Gregor
RAKETE
1. Bier
2. wie mein Herzschlag sich manchmal anfühlt
Mit mir war es immer dasselbe.
Ich wusste, dass ich etwas nicht tun sollte, wusste es so sehr und so gut. Und dann tat ich es trotzdem. In diesem Fall stieß ich die Tür auf und befand mich keine Minute später vor der Zeitschriftenabteilung im Kaufland. Der Riemen meiner Sporttasche hing mir schief über der Schulter, während meine Locken noch feucht waren. Ich kam gerade vom Schwimmen, hatte Bahnen gezogen und raus aus meinem Kopf gewollt, doch war mit jedem Armzug tiefer in meine Gedanken abgetaucht.
In diese Idee.
Ich hätte sie sofort aus meinem Kopf schmeißen sollen. So wie ich es mit Plotentwürfen tat, die laut Olga nichts taugten. Das ist nicht realistisch. Vergiss das nicht, realistisch ist immer die oberste Priorität. Aber mein Leben war ein Film, in dem die merkwürdigsten Dinge passierten. Wieso verstand sie das nicht?
Ich griff nach dem Magazin mit dem grellsten Cover und den schrecklichsten Überschriften. Links von mir quengelte ein Geschwisterpaar in identischen Gummistiefeln um Kinderriegel, während der Vater genervt auf seinem Smartphone scrollte. »Bitte, bitte, bitte, bitte, bitte, bitte, bitte, bitte, Papa«, sangen sie im Chor.
Ringsum türmten sich Angebote über Angebote für unnötige Dinge, die niemand brauchte, aber alle kauften. In Rekordgeschwindigkeit machte ich einen Schritt nach vorn, schnappte mir wahllos Magazine und vor der Kasse einen hauseigenen Proteinriegel.
»Vierunddreißig Euro und zehn Cent«, sagte der Kassierer.
Als ich die Karte gegen das Gerät hielt, musterte er mich abschätzig. Ich verurteilte ihn nicht. Wer zum Teufel bretterte schließlich fünfunddreißig Euro für problematische Frauenmagazine hin?
Nach Hause lief ich zu schnell, der Proteinriegel schmeckte scheiße. Als ich die Haustür aufstieß, spürte ich mein Handy vibrieren. Ich schaute nicht nach. Ich schmiss bloß meine Jacke in die Ecke, bevor ich die Küche ansteuerte. Nicht einmal die Schuhe zog ich aus. Ich hatte keine Zeit, mich mit mir selbst zu beschäftigen. Hektisch griff ich die Magazine, fischte nach einem Kugelschreiber und begann. Ich las und unterstrich. Bei jeder Linie, die ich setzte, wurde die Stimme in meinem Kopf lauter:
Was machst du da, was machst du da, was machst du?
Versuchen zu überleben.
Aber es klappte nicht.
Ich überlebte nicht. Das Gegenteil war der Fall. Ich fühlte mich, als würde ich sterben. Immer wieder rieb ich mir die Hände an der Jeans, spürte mein Herz unnatürlich stark pochen und hätte das Wort Rubatosis am liebsten aus unserem Wortschatz gestrichen. Der Sie-haben-ein-nervöses-Herz-Arzt hatte gemeint, es wäre nicht so schlimm. Nehmen Sie es Ihrem Körper nicht übel. Erinnern Sie sich daran: Ihr Körper ist nicht Ihr Feind. Er will Ihnen nur helfen. ABER WELCHEN VORTEIL HATTE ES BITTE, WENN ICH MEINEN PULSSCHLAG DIE GANZE ZEIT ÜBER HÖRTE?
Nichts in diesem Augenblick war zu ertragen. Weder die Lautstärke meiner Gedanken noch dieser Scheißbass.
»Ey, Beck, was geht?«
Irgendein Typ prostete mir lächelnd zu, wanderte jedoch sogleich zum nächsten Tisch weiter. Ich hockte eingequetscht auf einer Eckbank, umgeben von anderen Studierenden und klebenden Bierflecken. Das Lokal nannte sich Studio 69. Betrunken wurde sich über den Namen lustig gemacht, als wären wir notgeile Fünftklässler. Aus den Lautsprechern dröhnte Faber. Alle trugen Jutebeutel über der Schulter und ihre inneren Werte auf der Zunge. Leere Schnapsgläser fungierten als Kerzenhalter. In der linken Ecke wurde gekickert. Kurz: Ich sollte nicht hier sein. Olgas Mails und mein Buch warteten auf mich. Ironischerweise wollte ich sogar an meinem Küchentisch tippen, weil das ja jetzt wieder ging, selbst wenn ich mich danach schuldig fühlte. Ich wollte keine Zeit verplempern, schreiben und jemand werden, um jemand zu sein. In meinem Kopf hatte der abendliche Abstecher sogar in diesen Plan hineingepasst. Kurz eintreten, Lucy suchen, Lucy finden, wieder gehen.
Ich wusste, dass sie hier sein würde, weil Mila in der Redaktionsgruppe gefragt hatte, wer heute zum Studi-Abend käme. Lucy hatte mit Ja geantwortet, aber jetzt war es schon kurz nach zehn und sie nicht da. Zu meinem Glück war ich beim Eintreten Brenner in die Arme gelaufen, der mich an diesen Tisch verfrachtet hatte.
»Also.« Jetzt stupste er mich sogar an. »Was ist? Hast du es dir überlegt? Es wird echt cool. Ich bin die letzten Jahre immer mitgefahren. Safe schaffst du da auch richtig was für dein Masterprojekt.«
Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Garantiert sah er es mir an. Zumindest redete ich mir ein, dass das der Grund für sein darauffolgendes Kopfschütteln sein musste.
»Hast du mir nicht zugehört? Ich rede von der Köpcke-Fahrt.«
»Köpcke-Fahrt?«
»Ja?« Fragend hob er eine Braue an. »Das Schreibwochenende in Spiekeroog diese Woche? Im Bed & Breakfast von Erwin Köpcke. Die Fahrt machen wir jedes Jahr. Es gibt noch Plätze, du solltest auf jeden mitkommen. Hab ich dir echt nicht davon erzählt? Das Angebot ist superbeliebt, weil Erwin auch hier studiert hat und das volle Programm für seine Nachfolger auffährt. Warte mal, nimmt Lucy nicht auch teil?«
»Wie kommst du auf sie?« Meine Stimme klang ganz rau.
»Na, ihr macht doch den Podcast mit den Alumni. Wäre der Aufenthalt da nicht perfekt für euch?«
Scheiße. Natürlich. Er musste von dieser verdammten Fahrt reden, die mich dazu verdonnern würde, ein Wochenende im selben Haus wie Lucy zu schlafen.
»Warte mal.« Hastig rappelte ich mich auf. »Du fährst auch?«
»Klar. Wie jedes Jahr. Ich arbeite da immer richtig viel.« Jetzt lachte er. »Du bist echt durch, Mann«, meinte er, während Blicke auf ihn fielen.
Es wunderte mich nicht. Ehrlich gesagt war es genauso, wie ich es prophezeit hatte. Brenner war unperfekt perfekt. Ein Frauenschwarm, ein Magnet, anziehend und begehrenswert. Ich fragte mich, mit wie vielen Jahren er seinen ersten Kuss hatte. Sicherlich nicht erst mit zwanzig so wie ich.
In Rekordgeschwindigkeit griff ich nach meiner Rakete, die ich bis zur Hälfte leerte. Gott, ich hasste Bier mit Schnaps. Und Bier allgemein. Und, scheiße, wie meine Hand zitterte, als ich mir damit über den Mund wischte.
»Alsoooooo?«, versuchte Brenner es erneut. »Bist du dabei?«
»Ja«, erwiderte ich. »Wegen der Podcastsache muss ich.«
Ich musste, ich wollte nicht, ich wollte doch. Es war kompliziert.
»Ergibt voll Sinn. Die erste Folge geht nächste Woche online, oder?«
»Mittwoch.« Ich nickte, bevor ich den Blick ein weiteres Mal durch den Raum wandern ließ, aber von Lucy fehlte weiterhin jede Spur. »Apropos.« Heiser räusperte ich mich. »Hast du Lucy gesehen? Ich muss ihr was geben.«
Dringend, damit ich weg und in meinem Manuskript verarbeiten kann, wie meine Zwillingsschwester mich zum zweiten Mal verraten hat.
»Nein«, antwortete Brenner jedoch. »Keine Ahnung, wo sie ist.«