Kapitel

Lucy

FÜR MAMA

meine einzige Widmung

Mama wollte Plätzchen backen.

Dafür lotste sie Elias und mich am Samstagmorgen vor Weihnachten in die Küche, kramte die Ausstechförmchen aus den 2000ern hervor und präsentierte uns gleichzeitig welche, die sie neu gekauft hatte.

»Ich habe sie auf Etsy bestellt.« Sie streckte mir die Förmchen entgegen. »Hab sie entdeckt und musste direkt an dich denken. Es ist zwar kein Weihnachtsmotiv, aber mal eine schöne Abwechslung, nicht wahr?«

Mein Bruder fuhr sich peinlich berührt über den dunkelblonden Bartschatten, während ich den Blick über die Formen schweifen ließ. Die Anatomie einer Gebärmutter und Brüste, daneben der Schriftzug #Girlboss.

»Eins deiner letzten TikToks hat mich dazu inspiriert«, erklärte Mama, während sie die Mehltüte aufriss.

»Na, da musst du schon ein bisschen genauer werden«, kommentierte Elias belustigt. »Lucy ist ein Sklave des Algorithmus. Sie muss vier Videos pro Tag hochladen, sonst ist sie nicht mehr aktuell.«

»Sklave des Algorithmus?« Ich rollte mit den Augen. »Erstens wäre es Sklavin . Zweitens reichen auch zwei Videos pro Tag. Und drittens …« Ich nickte auf die Förmchen. »Sind die echt cool, Mama.«

Sie lächelte mich an, bevor wir Mehl, Zucker und Butter zusammenkneteten. Elias naschte vom Teig, Mama verwarnte ihn. Insgeheim biss ich mir auf die Zunge, weil ein Teil in mir über Girlboss diskutieren wollte. Wie scheinheilig-feministisch das war. Nur hinter Girl setzten wir Boss , als würde Letzteres ausschließlich Männern zustehen. Doch Mama stammte aus einer anderen Generation. Eine, in der man bis auf ewig zusammenblieb, weil man Dinge angeblich reparierte. Allerdings war auch das ein Spruch, den ich nicht mehr hören konnte. Früher waren Frauen finanziell vom Mann abhängig gewesen, wie hätten sie sich da scheiden lassen können?

Ich tat alles, um diese Gedanken aus meinem Gedächtnis zu schieben. Ich warf sie nicht heraus, denn sie waren wichtig, aber alles hatte seine Zeit. Und das hier war Familienzeit. Vorbildlich setzte ich also ein Lächeln auf, bepinselte #Girlboss mit Zuckerguss und sog den Plätzchengeruch in mich auf. Keine Ahnung, ob ich eine gute Show hinlegte. Denn natürlich war ich nicht ich. Wieder war ich in eine Idee von mir geschlüpft. Lucy, die Fröhliche, weil so gut wie Weihnachten war. Nur Mandas und Tillies besorgte Nachrichten erinnerten mich daran, dass es mir in Wahrheit ganz und gar nicht gut ging. Dass tief in meiner Brust etwas aufgerissen war, unsichtbar schrie und blau blutete.

Nicht rot.

Nur blau, blau, blau.

Die meiste Zeit passte die Hülle meines vorübergehenden Ichs wie angegossen. Es lief gut. Wirklich, wirklich gut, bis es draußen dunkel wurde und Regentropfen sanft gegen die Fenster trommelten.

»Und?«, fragte Mama beim Abendessen. »Hast du schon deine Sonntagsfrage vorbereitet?«

Ich verharrte in meiner Bewegung. Wir aßen Wraps und Ofenkartoffeln. Mama verzichtete auf jegliche Kohlenhydrate und hatte sich daher einen Salat gemacht. Es stach nur ein bisschen, als Elias sich die dritte Portion Kartoffeln aufschaufelte und sie ihn dabei beobachtete.

Unsicher schluckte ich. »Es fehlt nur noch der Feinschliff.«

Es war eine komplette Lüge.

Also verabschiedete ich mich nach oben, als Papa die Tannenbaumlichterkette anschloss und es sich gemeinsam mit Mama und Elias auf der Couch gemütlich machte.

»Der Feinschliff«, entschuldigte ich mich. »Ihr wisst schon.«

Wenig später saß ich mit meinem Laptop auf meinem Kinderbett und feuerte mich innerlich selbst an.

Los, Lucy. Schreib irgendetwas über Neujahrsvorsätze und darüber, wie wichtig Neuanfänge sind. Das ist kein Hexenwerk, es muss nicht einmal besonders sein.

Doch es ging nicht. Mit zusammengepressten Lippen starrte ich meinem Doc entgegen, als wäre es mein Endgegner. Denn hier, hier auf diesem Bett, in dem ich so viel geweint hatte, wegen Periodenkrämpfen, der vier Punkte in meinem besten Fach und meinem ersten Liebeskummer, konnte ich mich selbst nicht täuschen.

Es brannte gefährlich hinter meinen Augen. Alles, worüber ich schreiben wollte, war Gregor. Natürlich nicht direkt, sondern versteckt, so wie es die Kreatives-Schreiben-Leute in ihren Werkstätten machten, um cool und egdy, statt weinerlich und pathetisch zu wirken.

Aus Verzweiflung öffnete ich die Liebe-Lucy- Datei in meinen Notizen. Instinktiv scrollten meine Finger nach oben, bis ich die Frage erreichte, die ich zuerst in die Datei übertragen hatte. Obwohl sie rein gar nichts mit Gregor zu tun hatte, schmerzte mich schon die erste Silbe.

Liebe Lucy

Hallo, mein Name ist Lucy, ich bin zehn und meine Mutter ist begeisterte Leserin Ihres Magazins. Nun ist es so, dass ihre Pinnwand nach Weihnachten voll mit Ihren seltsamen Shake-Rezepten ist, die einen dazu bringen sollen, schlank ins neue Jahr zu starten. Vielleicht könnten Sie ja einen Diätplan erstellen, der nicht ganz so streng ist? Ich glaube, das würde ihr sehr helfen. Vielen Dank schon mal!

PS: Könnten Sie auch Tipps dazu geben, wie man aufhört, Angst vor Süßigkeiten zu haben?

Lächerlich kindisch, oder? Dennoch hatte mit dieser Frage an ein renommiertes Frauenmagazin alles begonnen. Ewig hatte ich in meinem Tagebuch an ihrer Formulierung gefeilt. Eine Antwort hatte ich trotzdem nie bekommen.

Ich ließ den Kopf gegen die Lehne fallen und überlegte unwillkürlich, welche Fragen ich mir heute stellen würde. Sie würden anders klingen. Härter. Wütender. Fordernder. Ich konnte nichts dafür, dass meine Finger wie von selbst zu tippen begannen.

Wieso ist Scham ein Synonym für Vagina? Warum benutzen wir überhaupt Vagina statt Vulva ? Sind wir echt einfach nur ein Loch? Und wieso heißt es überhaupt das Mädchen (Neutrum)? Wieso ist es nicht die Mädchen (Femininum)? Wieso ist Mädchen ein Objekt? Liegt es daran, dass man uns mit sechzehn so gut objektifizieren kann? Daran, dass die meisten Männer mir mit fünfzehn hinterhergepfiffen haben, als ich plötzlich Brüste hatte und eine Lehrerin meinte, mein rund ausgeschnittenes Top wirkt wie eine sexuelle Aufforderung? Wieso ist alles, was Frauen tun, sexbezogen? Eine Banane essen, eine Leggins tragen, Squats im Gym machen? Wieso stehen Männer auf große Hintern? Wieso wollen auf einmal alle Frauen einen haben? Wieso habe ich fast geweint, als ich diese Doku namens BBL: Leben riskieren für den mega Po? gesehen habe? Die, in der eine Frau mit siebenundzwanzig kerngesunden Jahren ein Testament verfasste für den Fall, dass sie während dieser gefährlichen Schönheitsoperation starb?

Keine Ahnung, wie lange ich mich durch meine Fragen scrollte und den Drang unterdrückte, sie in mein Doc abzutippen. Ich sah die Überschrift meines morgigen Beitrags schon vor mir: 103  Fragen, auf die ich selbst keine Antwort weiß. Vielleicht hätten meine Leserinnen Tipps. Doch am Ende blieb es das, was es war: Gedankenspielerei.

Als es plötzlich an meiner Tür klopfte, schreckte ich zusammen. Mama wartete nicht darauf, bis ich sie hereinbat. Ein kurzes Klopfen, schon trat sie ein. In ihren Händen balancierte sie ein Tablett mit zwei dampfenden Tassen und einem Teller Plätzchen.

»Störe ich?«, fragte sie und deutete auf meinen Laptop.

»Nein, nein«, sagte ich sofort. »Mache sowieso gerade Pause.«

»Lucy, Liebling, nimm es mir nicht übel, aber du konntest noch nie lügen.« Langsam ließ sie sich am Bettende nieder, bevor sie das Tablett zwischen uns abstellte. »Was ist los, hm? Stockst du bei deiner Frage?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Wie lautet sie denn?« Mama schnappte sich eine der Teetassen. »Vielleicht kann ich helfen?«

Zögerlich wagte ich einen Blick auf mein Doc, doch mein Kopf war schon weiter. Tu’s nicht , dachte ich. Tu’s nicht, tu’s nicht, tu’s nicht. Und dann tat ich es doch.

»Es ist ja die letzte Frage in diesem Jahr, also wollte ich ein Neujahrsspecial machen, aber … Dann kam vorhin diese Frage rein«, begann ich. »Eine Leserin hat mich gefragt, was sie tun soll: Jedes Jahr aufs Neue sind die Feiertage für sie die absolute Hölle. Wegen dem Essen, weil sie Angst hat zuzunehmen. Wohl in ihrem Körper hat sie sich noch nie gefühlt, also nimmt sie sich jeden Dezember vor, ab dem 01.  01. so richtig durchzuziehen. Es ist nicht das, worüber ich eigentlich schreiben wollte, allerdings kann ich diese Frage einfach nicht ignorieren, verstehst du?«

Lange sagte Mama nichts. Sie nippte bloß an ihrem Tee und sah sich in meinem Zimmer um. An meinem Bücherregal blieb sie hängen, vollgestopft mit Liebesromanen, die ich heute nicht mehr lesen würde, mit Bad Boys und Motorrädern und Jungfrauen, die beim ersten Mal Sex einen dreifachen Orgasmus hatten, allein durch Penetration.

»Ja.« Mamas Stimme holte mich ins Hier und Jetzt. »Ja, ich glaube, ich verstehe das.«

»Und …« Ich schluckte, denn das hier war gefährliches Terrain. Doch gleichzeitig war es eine Jetzt-oder-nie-Chance. »Hast du eine Idee, wie du darauf antworten würdest?«

»Ich glaube, es gibt keine richtige Antwort.« Mama spielte an dem Teebändchen. »Ehrlich gesagt gibt es die auf die Fragen, die du beantwortest, doch nie. Im Grunde ist es auch gar nicht wichtig. Du gibst den Leuten das Gefühl, dass du sie hörst. Die Lösung spielt nicht die größte Rolle. Sie wollen Verständnis und du verstehst sie so gut.« Plötzlich wurde ihre Stimme unendlich leise. »Ich bin stolz darauf, dass du meine Tochter bist, Lucy. Das, was du machst, ist der Wahnsinn. Ich wünschte, es hätte mehr Personen wie dich gegeben, als ich jung war.«

»Hättest du mir etwa damals auch eine Frage gestellt?«, witzelte ich, um die Stimmung aufzulockern. Allerdings scheiterte ich meisterhaft, weil nicht einmal Mamas Mundwinkel zuckten.

»Ja«, sagte sie rau. »Ja, ich glaube, ich hätte dir vielleicht wirklich eine Frage geschickt.«

Instinktiv setzte ich mich auf. Ich wollte so gern wissen, wie die Frage gelautet hätte, obwohl ich es mir denken konnte. Mama gab mir allerdings keine Chance dazu.

Lächelnd stand sie auf und nickte auf meinen Laptop. »Dann lasse ich dich mal weiterschreiben, oder?«

»Klar«, brachte ich krächzend hervor.

Wie sie dann aus meinem Zimmer verschwand, kurz winkend und mit dem Ingwertee in der Hand, ohne den Teller Plätzchen angerührt zu haben, brannte sich in mein Gehirn. Ich sah ihr so lange nach, bis sie verschwand, bis die Tür schon lange geschlossen war und ich sie wieder unten mit Elias lachen hörte. Erst dann riss ich mich zusammen und tat das, was ich so gut konnte: Ich verstand. Dann schrieb ich.

Liebe Lucy, wie schließe ich Frieden mit meinem Körper?

Niemand hatte mir diese Frage gestellt, doch es war so, wie Mama gesagt hatte: Ich verstand. Ich würde die Frage mit dem Neujahrsthema verbinden und anschließend zu Dieses-Jahr-nehme-ich-wirklich-ab-Vorsätzen gleiten. So könnte ich es verpacken, richtig machen. Weil es mir wichtig war. Weil ich mich nicht traute, auf der Treppe nach unten zu rennen und Mama etwas fürchterlich Unpassendes zu sagen wie Wenn Paralleluniversen wirklich existieren, hoffe ich, dass es eins gibt, in dem du Plätzchen an einem Sonntag isst.

Ich erzählte von falschen Körperbildern, von den 2000er-Jahren, von Bauchketten und Low-Rise-Jeans, die wieder in Mode kamen. Von dieser bedenklichen Annahme, dass nichts so gut schmeckte, wie Dünnsein sich anfühlte. Ich tippte und tippte und tippte mich immer weiter weg von einer Lösung, aber was machte es schon?

Die erste Frage, die ich mir auf Liebe Lucy selbst stellte, war nicht für mich, sondern für meine Mutter. Wenn ich ein Buch schreiben würde , dachte ich, würde ich es ihr widmen . Immer.

Es war derselbe Moment, in dem mein Handy vibrierte und alles in mir so mühelos gefror.