Kapitel

Lucy

BLAUE HERZNARBEN

der Grund dafür, gemeinsame Seenächte lieber zu vermeiden

Wir quetschten uns an wild tanzenden Gästen in Richtung Küche vorbei. Dort saß Samu am Tischende, breitschultrig und lachend. Die engen Ärmel seines weißen Shirts ließen seinen Bizeps noch muskulöser wirken.

»Endlich!« Er winkte uns zu sich heran, bevor er die Box mit den klirrenden Fläschchen öffnete. »Mango für Tillie, Apfel für Lucy.«

Samu schob die Fläschchen über den Tisch. Mit einer seltsamen Präzision landeten sie vor unseren Händen, doch so war er immer. Präzise, lässig auf diese kompetente Weise und den meisten taktisch überlegen. Wir hatten uns auf der Ersti-Kneipentour vor zwei Jahren kennengelernt. Tillie studierte Dramaturgie und Drehbuch, Samu Kreatives Schreiben, ich Journalismus. Alle Schreiber, alle ein bisschen verloren.

»Na dann.« Mit seinem umgekehrten Fläschchen klopfte er gegen den Tisch. »Wir machen das natürlich regelkonform. Deckel auf die Nase, Kopf in den Nacken, auf geht’s.«

»Regelkonform?« Tillie lachte. »Schon ein bisschen strebermäßig.«

»Sagt diejenige mit den zehntausend Stipendien«, konterte er.

»Übertreib nicht, es sind nur drei.«

»Hör mal auf, so bescheiden zu sein. Du bist einfach krass.«

»Samu hat recht«, pflichtete ich ihm bei. »Du bist krass.«

»Anyway.« Hastig hob Tillie ihren Schnaps an. »Trinken wir jetzt, oder was?«

Wir tranken.

Wir tranken zwei Schnäpse hintereinander, sauer und viel zu süß. Auf meiner Zunge schmeckten sie nach Siebzehnsein, Betrunkenwerden und zitternd am Zülpicher Platz mit meinen Freundinnen als sexy Biene Maja verkleidet stehen. Dabei betrank ich mich heute nicht. Fast nüchtern hockte ich in der WG-Küche, während Bassdrops mich berieselten. Samu erzählte von seinem Stundenplan, ich dachte an sry lucy . Tillie nörgelte über BAföG, ich dachte an sry lucy .

»Hier seid ihr also.« Atemlos erreichte Manda unseren Tisch, das Handy leuchtend in der Hand. Sie trug eine Jeans mit hohem Bund, die an beiden Knien durchlöchert war. Der verwaschene Pulli steckte lässig in der Hose und ihr dunkles Haar in einem riesigen Knoten. Geruch von Frittieröl übertünchte ihr eigentliches Parfum Pure Grace , dessen Namen sie hasste.

So ein übertriebenes Pathos, ey.

Eigentlich roch Manda nach Seife und Wasser. Kopfnote Bergamotte, Herznote Seerose. Sie studierte Grafikdesign, war Anti-Schnickschnack, reduzierte Schnitte und moderne Schlichtheit. Ihr Lieblingslied hieß einfach von JEREMIAS. Wenn sie betrunken war, stellte sie es auf Dauerschleife und sang schief mit.

»Alles okay?«, flüsterte sie mir zu.

»Was?« Hastig setzte ich mich auf.

»Ob alles okay ist, Lucy-Lu.« Manda beäugte mich kritisch. »Das habe ich gefragt.«

»Klar«, erwiderte ich sofort. »Wieso sollte es nicht?«

»So ein Gefühl. Ich hab zwar keinen Scannerblick, dafür aber eine Killerintuition, schon vergessen?«

Sie lächelte schief und ich wollte reden, von Romeo und der Enttäuschung erzählen, doch meine Kehle schnürte sich zu.

sry lucy

Ich brachte kein Wort hervor.

»Sollen wir vielleicht ins Bad?«, fragte Manda, weil sie nicht nur ihre Intuition hatte, sondern gleichzeitig meine beste Freundin war.

Ich hätte wieder den Kopf schütteln, Dinge relativieren und meine Gefühle kleinreden können, aber …

»Das wäre vielleicht ganz gut«, murmelte ich.

Und das war das Ding: Bei den richtigen Leuten reichten einfache Sätze mit zittriger Stimme. Den richtigen Leuten musstest du nicht mehrmals schreiben, damit sie dir antworteten, und dich erklären, bis du dich selbst nicht mehr verstandst.

So schlichen wir uns unter What You Know aus der Küche. Dabei umrundeten wir eine blutrote Weinpfütze, die zwei Kommilitonen aus dem Fachbereich Fotografie gerade aufwischten. Vor dem Bad hatten wir Glück. Wir warteten bloß einige Sekunden, bevor es frei wurde und wir eintreten konnten.

Im Innern blinzelte ich. Die weißen Fliesen waren von schwarzen Schuhsohlenabdrücken geziert, an den Wänden waren sie mit willkürlichen Postkarten beklebt. Es roch nach Zitronenreiniger und Kotze. Manda wollte die Tür gerade schließen, als ein limettengrüner Ärmel sich durch den Spalt quetschte. Unvermittelt stellte sich Tillie im Raum auf.

»Was schaut ihr so verwirrt?« Sie drehte den Schlüssel um. »Habt ihr gedacht, ich lasse euch ein Krisengespräch ohne mich führen?«

»Krisengespräch?« Manda sah mich mit einer tiefen Furche zwischen den Brauen an. »Es ist also so schlimm?«

»Nein, es ist nicht schlimm.« Tillie hockte sich auf den Badewannenrand. »Eigentlich ist es fantastisch. Lucy-Lu kann nämlich froh sein, dass sie Rewe-Romeo los ist. Nur seine Nachricht war halt beschissen.«

»Welche Nachricht?«

Zögerlich folgte ich Tillie, wobei ich mein Handy zückte und es Manda überließ. Danach geschah alles in Rekordgeschwindigkeit. Manda kräuselte die Stirn, rümpfte die Nase und schüttelte den Kopf. Sie zog schlicht jede Nicht-sein-Ernst-Regung aus ihrem Repertoire, bevor auch sie sich neben uns niederließ.

»Ohne Spaß«, begann sie. »Wer denkt er eigentlich, wer er ist?«

Und da war sie endlich: die Wut, die ich wollte. »Keine Ahnung«, entgegnete ich energisch. »Ich hasse ihn einfach. Gott, ich hasse ihn so sehr. Ich hasse ihn und sein beschissenes Grübchenlächeln und sein beschissenes King-Size-Bett und sein beschissenes Talent, billige Pestonudeln besser als das Supermarktessen schmecken zu lassen, das es ist.«

Einen kurzen Moment lang war es still. Nun ja, hinter der Tür vibrierte es, die Musik dröhnte, jemand lachte euphorisch, ein anderer kreischte. Aber hier drin flimmerte die Glühbirne, während Tillie und Manda schwiegen.

»Ich hasse ihn auch, glaub mir.« Tillie räusperte sich. »Ehrlicherweise habe ich ihn schon von deinem ersten Screenshot an gehasst. Er benutzt den Zwinkersmiley nicht ironisch, was schon alles erklärt.« Sie wandte sich an mich. »Viel wichtiger ist jedoch: Wie er dich behandelt, sagt nichts über dich aus, sondern alles über ihn. Du bist ein emphatischer und wundervoller Mensch. Er hingegen ist ein feiges und unreflektiertes Arschloch. Was erwartet er denn? Er wollte ständig mit dir kochen, ins Kino gehen und Händchen halten. Sogar vor uns. Er hat das ganze Paarzeug mit dir abgezogen und war dann überrascht, als du dich logischerweise gefragt hast, was genau das zwischen euch ist? So ein Wichser. Du kannst froh sein, dass du ihn los bist.«

Ihre Worte wogen schwer. Wie Branddecken legten sie sich über meine Schultern, während mein Brustkorb sich zuschnürte.

»Ich weiß«, flüsterte ich. »Theoretisch zumindest, aber …«

»Es tut trotzdem weh«, vollendete Manda.

»Ja.« Ich schloss die Augen. »Und ich bin wirklich enttäuscht. Und wütend. Und ein bisschen sauer auf mich selbst, weil ich mir so bescheuert vorkomme. Romeo hat mir nämlich das Gefühl gegeben, als würde ich ständig übertreiben, wofür ich mich nur noch mehr hasse. Weil alles, was ich fühle, valide sein sollte.«

»Weißt du, was ich denke?« Entschlossen schlitzte Manda die Lider. »Ich finde, du solltest wütend sein. Von mir aus, weil Gefühle dazu da sind, um gefühlt zu werden, blablabla. Aber vor allem, weil Vulkanausbrüche wichtig sind.«

Ich furchte die Stirn, spürte, dass auch Tillie nachhaken wollte, doch Manda fuhr schon fort.

»Ich hab da letztens einen Artikel gelesen. Es ist so: Menschen siedeln sich besonders gern in Vulkanregionen an, weil die Asche den Boden dort nährstoffreicher macht. Blumen werden bunter und Früchte schmecken besser. Auch gute Dinge können so aus Wut entstehen, versteht ihr?«

Mein Mund öffnete sich, doch Tillie kam mir zuvor, indem sie nach ihrem eigenen Handy griff, es entsperrte, darauf klickte und tippte. Als wäre ihr unvermittelt ein Licht aufgegangen.

»Es wird Zeit für eine neue Playlist«, verkündete sie und reichte mir das Smartphone. Eine Spotify-Playlist strahlte mir entgegen. Sie war leer, doch bereits benannt: Thank you for the tragedy, I need it for my art  [2]  Smiley

»Hast du Kurt Cobain gerade ernsthaft für eine unserer Playlists benutzt?«

»Jepp.« Sie lächelte ihr bestes Lächeln. »Aber vergiss das Vulkan-Emoji nicht.«

»Du bist so verrückt«, sagte Manda ebenfalls grinsend.

»Los!« Aufgeregt nickte Tillie auf ihr Display. »Du musst den ersten Song auswählen. Für die Grundstimmung.«

Ich schluckte. Seit dem ersten Semester waren Playlists unser Ding. Wir erstellten sie füreinander, wenn es einer von uns nicht gut ging, wenn Tillies Lieblingsrezept W  &  W – Wein und Weinen – nicht mehr half. Für Manda kreierten wir oft welche vor ihren Abgaben, mit vielen Piano-Covern und instrumentalem Zeug. Für Tillie gab es alles. Für mich meistens Reibeisenstimmen mit tieftraurigen Lyrics. Heulmusik , wie mein Bruder sie liebevoll nannte.

Während ich tippte, kribbelte es unter meinen Fingerspitzen. Hektisch klickte ich den Song an, fügte ihn zur Playlist hinzu und reichte Tillie das Handy zurück.

»Es geht mir gut?« , fragte sie überrascht. »Von AnnenMayKantereit?«

»Für mich klingt es wütend.«

Keine Ahnung, wieso ich so gespenstisch leise klang und mein Blick instinktiv zum Spiegel flackerte. Ich erkannte drei zwanzigjährige Frauen auf einer fremden Badewannenkante, die noch immer als Mädchen bezeichnet wurden. Manda, schwarzhaarig und wunderschön. Tillie, blond und anziehend. Dazwischen ich. Mein Haar war eine Mischung aus Blond und Brünett, der Pony zerzaust, das Rouge verblasst. Ich war kleiner als meine Freundinnen, eins siebenundfünfzig groß und nie mehr als niedlich , selbst wenn ich mein Nasenpiercing und meine Sinclair-Docs trug.

sry lucy

Ich konnte beobachten, wie Tillie und Manda abwechselnd auf dem Handydisplay tippten. Morgen Mittag befinden sich garantiert dreißig Songs in meiner Playlist , dachte ich. Ich würde sie aufdrehen, mit der Gießkanne durch die Wohnung schlurfen, weinen und irgendwo dazwischen heilen.

Woher diese Gewissheit kam, wusste ich nicht. Vielleicht war es der Alkohol. Vielleicht der Blick auf meine Freundinnen, die mir stumm Sicherheit suggerierten. Trotzdem. Es würde wieder gut werden. Scheiß auf Rewe-Romeo. Scheiß auf das Gefühl, nie genug zu sein. Mal wieder. Scheiß auf einfach alles, was mich kleinhielt und verbrannte.

Als die Musik im Innern lauter wurde, wandte ich den Blick vom Spiegel ab. Ein Bassdrop jagte den nächsten in der Clubversion von Midnight City. Währenddessen reichten meine Freundinnen sich das Handy weiterhin hin und her.

»Danke, Leute«, flüsterte ich.

Manda sah auf. »Für was?«

Auch Tillie beäugte mich fragend dabei, wie ich mir die Lederimitatleggins glatt strich.

»Für das hier. Für alles einfach.« Ich lächelte. Dabei wurde es in meinem Körper ganz warm.

Ich würde okay werden. Ich hatte die besten Freundinnen der Welt und eine neue Playlist. Und eigentlich war alles besser als okay, denn alles war gut.

»Ey, was geht da drinnen eigentlich ab? Veranstaltet ihr eine Privatparty in der versifften Badewanne, oder was?«

Beim Klang der fremden Stimme zuckten wir unmerklich zusammen, obwohl Tillie gerade zu einer Antwort angesetzt hatte.

»Wir sollten hier raus«, erklärte ich.

»Bist du sicher?« Manda musterte mich besorgt. »Mir egal, was der Typ sagt. Es gibt ein Klo eine Etage weiter unten, der soll man nicht so tun. Wir …«

»Ja«, unterbrach ich. »Absolut sicher.«

Die Worte schmeckten nicht einmal falsch auf meiner Zunge. Außerdem klang ich so bestimmt, dass meine Freundinnen einlenken mussten. Also rappelten wir uns auf und stolperten kurz darauf aus dem Bad.

»Boah, endlich. Macht doch nächstes Mal am besten ’ne eigene WhatsApp-Gruppe für eure Kloparty auf, wie wär’s?«

Der Typ beäugte uns herablassend, ehe er innehielt und die Nase rümpfte. Sein Blick wanderte von Tillie über Manda bis zu mir, als würde er uns kennen. Er glich spitzen, fiesen Nadelstichen auf meiner Haut. Ich hasste es, dass ein fremder Blick mich so berühren konnte. Da schnaubte er.

»Oder habt ihr Selfies für euren süßen Blog geschossen, hm?« Er gab uns nicht einmal die Chance, etwas zu erwidern. Augenrollend schob er sich an uns vorbei und schloss die Tür.

»Süß?!«, rief Tillie so laut und schrill, dass er es hören musste. »Mal ganz abgesehen davon, dass @thegirlnextdoor kein süßer Blog ist, was geht bitte bei ihm ab? Stellt euch vor, ihr seid auf der krassesten Party des Jahres und so mies gelaunt, dass ihr als verfluchter Wichser grundlos …«

Hastig zogen wir sie aus seiner Hörweite, obwohl der Fremde Tillies Schimpftirade verdient hatte.

Gott, ich hasste es, wenn so etwas passierte.

@thegirlnextdoor war nicht nur ein Blog, sondern unsere Marke. Seit zwei Jahren setzten Tillie, Manda und ich uns auf Instagram und neuerdings auch auf TikTok für feministische Werte ein. Wir drehten Reels und schnitten Storys, machten mit ästhetischen Grafiken auf Alltagssexismus aufmerksam und jeden Sonntag gab ich Leserinnen in meiner ganz eigenen Rubrik Liebe Lucy Ratschläge bezüglich ihrer Probleme. Es war ein feministischer Kummerkasten, dabei hatte ich genauso viel Kummer wie meine Leserinnen. Vielleicht war die Rubrik deshalb so beliebt.

Ich mochte einfach das Gefühl, etwas verändern zu können. Jemanden zu bewegen. Einem namenlosen Mädchen das Gefühl zu geben, ich würde sie hören, wenn sie kein anderer hörte.

Aber es gab auch andere Seiten. Und diese Begegnung war eine davon.

»Okidoki.« Im Flur pustete Manda sich eine Strähne aus der Stirn. »Was jetzt?«

»Tanzen«, antwortete Tillie. »Ich muss mich ablenken.«

Ich nickte. Wir mussten uns bewegen, den blöden Kommentar und Rewe-Romeo vergessen, weil …

Nässe.

Kälte.

Direkt links unter meiner Brust.

»Oh Gott!«, hörte ich eine bekannte Stimme rufen. »Sorry, Lucy.«

Blinzelnd blickte ich an mir herab. Auf meinem schwarzen Oberteil zeichnete sich ein dunkler Fleck ab, während der Stoff bereits anfing, an meiner Haut zu kleben.

»Mist, ich besorge dir sofort ein Zewa, ich …«

»Kein Ding«, erklärte ich lächelnd, bevor ich zu Mila aufsah.

Das platinblonde Haar trug sie offen in einem Wolf Cut, genauso wie ihre Jeansjacke über dem Top. Ihre Wangen waren übersät mit Sommersprossen, die Wimpern braun getuscht. In ihrem Glas schwappte der letzte Rest Cocktailflüssigkeit bedrohlich, während ihr Gesicht zerknirscht wirkte. Wir besuchten dieselben Seminare und sendeten uns sogar manchmal Memes. Außerdem hatte Mila den Verlauf meines restlichen Semesters in der Hand, aber heute war Freitag, deshalb wollte ich daran lieber nicht denken. Als sie erneut den Mund öffnete, wurde sie von ihren Freundinnen zur Seite gerufen.

»Ernsthaft«, sagte ich schnell. »Ich besorg mir selbst ein Zewa. Kein Problem.«

»Tut mir wirklich voll leid. Dafür hast du drei Chai-Latte bei mir gut«, entgegnete sie schuldbewusst, bevor sie in der Menge verschwand.

Mit gerunzelter Stirn sah Manda ihr nach. »War das gerade echt Curaçao in ihrem Glas?«

»Die eigentliche Frage ist, wieso du weißt, dass es Curaçao war«, erwiderte Tillie.

»Barkeeperin-Skills. Ich …«

Meine Freundinnen unterhielten sich weiter, doch ich hörte nicht mehr zu.

Da stand ein Typ im Küchentürrahmen.

Keine fünf Schritte von mir entfernt, riesig und athletisch, in einem schlichten Shirt und verwaschenen Jeans. Über ihm leuchteten aufgeklebte Sterne, ringsum blinkten bunte Lichterketten und beschienen seine Gesichtszüge perfekt. Um sein Handgelenk lag ein Wunscharmband. So eins, das man sich aus dem Urlaub in Peru, Mexico oder Bolivien mitnahm, dreimal zugeknotet. Wie Isa es damals für ihn getan hatte. Vielleicht war es das Armband, das mich nicht wegsehen ließ. Vielleicht war es aber auch die Tatsache, dass mein gesamter Körper zitterte.

Ich erkannte ihn nicht sofort, denn er wirkte anders und erwachsener, in meiner Vorstellung war er sogar einige Zentimeter gewachsen. In Wahrheit war es allerdings bloß so, dass ich regungslos in Samus WG-Flur stand, während es unter meiner Brust klebte. Und gerade dann, dann, als ich den Blick abwenden wollte, weil ich starrte und es selbst hasste, von Fremden so schamlos begafft zu werden – genau dann drehte er das Gesicht in meine Richtung.

Wenn ich abends in meinem Bett lag, träumte ich davon, Artikel zu schreiben, Redakteurin zu sein, an meinen Texten zu feilen, mein eigenes Magazin zu gründen und die Welt mit meinen Worten zu verändern. Dabei war ich eine heuchlerische Idiotin. Denn die deutsche Sprache umfasste mehr als dreihunderttausend Wörter und ich fand kein einziges, um diesen Augenblick zu beschreiben.

Mein Kopf war wie leer gefegt. Alle Worte, alles Denken – einfach weg, als sein Blick auf meinen traf.

Blasses Gesicht, nachtschwarze Korkenzieherlocken, an den Seiten viel kürzer als in der Mitte. Ich sah weg, dann wieder hin, aber der Typ war keine Einbildung. Er stand da, wie erstarrt, wie gefroren, wie ich.

Ich blinzelte.

Nein.

Auf meiner Zunge schmeckte es salzig.

Nein.

Meine Hände ballten Fäuste.

Nein.

Und dann klafften meine blauen Herznarben auf, die ich so mühsam vor Jahren mit blutroten Fingern zusammengeflickt hatte.

NEIN.

Ich wollte schreien, weinen, im Boden versinken, zu einer Pfütze verschwimmen, in meinen eigenen Wellen ertrinken. Alles, bloß nicht mit einem nassen Fleck auf dem Herzen hier stehen und blinzeln, als wäre er nicht echt.

Gregor.

Als wäre Gregor nicht echt.