Kapitel

Gregor

DRAMA-KING

ein Mann, der einfach Gefühl hat verfickt noch mal

Ich legte mein Handy zur Seite, ließ mich tiefer ins Kissen sinken und schloss die Augen. Zum ersten Mal nach sehr, sehr langer Zeit war alles ruhig. Keine Stimme wollte mich aus meinem Bett zerren, mir befehlen, mich wieder an meinen Schreibtisch zu setzen und mein Buch zu Ende zu schreiben.

Im Grunde hatte mein Plan funktioniert. Ich war nach Köln gezogen, hatte dort studiert, wo meine Mutter studiert hatte, Podcast-Folgen mit ihren ehemaligen Kommilitonen aufgenommen und sogar ein Buch über sie geschrieben. Um mich endlich mit meinem offensichtlichen Mutterkomplex auseinanderzusetzen und dabei irgendwie zu heilen. Was natürlich nicht funktioniert hatte.

Die nächsten Stunden zogen wie Nebel an mir vorbei. Ich träumte einen Traum, ohne mich an seinen Inhalt zu erinnern.

Irgendwann knurrte mein Magen und es fuhr mir durch den gesamten Körper. Es erinnerte mich daran, dass Bauchgrummeln kontraproduktiv war, weil mein Körper sich dann von meinen Muskeln ernährte. Und die wollte ich behalten. Unter Ächzen stand ich auf und trottete in die Küche. Dort lud mein Laptop immer noch auf dem Küchentisch.

»Fuck«, fluchte ich, weil er mich daran erinnerte, dass ich das Manuskript noch an Olga schicken musste. Nach dem Beenden hatte ich es nicht gekonnt. Ich redete mir ein, dass es an dieser Leere lag. Es hatte sich nicht richtig angefühlt und das musste es.

Ich rührte mir irgendeine Magerquarkscheiße zusammen, wobei ich meinem Spiegelbild in der Fensterscheibe begegnete. Der oberkörperfreie Typ mit den zerzausten Locken fragte mich, wieso ich so traurig aussah. Wieso ich zögerte.

Ja, es war Weihnachten. Ja, Olga würde sicherlich erst in drei Tagen in ihr Postfach schauen – wenn überhaupt. Aber wenn ich es jetzt abschickte, hätte ich es weg. Und vielleicht würde ich mich dann endlich frei fühlen. Frei statt leer.

Entschlossen stellte ich die Schüssel mit dem Proteinquark zur Seite, steuerte meinen Laptop an und fuhr ihn hoch. Doch er brauchte Ewigkeiten. Reflexartig öffnete ich Instagram, weil ich nun zu einem von diesen Menschen geworden war. Meine These erwies sich allerdings als richtig: Diese App tat dir nie gut.

Sofort sprang mir ein Beitrag meiner Schwester entgegen. Bei ihrem Anblick fühlte es sich so an, als würde mir jemand mit einem Presslufthammer gegen den Brustkorb donnern. Isa hatte sich selbst vor einer weißen Wand abgelichtet. Sie war knapp bekleidet, mit einem übergroßen Shirt, ohne Hose und mit massiven Boots. Sie blickte ausdruckslos zur Seite, während sie ein mit Edding beschriebenes Plakat in die Kamera hielt.

It’s alright. You just forgot who you are. Welcome home.

Ich wusste, was mich erwarten würde, wenn ich das Schwarz-Weiß-Foto zur Seite swipen würde. Mit stark pochendem Herzen tat ich es trotzdem.

Meine Mutter starrte mir entgegen.

Genau die gleiche Pose, genau das gleiche Plakat. Isa sah ihr genauso wenig ähnlich wie ich selbst. Nur den blassen Hautton und die Haare hatten wir von ihr. Emmie, wie Oma sie in den wenigen Momenten nannte, in denen sie von ihr sprach, hatte uns zu dünne Haut vererbt. Sonst nichts. Den Rest hatten wir von unserem Erzeuger, wie Isa ihn so schön dramatisch betitelte. Thore Beck, Emmas Freund, unser Vater, der uns als Kindern Spielzeug während seiner Wochenenden geschenkt und uns dann wie welches behandelt hatte. Seit wir sechs waren, hatte er sich nicht mehr blicken lassen. Keine Ahnung, wo er war, was er trieb, vielleicht nach wie vor etwas mit Immobilien in Spanien. Es war egal. War immer egal gewesen, weil da Oma und unsere Tante Tascha gewesen waren.

Keine Ahnung, wieso es in meinem Herzen knackte, noch bevor ich mir die Bildbeschreibung überhaupt durchlas. Es passierte einfach. Und vielleicht war das ganze Leben so: Es passierte einfach.

Die letzten Wochen habe ich bei einer Dubliner Gastfamilie verbracht, meiner verstorbenen Mutter auf der Spur. Als sie zweiundzwanzig war, hat sie in Form eines Stipendiums hier fotografiert. Emma Visser war die talentierteste Fotografin, die ich nie kannte. Auf meiner Reise habe ich tatsächlich unveröffentlichte Arbeiten von ihr entdeckt und …

Ich las nicht weiter. Ich vergaß mein Manuskript, meinen Proteinbedarf und vor allen Dingen mich selbst.

»Verdammt, Isa«, fluchte ich und verlor keine Zeit. In meinem Zimmer sprang ich in Straßenkleidung, hielt mich mit keiner Dusche auf, Deo musste reichen. Ich zog mir den Jackenreißverschluss bis zum Kinn hoch, nur um draußen festzustellen, dass mir warm war. Bevor ich die DB-App öffnete, checkte ich das Wetter.

Es war der dreiundzwanzigste Dezember und wir hatten vierzehn Grad.

Alles war ein Witz.

Wenig später buchte ich mein Ticket und fuhr zum Hauptbahnhof, hatte weder Laptop noch Rucksack dabei, doch es war mir egal. Ich musste mit Isa sprechen, der Verräterin 2.  0.

In die Heimat benötigte ich einen Umstieg und knapp zweieinhalb Stunden. Mein Abteil war voll mit Koffern und Studenten, die nach Hause fuhren. Ich war also doch einer von ihnen. Vom Bahnhof aus lief ich zu Fuß, die Hände in den Jackentaschen zu Fäusten geballt. Als ich Omas Wohnhaushälfte in der Ferne erkannte, wurde ich noch schneller. Und noch wütender. Ihr schwarzer Volvo wartete in der Einfahrt, als würde sie gleich zum Einkaufen fahren. Die Fassade der Richters sah immer noch heruntergekommen aus. Im Garten rechts stand weiterhin die Schaukel. Alle Häuser waren geschmückt, mit Lichterketten und kitschigen Weihnachtsmännern versehen.

Vor der Haustür angekommen überlegte ich. Ich besaß zwar noch den Schlüssel, fühlte mich allerdings nicht wie jemand, der ihn benutzen sollte. Nach kurzem Zögern entschied ich mich fürs Klingeln. Während ich wartete, wippte ich auf den Fußballen.

Wusstest du, dass Wut eine Ersatzemotion ist und eigentlich immer nur das darunter liegende Gefühl verdeckt?

Fuck. Lucys Stimme in meinem Kopf konnte ich gerade garantiert nicht gebrauchen. Meine Augen drohten auch so schon zu tränen.

Die Tür wurde aufgezogen.

Barfuß und in Jogginghose stand Isa vor mir, während in ihren Haaren Vanillesoße oder so ein Scheiß hing. Von drinnen wehte mir ein süßer Duft entgegen. Es roch nach Kuchen, Geborgenheit und Gelassenheit. Ich hörte Stimmen, die meiner Tante und meiner Cousinen. Sie alle waren hier. Es war Weihnachten. Das Fest der Liebe. Familienzeit.

DOCH DIE FAMILIE KONNTE MICH MAL.

»Wie kannst du nur so sein?«, flüsterte ich.

Meine Schwester ignorierte meinen Kommentar geflissentlich. »Na, sieh mal einer an, wenn das nicht mein verlorener Zwillingsbruder ist«, erwiderte sie stattdessen zynisch, doch ich konnte die Überraschung in ihrem Blick deutlich erkennen.

»Ich hab echt keinen Bock auf unsere komischen Spiele.« Meine Nasenflügel blähten sich auf. »Wie kannst du nur so sein? Jetzt mal im Ernst, Isa.«

Ich wünschte, ich könnte Isabel sagen, um meine Fassungslosigkeit zu unterstreichen. Aber Isa war für mich immer nur Isa. Wir waren gleich alt, selbst wenn wir verschiedene Sternzeichen besaßen, weil sie um 00:02  Uhr geboren wurde. Ich konnte nicht wie ein wütendes Elternteil auf sie herabsehen. Da brachten mir die fünf Minuten Altersunterschied auch nichts.

Verwirrt schüttelte sie den Kopf. »Ich verstehe nicht, was du meinst?«

»Du verstehst nicht, was ich meine?« Ich schnaubte, zu laut, zu verletzt. »Bro, ich muss dir nicht erklären, wie es ist, ohne auch nur ein einziges Elternteil aufzuwachsen, weil sich das eine spurlos verpisst hat und das andere gestorben ist, sobald wir das erste Mal geatmet haben. Ich muss dir nicht erklären, wie es sich anfühlt, durch sein eigenes Leben zu trotten und sich zu fragen, wer man ist. Woher sollten wir es auch wissen? Wir haben DNA von Menschen, die wir nicht mal kennen. Und dann lügt Oma uns auch noch kackendreist an. Unser Leben lang wurden uns so wenig Geschichten wie möglich erzählt, bloß nicht zu viel verraten. Immer alles schön schwammig halten. Denn, Gott bewahre, wenn Isabel und Gregor herausfinden, dass ihre Mutter auch Künstlerin war. Wir erzählen den Kindern lieber nicht, dass Emmie von zu Hause ausgerissen ist, weil sie nichts Richtiges machen wollte«, ich zeichnete Anführungszeichen in die Luft, »und Oma deshalb gehasst hat. Stattdessen unterstützen wir Isabel und Gregor bei allem, was sie auf ihrer künstlerischen Laufbahn tun, weil wir sooo ein schlechtes Gewissen haben. Ich meine, wo ist da überhaupt das Drama? Nur weil Emma keinen Bock auf eine Kaufmännische Ausbildung hatte, musste eine Funkstille von über acht Jahren herrschen? Wo sind wir denn hier? In den Fünfzigern, oder was?« Ich ließ alles frei. Alles raus, was sich das letzte Jahr in mir angestaut hatte. »Wieso hat man uns nicht einfach erzählt, dass Emma fotografiert hat? Sie war unsere Mutter. Wir haben das Recht darauf zu wissen, wer sie war. Aber neeein, niemand sagt uns etwas. Bis du ihre Bilder findest und – Surprise – du es mir auch nicht erzählst?! Du , Isa. Wir haben uns eine fucking Gebärmutter geteilt. Hast du eine Ahnung, wie verarscht ich mich gefühlt habe, als ich dich mit ihren Fotos in deinem WG-Zimmer gesehen habe?«

»Ich …«, setzte sie an, doch ich unterbrach sie.

»Nope, sorry, keine Chance. Das weißt du nämlich definitiv nicht. Ich hätte dir so etwas nicht angetan. Ich hätte es niemals so weit kommen lassen, dass du für ein Projekt in ein anderes Bundesland ziehst, um dich deiner Mutter näher zu fühlen. Um herauszufinden, wie du überhaupt zu deiner Mutter stehst. Was du fühlst, was dieses ganze Theater mit dir und deinem Leben gemacht hat. Ich würde garantiert keine verschollenen Bilder von deiner Mutter auf Insta posten, ohne sie dir überhaupt gezeigt zu haben. Ich hätte mit Sicherheit verhindert, dass du ein ganzes Semester lang an einem Manuskript scheiterst, das du deiner Agentin als literarisch verkaufst, obwohl es eigentlich nur Gedankenkotze ist. Die, von der du willst, dass sie jemand hört, weil du dich so verflucht allein fühlst. Denn wie zum Teufel sollst du jemals bei dir selbst ankommen, wenn du mit deinen Fragen immer nur weggeschickt wirst? Ich … ich … ich …« Meine Hände zitterten, meine Lippen bebten. Erst dann bemerkte ich, dass Isa schon längst nicht mehr allein im Türrahmen stand. Ich hatte mich so in meiner Rage verloren, dass ich alles ausgeblendet hatte. Für einen Moment lang pochte mein Herz so heftig, dass es das Einzige war, was ich hörte.

»Es tut mir leid, Schatz.« Omas Hand auf meiner Schulter. Ich spürte, wie sie mich berührte, aber ich spürte es nicht wirklich. Bis sie mich an ihre Brust zog. Und ich alles fühlte. Die Tränen, die mir schon längst die Wangen hinabsegelten. Die tiefe Leere, die ich bis in die Knochen spürte, weil ich meine Mutter auf Bildern betrachten konnte, doch nie in Wirklichkeit.

Ich ließ mich von Omas warmen Händen halten, bis sie sich von mir löste. Schluckend musterte ich ihr Gesicht, das ebenfalls von Tränen verschmiert war. Sie war Ende sechzig, sah aber aus wie Mitte fünfzig, allerhöchstens. Sie roch nach teurem Parfum und schlechtem Gewissen. Eine Locke fiel ihr in die Stirn, schwarz und kraus. Unsere Mutter hatte ihr Haar von ihr und wir hatten es von unserer Mutter. Durch unsere Adern pochte das gleiche Blut. Würde es immer.

Omas Hand strich mir weiterhin über die Schulter, während ich einen Moment brauchte, um meine restliche Umgebung zu registrieren. Meine Tante Tascha stand im Flur, das Gesicht vor Schmerz verzerrt. »Es tut mir so leid«, formten ihre dunkel geschminkten Lippen lautlos.

»Boah, Gregor.« Isa verdrehte übertrieben die Augen. »Seit wann bist du der Drama-King von uns?«

Doch als ich mich umdrehte, waren auch diese glasig und ich wusste, dass ich sie getroffen hatte. Sie hatte gemeint, was sie mir am Freitag gesagt hatte. Dass sie nichts tun konnte, wenn ich nichts tun wollte. Das änderte allerdings nichts daran, dass es ihr leidtat.

»Gott.« Plötzlich fasste Oma mir an die Wange. »Du glühst ja richtig. Komm, jetzt zieh doch erst mal die Jacke aus und dann setzen wir uns an den Tisch.«

Und für eine Millisekunde fühlte ich mich fast wieder wie zu Hause. Seltsam, oder? Da hasste man und hasste man und hasste man und hasste man und liebte darunter trotzdem so unendlich viel.

Welcome home.

Absatztrenner

»Spul noch mal zurück!«, verlangte Isa, während sie ihr Handy beiseitelegte und auf den Fernseher nickte.

Widerwillig tat ich, worum sie gebeten hatte, und sah mir erneut an, wie irgendein Liebeskomödienheld in einem kitschigen Weihnachtsfilm auf die Knie ging. Dabei lag Heiligabend schon einige Tage zurück und ein Teil in mir konnte immer noch nicht fassen, dass ich mich tatsächlich hier befand. Neben Isa, die mich zu diesem Film genötigt hatte, nur um die Hälfte der Zeit mit TikToks zu verbringen. Trotzdem änderte es nichts an der Tatsache, dass ich aus freiem Willen hier war. Geblieben war. Bei Oma, bei Isa, bei meiner Familie.

Wir hatten Weihnachten gemeinsam verbracht. Ich hatte keine Geschenke, sie schon. Deshalb hatte Isa beschlossen, fünf Filme bei mir gutzuhaben. Wir hatten zu viel gegessen und ich zu wenig gesprochen. Letzteres lag daran, dass ich nun alles zu hören bekommen hatte. Die Geschichten, die Erlebnisse, Emmie in jeder ihrer Facetten. Oma hatte geweint, Isa hatte geweint, ich hatte geweint.

Ich hatte mir angehört, was ich mir schon vor einem Jahr hätte anhören sollen: Ich habe euch nicht absichtlich angelogen. Das habe ich nie, aber irgendwie habe ich den Zeitpunkt verpasst, euch alles zu erzählen, und dann wart ihr groß und ich hatte Angst. Ich schäme mich, dass ich Emmie damals so ausgestoßen habe. Nein, das stimmt nicht. Eigentlich hasse ich mich dafür. Das letzte Mal habe ich meine Tochter mit zwanzig Jahren gesehen. Fünf Jahre später war sie tot. Ich wusste nicht einmal, wie sie euch genannt hätte. Ich bereue das zutiefst. So wie die Tatsache, dass ich euch nie von Emmies Leben außerhalb von Kleve erzählt habe. Ich habe befürchtet, dass ihr mich hassen würdet, so wie Emmie mich gehasst hat. Und das hätte ich nicht ertragen. Ich wollte euch nicht auch noch verlieren. Ich hätte es nicht ertragen, wenn ihr schlecht von mir gedacht und mich gehasst hättet wie eure Mutter. Also habe ich das getan, was ich bei Emmie nicht geschafft habe: Ich habe euch in eurer Kunst unterstützt, weil ich wusste, dass Emmie es geliebt hätte. Wie sehr sie euch geliebt hätte.

Ich hatte nicht gewusst, was ich darauf sagen sollte. Da war Wut in mir. Immer noch. Aber da war auch Erschöpfung und Frust und Einsamkeit und so unendlich viel Trauer.

An Wut festzuhalten, bewirkte nur, dass man sich selbst verbrannte.

Und ich wollte nicht verbrennen.

Also hatte ich mir die Fotos von Isa zeigen lassen, die sie in Dublin gefunden hatte. Eine Serie von Selbstporträts, die Emma aussehen ließ, als wäre sie ein Model.

»Sie ist so ausdrucksstark«, hatte meine Schwester kommentiert. »Oder?«

»Ja«, hatte ich geantwortet.

Doch alles, was ich denken konnte, als ich nach dem völlig vorhersehbaren Ende des Films in meinem alten Kinderbett lag, war Nein . Laut schrie die Stimme in meinem Kopf, die sich seit der Fertigstellung meines Manuskripts nicht mehr gemeldet hatte. Ich entsperrte mein Handy und tippte, was ich tippen musste.

Nein, nein, nein.

Die Stimme in mir schrie weiter und ich wollte mit ihr schreien, allerdings hörte ich Isa im Zimmer nebenan summen und Oma gegenüber leise schnarchen. Jetzt zu schreien, wäre verrückt gewesen. Also schwieg und schrieb ich nur. Wie immer.

Es war kein Ende. Es war nicht einmal ein Anfang. Es war nur irgendetwas zwischen Verzeihen und Weitermachen und dem Versuch, besser zu sein. Besser als damals.