Kapitel

Gregor

LETZTE SÄTZE

nichts, das dich leer machen sollte

Ich würde es schaffen.

Ich würde mein Buch fertigstellen.

Die ganze Nacht hockte ich schon an meinem Küchentisch und tippte.

»Komm schon, komm schon, komm schon«, flüsterte ich vor mich hin, als ich bei einem Satz kurz stockte.

Mein erstes Buch beendete ich, nachdem ich beschlossen hatte, Lucy nicht zu schreiben. Das war vor etwas mehr als zwei Jahren gewesen. Ich tippte dreißigtausend Wörter in zwei Tagen, weil ich die besten Sätze schrieb, wenn es mir scheiße ging. Es war ein Klischee, das stimmte. Ein problematisches, um genau zu sein. Denn es bedeutete, dass du nur ein guter Künstler sein kannst, wenn du gebrochen oder depressiv oder am Arsch oder traumatisiert oder so ganz allgemein verkorkst bist. Und das stimmte nicht. Wie bescheuert wir doch waren. Wieso lechzten wir nach Schmerz? Wieso hieß es nicht: Wir erschufen unsere Kunst, obwohl es uns nicht gut ging, nicht weil ?

Ich schrieb seit Stunden vor mich hin, obwohl Lucy mir gesagt hatte, dass sie nichts mehr von mir wissen wollte. Nicht weil. Aber vielleicht war auch das gelogen. Denn schrieb ich nicht, weil ich mich ablenken wollte? Weil ich sonst befürchtete, mir die Tasche zu schnappen, ins Aqualand zu marschieren, dort unter- und nie wieder aufzutauchen? Oder noch schlimmer: nicht ins Hallenbad, sondern zu Lucy zu fahren und damit toxisch bis zum Gehtnichtmehr zu sein?

Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass ich es schaffen würde. Ich war beim letzten Kapitel. Bloß noch einige Seiten, ein paar …

Es klingelte.

Kurz brachte mich das Geräusch aus dem Flow, doch ich hielt mich nicht daran auf. Wie besessen schrieb ich weiter, da erklang es erneut. Mit mahlendem Kiefer schob ich den Stuhl nach hinten und erhob mich. Keine Ahnung, womit ich rechnete. Vielleicht mit einem verschwitzten Postboten, der bestellte Weihnachtspakete meiner Nachbarn bei mir parken wollte.

Ich riss die Tür auf und …

Isa.

Sie wollte mich begrüßen, verschluckte sich allerdings bei meinem Anblick.

»Gregor?« Sie klang ehrlich besorgt. »Was ist denn mit dir passiert?«

Hab mir selbst das Herz gebrochen. Mal wieder. Und jetzt tue ich das, was ich seit Wochen hätte tun sollen: Ich schreibe mein verficktes Buch über unsere Mutter endlich zu Ende.

»Hab ’ne Deadline«, murmelte ich.

»Wann hast du die nicht?«

»Lassen wir den Small Talk, hm?« Ich massierte mir die pochenden Schläfen und schloss dabei die Lider. Bloß um sicherzugehen, dass ich mir meine Zwillingsschwester nicht einbildete. Spoiler: Sie war leider echt. »Was machst du hier überhaupt?«

Ich rechnete mit einer dramatischen Entschuldigung, die ihr theatralisch aus dem Mund stolpern würde. Wider Erwarten atmete sie jedoch bloß durch. »Kann ich kurz reinkommen?«, fragte sie. »Ich habe mich auf WhatsApp angekündigt, aber du scheinst ja seit gestern Nachmittag nicht mehr erreichbar zu sein.«

Widerwillig ließ ich sie rein. Die Luft in meinem Eingangsbereich schien zu knistern, ich hörte es ganz deutlich. Alles zwischen Isa und mir war angespannt. Es kribbelte mir sogar unter der Haut.

Gott, wie ich dieses Zwillingsding hasste.

Schließlich lehnte sich Isa gegen die geschlossene Tür und seufzte. »Ich mach es kurz, ja?«

»W…was?«

»Dieses Gespräch. Ich will dich weder nerven noch von deinem Buch abhalten.«

Ich zwickte mir in den Punkt zwischen den Brauen und erinnerte mich an das, was Lucy gesagt hatte: Wenn du über sie redest, hast du hier eine traurige Furche . »Was willst du mir sagen?«, flüsterte ich energielos.

»Ganz ehrlich?« Sie zuckte mit den Schultern. »Eigentlich nichts. Ich verstehe, dass du wütend auf mich bist. Auf Oma. Auf Tascha. Trotzdem gab es Gründe und das weißt du. Ich verstehe, dass du Abstand brauchtest, aber es ist Monate her, Gregor. Das, was du machst, ist nicht mehr richtig.« Kraftlos schüttelte sie den Kopf. »Ich bin es so satt, dir Vorträge zu halten, die du sowieso ausblendest. Ich meine, wir sehen uns wochenlang nicht, weil ich weg bin. Ich komme hier sogar angelaufen und dich interessiert nicht mal, wie es mir geht.«

Ich sagte nichts.

»Es tut mir leid. Das meine ich ernst. Oma und Tascha haben einen Fehler gemacht. Ich auch. Aber wir sind Menschen. Fehler gehören dazu. Verzeihen auch. Wenn du das nicht so siehst, dann ist das wohl so.« Ein letztes Mal atmete sie durch. »Es ist Weihnachten. Du bist eingeladen. Ich will, dass du kommst. Alle wollen, dass du kommst. Wenn du das allerdings selbst nicht willst, können wir nichts daran ändern.«

Dann ließ sie die Hand zur Türklinke wandern, öffnete sie – und verschwand.

Was. Zum. Teufel?

Die Frage pochte hinter meiner Stirn und in meiner Brust, während ich zurück in die Küche ging und mir ein Isoclear mixte. Ich stellte es kalt, setzte mich an den Tisch und schüttelte mir die Finger aus.

Endspurt, Beck.

Als meine Finger wieder über der Tastatur schwebten, befürchtete ich kurz, nicht mehr reinzukommen. Doch meine Sorge war so unbegründet.

Es war der einundzwanzigste Dezember, meine Wohnung roch nach Isas Parfum und ich schrieb mein Buch fertig. Einfach so tippte ich den letzten Satz. Es passierte so leise, dass ich es fast nicht bemerkte. Doch als ich das letzte Wort musterte, durchrieselte mich mit einem Mal dieses Gefühl. Kalt, hohl, dumpf.

Leer.

Ich fühlte mich einfach nur leer.