Kapitel

Lucy

WUT

nur eine Ersatzemotion

Ich wollte es nicht lesen.

Seit Stunden lenkte ich mich ab, war extra lange in der Bib geblieben, hatte Kommentare unter unseren Videos beantwortet und Tillie per Sprachnachricht gefragt, wieso Jonathan sie so hasste.

»Erzähl ich dir später«, hatte sie in einer Memo geantwortet.

Das war zwei Stunden her, inzwischen war es kurz vor drei. Ich lag auf meinem Bett und versuchte, mich mit einem Buch abzulenken. Doch es brachte nichts. Ich las Worte, ohne sie zu verstehen. Ich dachte die ganze Zeit nur an Gregor.

Eine halbe Stunde lang versuchte ich noch, dagegen anzukämpfen, probierte es erneut mit dem Buch und sogar mit Meditation – alles vergebens.

Ich fühlte mich so unendlich heuchlerisch, als ich meinen Laptop schließlich hochfuhr, nach der Mail suchte und den Anhang öffnete. Bilder von dieser Nacht flackerten vor meinem inneren Auge auf. Er, ich, sein Bett, unser Stöhnen. Die Liebe, die so greifbar gewesen war, kurz bevor ich das Doc zum ersten Mal geöffnet hatte. Dann setzte ich mich auf und las.

Und las.

Und las.

Und las.

Ich wollte aufhören, weil ich es hasste, wie gut er schrieb. Seine Worte sogen mich ein, sie hatten Tentakel, griffen nach mir und ließen mich nicht wieder los. Sie waren Wellen und Tsunamis. Kein Wunder, dass man so gut in Gregor ertrinken konnte. Ich las weiter.

Und weiter.

Und weiter.

Und weiter.

Bis ich Seite zweihundertachtundvierzig erreichte, wo das Dokument mitten im Kapitel endete. Zwei, drei Momente starrte ich die angefangene Seite an. Dann klappte ich meinen Laptop zu, als wäre es ein Buch.

»Scheiße«, fluchte ich und spürte, wie mir Tränen über die Wangen rannen. »Scheiße, scheiße, scheiße.«

Ratlos raufte ich mir das Haar, während ich versuchte, die Informationen zusammenzusetzen. Im Grunde hatte ich immer noch nicht begriffen, ob es sich um eine Autobiografie oder um einen Roman handelte. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem. Und es war gut. Alles clean und packend, ganz lakonisch, genauso, wie es Buchpreisjurys mochten. Gregors Text war durch und durch Gregor. Und alles, von dem ich gedacht hätte, dass er es nicht wäre.

Gregor hatte mich nicht ausgenutzt. Sein Buch war keine wissenschaftliche Arbeit mit Fakten, Informationen und gewagten Interpretationen, so wie ich sie über Emma Visser zusammengesucht hatte. In Wahrheit hatte Gregor rein gar nichts von dem benutzt, was ich recherchiert hatte. Seine Geschichte war einfach seine Geschichte.

Dass ausgerechnet ich über Emma Visser geschrieben hatte, war ein Zufall gewesen.

Ich war zwanzig und hatte noch nie ein Mädchen geküsst. Später würde ich sie küssen. Ich bin in sie verliebt. Mit pochendem Herzen erhob ich mich und griff nach meinem Handy. Ich dachte nicht nach, als ich ihm schrieb.

Wir müssen reden

Hast du Zeit

Jetzt?

Doch natürlich antwortete er mir nicht. Warten – das wäre jetzt die einzig richtige Entscheidung. Und meine Generation war darin unantastbarer Weltmeister. Früher hatten wir auf Aldi-Flatrate-SMS gewartet, dann auf Facebook-Chatnachrichten, WhatsApp- und Instagram-Benachrichtigungen. Wir starrten auf rechteckige Handys und warteten auf rechteckige Benachrichtigungen. Warteten und warteten und warteten.

Doch gerade konnte ich nicht warten. Ich musste raus und laufen. Nicht um ein Trauma loszuwerden, sondern um eine verpasste Möglichkeit zu verhindern.

Ich wusste nicht, wer ich war, als ich an diesem stockfinsteren Januarabend unangekündigt zu ihm lief. Ich marschierte nicht nur über Grenzen, ich riss sie ein. Nach allem. Ich passierte Dönerbuden und Kioske, rauchende Jugendliche und schimpfende Väter. Ein Mädchen klackerte für kurze Zeit auf ihren Ankle Boots neben mir her, wobei sie auf ihrem Handy scrollte. Als ich sie überholte, erkannte ich, dass sie TikTok geöffnet hatte. Jeden Moment könnte ich auf ihrer For You Page erscheinen und sie würde nicht einmal wissen, dass ich diejenige wäre. Ich hechtete an ihr vorbei.

Wenig später stand ich vor seiner Tür. Endlich. Ich betätigte das Klingelschild mit Gregors Nachnamen, während es unter meinem Finger pochte. Denn ich war wütend. So, so wütend.

Aber Wut war stets nur eine Ersatzemotion. Darunter, tief, tief, tief in mir, klafften meine blauen Herznarben auf und aus allen Seiten quoll sie hervor: die Liebe.