eltern, Adeligen und Leuten, die einfach hier gesehen werden wollten. Auf Anweisung von Sergeant Miles trug Emily ihre Trainingsuniform, aber die Menschenmenge hatte keine Schwierigkeiten, sie ausfindig zu machen und mit dem Finger auf sie zu zeigen, genau wie Zoobesucher das bei einem besonders interessanten Tier taten. Sehr wenige hatten es gewagt, mit ihr zu sprechen, und diejenigen, die es versucht hatten, hatten sie dazu gebracht, sich noch einsamer zu fühlen als je zuvor. Für sie war sie kein Mensch, sondern nur eine Naturgewalt, die man für seine eigenen Zwecke verbiegen konnte.

Ihr wurde übel davon.

Sergeant Miles hatte ihr nichts über Sergeants Harkins Tod gesagt, aber sie hatte das Geflüster unter den verbliebenen Kampfmagie-Schülern gehört, also gab es das wohl auch im Rest der Schule. Sie dachten, dass sie ihn in einem nekromantischen Ritus getötet hatte; sie ignorierten absichtlich die Tatsache, dass er ihr befohlen hatte, ihn zu töten – und dass Shadye ihr keine Wahl gelassen hatte. Die anderen Schüler, abgesehen von Jade und den übrigen Rothemden, schienen sie entweder zu verachten oder zu fürchten. Sie fragten sich, ob die Schule eine Nekromantin am Unterricht teilnehmen ließe, bei dem die Schüler eine hervorragende Machtquelle für sie bildeten.

Dieses Gerede war nicht das einzige. Als Emily sich so weit erholt hatte, dass sie mit den anderen Schülern zusammen im Speisesaal essen konnte, hatte der Großmeister der Schule mitgeteilt, dass Emily Shadye besiegt und getötet hatte. Das stimmte so weit, und niemand bestritt, dass Emily die Belohnungen verdiente, die der Großmeister ihr gegeben hatte, aber jetzt fragten sie sich, ob sie bevorzugt wurde. Würde Emily bestraft werden, wenn sie etwas Schlimmes anstellte? Würden die Lehrer es wagen , sie zu bestrafen, wenn sie etwas wirklich Schlimmes anstellte? Emily fand diese Fragen absurd, aber die nächsten beiden Flugblätter, die sie gelesen hatte, behaupteten, sie verfüge über genug Macht – von Natur aus – um alle übrigen Nekromanten mit einem Blinzeln auszulöschen. Wer würde sich trauen, eine herumwandelnde sprechende Atombombe zu maßregeln?

Vielleicht sollte ich mich vorsätzlich bestrafen lassen, dachte sie, während Sergeant Miles bellend Befehle erteilte. Die anderen überzeugen, dass ich immer noch eine normale Schülerin bin. Aber das funktioniert nur in Kitschromanen über Internate, deren Autoren nie eins besucht haben.

Sie umfasste den Handgriff und half mit, Sergeant Harkins Sarg hochzuheben. Sie trugen ihn auf den Friedhof hinaus. Die toten Schüler würden in ihren Heimatländern beerdigt werden, aber die Lehrer wurden alle in Whitehall beerdigt. Sie sah die engelhaften Statuen und schauderte, als sie sich auf das Loch im Boden zubewegten, in das Sergeant Harkin zur Ruhe gebettet werden würde. Das Getuschel schien noch lauter zu werden, als die Zuschauermenge erkannte, dass Emily eine der Sargträgerinnen war. Diejenigen, die wussten, dass sie Sergeant Harkin getötet hatte, waren schockiert, obwohl Sergeant Miles angeordnet hatte, dass sie den Sarg mittragen sollte.

Der Großmeister stand vor der Menge, umgeben von mehreren Dutzend Männern und einer Handvoll Frauen in den schwarzen Uniformen der Kampfmagier. Harkin hatte sie wohl ausgebildet, ging es Emily auf; die Blicke der Magier ließen sie zusammenzucken. Sie hatte ihn getötet und manche von ihnen – vielleicht alle – würden ihr das nie verzeihen. Entweder wussten sie nicht, was wirklich passiert war, wie die anderen Schüler, oder es war ihnen egal.

„Senkt den Sarg ab“, befahl Sergeant Miles leise. Während die Sargträger gehorchten, tippte er sich an die Kehle, um seine Stimme zu verstärken, so dass man ihn auf dem ganzen Friedhof hörte. „Sergeant Harkin kam als sehr junger Mann zum Heer und diente in einem Dutzend Schlachten; er wurde ausgezeichnet und befördert und schließlich eingeladen, als Ausbilder in Whitehall zu dienen. Er hat das Leben Hunderter Schüler geprägt und sie auf ihre Pflichten als Kampfmagier in Kriegszeiten vorbereitet. Wer seinen Kurs bestand, wusste nicht nur mehr über Magie; er wusste, wie man kämpfte .

Sergeant Harkin verfügte nicht über Magie, aber davon ließ er sich nie aufhalten.

Es ist nie leicht, Ausbilder zu sein. Viele gute Soldaten haben es nicht geschafft, Rekruten auszubilden, selbst wenn sie im Kampf oder hinter der Front hervorragend gedient hatten. Der Ausbilder muss seine Schützlinge verstehen , im Wissen, dass sie ihn als sadistisches Monster betrachten werden. Er muss sie an ihre Grenzen bringen und sie zu Soldaten machen, ohne sie zu brechen. Er muss sich als Sadist geben, ohne wirklich ein Sadist zu sein. Man kann nicht immer ohne Weiteres unterscheiden, ob jemand diese Grenze überschreitet.

Sergeant Harkin überschritt diese Grenze nie.

Er machte auch nie den Fehler, es einigen Rekruten zu leicht zu machen, sei es wegen ihres Blutes, ihres Geschlechtes oder ihres Alters. Seine Absolventen haben aufsehenerregende Laufbahnen eingeschlagen und die Verbündeten Lande gegen vielerlei Böses verteidigt. Sein Vermächtnis liegt in denen, die er ausbildete, um die Unschuldigen zu schützen.

Genau wie alle, die Waffen tragen, wusste er, dass er eines Tages im Dienst für die Verbündeten Lande sterben konnte. Als der Tod kam, akzeptierte Sergeant Harkin ihn nicht nur mutig, sondern fand einen Weg, seinen eigenen Tod in einen taktischen Vorteil zu verwandeln, einen taktischen Vorteil, der schließlich zum Tod eines gefürchteten Nekromanten führte. Er wählte, wie er sterben würde, im Wissen, dass eine seiner besten Schülerinnen dies nutzen konnte, um den Sieg zu erlangen. Sehr wenige von uns schaffen es, so mutig – und so gut – zu sterben wie Sergeant Harkin.

Er war mein Freund und Kamerad und ich werde ihn schrecklich vermissen.“

Emily spürte, wie ihr die Tränen kamen, und sie versuchte, sie zu unterdrücken. Miles hatte recht. Sergeant Harkin hatte gewusst, was er tat, aber davon fühlte sie sich nicht weniger schuldig. Selbst das Lob, das sie gerade von Miles bekommen hatte, half nichts und würde niemanden umstimmen. Die anderen Schüler würden wahrscheinlich glauben, dass sie Harkin getötet hatte, um seine Lebensenergie zu rauben und daraus Macht zu gewinnen.

Sergeant Miles trat vor und warf eine Handvoll Erde in das Grab. Nacheinander folgten ihm die Sargträger und bedeckten den Sarg mit Erde. Später, hatte sie gehört, würden mächtige Zauber auf den Grabstein gesprochen werden, damit kein mächtiger Hexer oder Nekromant den Leichnam wiederbeleben konnte. Und dann würde die Leiche – Sergeant Harkins Leiche – langsam zu Erde verrotten und neues Leben nach Whitehall bringen.

Der Rest der Zeremonie verging wie in einem Nebel, bis sie gehen durfte, um allein ihren Gedanken nachzuhängen. Emily wanderte vom Rest der Menschenmenge weg in Richtung des Zoos – was davon übrig war. CT bewegte sich zwischen den zerstörten Beeten hin und her und ließ neue Tentakel wachsen, um das Chaos zu beseitigen, aber das würde vermutlich Jahre dauern. Hinter ihm war der Zoo vollkommen in Stücke gerissen worden. Überall lagen tote Tiere verstreut.

Ein Tentakel berührte ihre Schulter und sie zuckte zusammen. „Man hat keine Spur von dem Imitator gefunden“, sagte CT. Sein einziges Riesenauge blickte auf sie herab. „Er könnte inzwischen überall sein, aber sie wollen das Gebiet trotzdem zur Sicherheit gründlich durchsuchen. Vielleicht finden sie einen Hinweis auf seine neue Gestalt.“

Emily schauderte. Ein Schüler oder ein Ork konnte in die Reichweite des Imitators geraten sein, so dass der Imitator ihn aussaugen und dessen Gestalt und Erinnerungen annehmen konnte. Ohne zu wissen, was er wirklich war, wäre er davon gewandert und entkommen, und erst wenn ihm die Lebensenergie ausging und er seine wahre Gestalt wieder annehmen musste, würde er wieder zu sich kommen. Er konnte überall und nirgends sein.

Sie blickte zu CT empor und fragte sich, ob sie dem Imitator ins Auge blickte, doch dann fiel ihr ein, dass das einfallende Heer ihn hatte erstarren lassen. Der Imitator hatte sicher eine beweglichere Gestalt kopieren müssen, um zu entkommen.

„Sie haben auch ein Dutzend Einhörner und Zentauren abgeschlachtet“, fügte CT einen Augenblick später hinzu. „Deren Blut und Knochen kann man für die dunkelsten Künste verwenden. Ich fürchte, dass wir bald das Ergebnis ihrer Ernte sehen werden.“

„Ja“, murmelte Emily.

Die Einhörner waren süß gewesen und nahezu heilig. Sie verdienten es nicht, wie wilde Tiere abgeschlachtet zu werden. Die Zentauren waren nicht so angenehm – sie nahmen Frauen mit Gewalt, um weitere Zentauren zu zeugen, deshalb hatte man die Mädchen davor gewarnt, ihnen nahezukommen –, aber sie waren ihrer Natur treu. Auch sie hatten es nicht verdient, dass Orks sie zerfetzten und dunkle Zauberer ihre Körper abernteten.

Aber vielleicht hatte Shadye die geernteten Objekte nicht von Whitehall weggeschickt, bevor er starb. Sie konnte es nicht sicher herausfinden.

Sie bedankte sich bei CT und verließ den Zoo; sie war nicht sicher, wohin sie genau ging. Im Kampf um die Kontrolle über Whitehalls innere Dimensionen war das Gelände verbogen worden. Einer der Ken -Sportplätze war zerstört, der andere war weitgehend intakt, aber doch so weit beschädigt, dass man nur schwer ein ganzes Spiel darauf austragen konnte. Einige Schüler der dritten Jahrgangsstufe versuchten es trotzdem; sie warfen und schlugen Bälle mit Hilfe von Zaubersprüchen und Geräten, die aussahen wie Baseball-Schläger. Sie bemerkten Emily und starrten sie an, dann bemühten sie sich nach Kräften, sie zu ignorieren. Es wäre komisch gewesen, fand Emily, wenn es nicht ihr passiert wäre.

„Sie haben immer Angst vor unkontrollierten Talenten“, sagte eine vertraute männliche Stimme hinter ihr. „Du kannst ihnen keinen Vorwurf machen.“

Emily machte einen Satz und wirbelte herum, eine Hand zur Verteidigung erhoben. Void stand da und lächelte dünn, während die Blase der Zeitbeschleunigung beide umfing. Emily entspannte sich – ein kleines bisschen – und blickte zu den Schülern zurück. Sie sahen wie erstarrt aus, wie angehalten. Sie wusste, dass das eine Täuschung war.

„Das kann nicht gut für uns sein“, sagte sie vorsichtig. „Altern wir nicht, während ihre Zeit stillsteht?“

„Ein dunkler Zauberer hat sich einmal in einer solchen Blase eingeschlossen und zu Tode gealtert“, sagte Void. „Aber er hat es geschafft, den Spruch zu vermasseln. Dieser hier wird nicht so lange halten, dass wir wesentlich altern.“

Emily zuckte mit den Schultern und wartete.

„Shadyes … Brüder waren ziemlich schockiert von seinem Tod“, sagte Void. „Du bist die Erste, die jemals einen Nekromanten im Zweikampf besiegt hat.“ Er warf ihr einen wissenden Blick zu. „Und glaube mir, das macht ihnen Angst.“

„Ich habe geschummelt“, gab Emily zu.

„Nur so kann man gewinnen“, sagte Void. „Aber da es Nekromanten sind, werden sie kaum glauben, dass du geschummelt hast, da sie sich nicht vorstellen könnten, wie du ohne Schummeln gewinnen solltest. Es ist dir gelungen, ihnen Angst zu machen … und das gibt den Verbündeten Landen die Chance, ihre Verteidigung neu aufzustellen.“

„Jemand wird den Tunnel bei der Dunklen Stadt finden müssen“, sagte Emily. Das rief neue Probleme hervor; jemand anderes könnte auf den Unseligen Hof stoßen und von den Feen weniger freundlich empfangen werden. Vielleicht konnte der Großmeister mit ihnen reden und anbieten, das ganze Gebiet für tabu zu erklären, wenn sie ihm verrieten, wo der Tunnel lag. „Und wer weiß schon, wie viele Überraschungen sie noch vorbereitet haben?“

„Wir wissen es nicht“, gab Void zu. Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Und alle nennen dich immer noch ein Schicksalskind.“

Emily stöhnte. „Bin ich ein Schicksalskind?“

„Die vollkommen wahre Antwort wäre ja “, betonte Void. Er lächelte über ihren Gesichtsausdruck. „Aber bist du ein Schicksalskind, so wie sie es verstehen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Kann irgendjemand diese Frage wirklich beantworten? Und ist sie wirklich wichtig?“

„Ich weiß es nicht“, gab Emily zu. „Ich … ich fühle mich einfach komisch, wenn die Leute ehrfurchtsvoll auf jedes Wort von mir warten oder aus Angst vor mir erstarren.“

„Genieße es“, riet Void ihr. „Diese Welt ist nicht immer freundlich zu den Machtlosen.“

„Nein“, stimmte Emily zu. „Das ist sie nicht.“

Sie standen eine lange Weile stumm beieinander. „Ich wollte dich etwas fragen“, sagte Emily. „Kannst du etwas von meiner Welt hierherbringen?“

„Vielleicht“, sagte Void nach kurzem Nachdenken. „Aber ich würde den Nekromanten lieber nicht verraten, dass sie Sachen aus anderen Welten holen können. Das würde sie nur auf dumme Gedanken bringen.“

„Ich brauche ein paar Lehrbücher“, erklärte Emily. „Es gibt so viele Dinge, die hier nützlich wären, wenn ich nur wüsste, wie man sie herstellt. Aber ich weiß nichts ! Ich hätte mehr lernen sollen, während ich dort zur Schule gegangen bin.“

„Eine sehr gute Idee“, stimmte Void trocken zu.

Er sah nachdenklich zu Boden. „Es bereitet … Probleme , wenn man Wesenheiten benutzt, um etwas von einer Welt in eine andere zu holen“, fügte er hinzu, nachdem er einen Augenblick stumm nachgedacht hatte. „Vielleicht ist es möglich. Vielleicht ist es nicht möglich. Ich werde sorgfältig darüber nachdenken und dich kontaktieren, wenn ich weiß, was zu tun ist.“

Emily nickte. Mehr als diese Antwort würde sie wahrscheinlich nicht von ihm bekommen.

„Dann noch etwas“, sagte sie. „Was bist du ?“

Void feixte. „Ein unkontrolliertes Talent“, sagte er. „Von Natur aus etwas mächtiger als der durchschnittliche Magier. Es gab … Unstimmigkeiten , wie mit einer Situation umgegangen werden sollte, und am Ende sagte man mir, ich sei in Whitehall nicht mehr willkommen. Ich ging, änderte meinen Namen und wurde unabhängiger Agent. Irgendwer musste die Nekromanten laufend anstacheln, damit sie sich weiter gegenseitig bekämpften.“

Er zuckte mit den Schultern. „Der Rest der Geschichte ist nicht sehr interessant. Aber du wirst sicher deinen Spaß daran haben, die öffentlichen Aufzeichnungen durchzusehen und zu versuchen, die Puzzleteile zusammenzusetzen.“

Die Blase um sie herum begann zu flimmern und er tippte sie mit einem Finger an. „Du hast fast eine königliche Prinzessin getötet und dann ihr Leben gerettet – und sie davon überzeugt, dass sie ein besserer Mensch werden sollte. Du hast alle möglichen neuen Ideen in diese Welt gebracht, die sie in Aufruhr bringen werden, und mindestens eine Gilde ruiniert, die den Fortschritt unterdrückt hat. Ein Nekromant hat dich manipuliert, um Zugang zu Whitehall zu erlangen, dem am besten abgeschirmten Gebäude in den Verbündeten Landen, und dann hast du ihn ganz allein besiegt.“

Er lächelte. „Sag mir … was lieferst du uns als Zugabe?“

Emily schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht“, gab sie zu. Sie hatte Ideen, über die sie nicht sprechen wollte, noch nicht einmal mit Void. „Vielleicht habe ich in Wirklichkeit gar kein Schicksal.“

Voids Lächeln wurde breiter. „Weißt du, was ich glaube?“, fragte er, als die Blase sich auflöste. „Ich glaube, du hast gerade erst angefangen.“

 

ENDE