IV

Drei Abende sah ich in der Dämmerung flussabwärts vor mir den Rauch eines Feuers. Nahrung lag für mich auf einem flachen Stein oder einem Baumstamm bereit. Am ersten Abend waren es Forellen und Flusskrebse. Das nächste Mal aß ich eine Art Wühlmaus, glaube ich. Das Tier hatte ein ähnliches Skelett wie die verwesten Viecher, die ich aus den Stapeln alter Zeitungen und Gartenzeitschriften in Mutters Keller exhumiert hatte. Am dritten Abend war es eine gesäuberte und halbierte Katze. Der große Kopf war noch dran und hatte eine nummerierte gelbe Marke in einem Ohr, und ich bin mir fast sicher, dass es der Luchs war, der mich verfolgt hatte. Ich glaube, die Zahl war 147, wenn ich mich recht erinnere, aber mein Leben würde ich nicht darauf verwetten. Ich habe ein gutes Gedächtnis, aber das Ganze ist ja schon eine Weile her.

Es gab nie genug zu essen. Ich hatte einen gewaltigen Appetit, trotz des erbärmlich langsamen Tempos, mit dem ich unterwegs war. Der Maskierte hatte gesagt, ich würde ihn nicht wiedersehen, und er hatte sich auch tatsächlich nicht mehr gezeigt, seit er mir erklärt hatte, wie ich zum Highway käme. Dennoch behielt ich jeden Abend den Wald im Auge, während ich aß, was er mir hingelegt hatte. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass er mich die ganze Zeit beobachtete.

Eines Tages sah ich einen blassen Fuchs, der irgendetwas durch das Gras jagte. Ich musste an einen Hund denken, den wir hatten, als ich klein war. Es war ein freundlicher kleiner Hund mit einem fröhlichen Gesicht. Doch schon bald war der Hund alt, und er wurde sehr krank, und ich hörte, wie Vater zu meinem Bruder sagte, der Hund habe ausgedient. Davy hatte den kleinen Hund sehr gern. Pepper hieß er. Ich dachte daran, wie sehr wir diesen Hund geliebt hatten, als er immer spielen wollte und es ihm gut ging, doch als er blind wurde, überall dagegenlief, die Hinterbeine nicht mehr richtig bewegen konnte und sich hinter den Möbeln erleichterte, hatten wir kein Problem damit, auf ihn zu verzichten. Vater ging mit ihm auf die Weide und erschoss ihn. Ich habe viel Gelegenheit gehabt, darüber nachzudenken; darüber, dass unsere Liebe und Zuneigung immer an Bedingungen geknüpft ist.

Am vierten Tag kam ich zu einer verlockenden Sandbank im Fluss, deren rötlicher Sand von flachem Wasser überspült wurde. Inzwischen roch ich überhaupt nicht mehr wie ich selbst. Oder ich roch mehr wie ich selbst, als ich es in der zivilisierten Welt der Seifen und Waschmittel jemals getan hatte. Wie auch immer, die Sonne stand hoch am Himmel, und es war heiß, und ich dachte, warum nicht mich abkühlen und noch ein Bad nehmen? Ich hatte das seit Tagen nicht mehr getan, aus Scham, falls der Maskierte mich wirklich noch beobachtete. Ich hielt am Flussufer nach ihm Ausschau. Aber da waren nur die Berge und der ewige Schnee, der von ihren Gipfeln geweht wird, das Tal, das schöne Gras. Das Tal verengte sich, und dichte Sträucher mit gelben Blüten wuchsen auf den Feldern, deren Ränder mit Tannen und Kiefern bestanden waren. Es war wunderschön.

Ich nahm mir Terrys Jacke und den Pullover mit dem Zickzackmuster von der Taille, wo ich sie an den Ärmeln festgeknotet hatte, als es warm genug geworden war, und ich knöpfte meine Bluse auf. Vielleicht schaute mir der Maskierte gerade in dem Moment zu. Trotzdem zog ich mich aus, und dann stand ich da in meiner erbärmlichen Unterwäsche. Die Löcher in meinen Strümpfen gaben meiner Haut lustige Formen. Seit ich alt geworden war, war mein Körper weich und unförmig wie die Holzäpfel am Fuße meines Holzapfelbaums im Garten hinter unserem Haus. Wie die meisten Frauen in meinem Alter trug ich betont praktische Unterwäsche. Die Hersteller nennen diese Farbe gerne hautfarben, auch wenn ich keine Ahnung habe, wessen Haut sie dabei im Sinn hatten. Vielleicht gibt es irgendwo da draußen ja einen bemitleidenswerten Menschen, dessen Haut hautfarben ist, aber ich halte das doch für recht unwahrscheinlich. Ich habe noch nie dunkle Unterwäsche getragen, und ich habe auch nie geglaubt, was bekanntlich viele glauben, dass wir in erster Linie dazu da sind, dem Sexualtrieb der Männer zu dienen.

Als ich ein Mädchen war, ich kann nicht älter als elf gewesen sein, fuhren Mutter und Vater mit mir und Davy öfter in ein Schwimmbad in Amarillo. Es gab eine kleine Umkleidekabine, in der es nach Tensiden und Chlor roch, der Fußboden war glatt und felsig wie im Inneren einer Höhle. Hin und wieder beobachtete mich ein glatzköpfiger Mann mit Sonnenbrand durch ein kleines ovales Fenster oben in der Wand. Entweder war er ein Riese, oder er kletterte auf einen Stuhl, um durch das Fenster zu schauen. Man sah in dem beschlagenen kleinen ovalen Fenster nur den Scheitel seines rosa Kopfes und seine wulstigen Augen. Ich schrie nicht und erzählte auch niemandem davon. Seither habe ich mich immer mal wieder gefragt, warum ich mich damals entkleidete, obwohl ich wusste, dass dieser Mann mich beobachtete. Ich nehme an, fast jeder möchte bewundert werden, und das oft sogar unter ganz unschönen Umständen. Vielleicht ist das die größte Schwäche des Menschen.

Ich zog meinen Büstenhalter aus, rollte meine Strümpfe auf und legte meine gefaltete Kleidung ins Gras. Ich fühlte mich eigenartig leicht und drehte mich um mich selbst, vollkommen nackt in der Natur. Ich war schon immer schlank und habe stets, so gut ich konnte, auf meine Figur geachtet. Aber da draußen im Bitterroot war ich so dünn geworden, dass ich kaum meinen Schatten erkannte.

Ich sah an mir hinunter. Ich will hier in diesem Bericht gestehen, dass ich als Mädchen oft hochmütige, wenig bescheidene Gedanken hatte. Mittlerweile weiß ich, dass viele Psychologen der Ansicht sind, dies sei bei einer heranwachsenden Frau ganz natürlich. Ich habe mich nie sonderlich mit Psychologie beschäftigt, bis sich Leute in den letzten Jahren auf einmal für meine Psyche interessierten. Es ist schon kurios, wie die Leute versuchen, einander mithilfe einer Wissenschaft zu verstehen, die mir komplett konfus erscheint und kaum besser als die Phrenologie, die zu Zeiten meiner Eltern beliebt war. Ein Geist, der sich bemüht, einen anderen Geist zu verstehen, das ist, als versuche man, einen Hammer mit einem anderen Hammer zu reparieren. Nun, die Psychologie mag der Poesie nahestehen, ist aber weniger hilfreich. Besonders, wenn es um Sex geht.

Heutzutage dürfen sich Frauen ihre sexuellen Wünsche erfüllen. Als ich jung war, war die bloße Existenz weiblicher Sexualität ein schmutziges kleines Geheimnis, das jeder für sich behielt. Ich weiß noch, wie ich mich danach sehnte, dass Männer mich zur Kenntnis nahmen, wenn Mutter mit mir und Davy die Hauptstraße hinunter zum alten Kirchengebäude der First Methodist Church ging. Das war, noch bevor die Kirche abgerissen und eine neue in der Washburn Street gebaut wurde. Ich fand die alte schöner. Wir trugen unsere Sonntagskleider. Ich hatte ein blaues Baumwollkleid an, das mir unheimlich gut stand, wie ich fand, weil es zu meiner Augenfarbe passte. Als ich vierzehn Jahre alt war, nahm Mutter mich eines Sonntags beiseite und sagte mir, ich solle bitte nicht mehr so gehen, wie ich immer gegangen war, und die Männer bitte nicht mehr so anschauen, wie ich sie immer angeschaut hatte. Sie nannte mich eine kleine Feuerameise und sagte, sie sei überzeugt, dass ich ihr eines Tages mächtig Ärger machen würde. In gewisser Hinsicht hatte sie gar nicht so unrecht, aber ich stellte nicht halb so viel an wie Phyllis Stower, und die führte später ein ganz ähnliches Leben wie ich, außer dass Gott ihr vier Kinder schenkte, die alle noch gesund und munter sind, während ich diese Zeilen schreibe, und selbst schon wieder Kinder haben.

Ich betrat die Sandbank. Das Wasser ging mir bis zu den Knöcheln. Es war mächtig kalt, aber ich war entschlossen, dennoch ein Bad zu nehmen. Ich watete weiter hinaus, bis es mir an die Knie reichte. Wenn man älter wird, lässt der Gleichgewichtssinn nach, und ich hatte nicht damit gerechnet, dass die Strömung so stark war. Ich war so überrumpelt, dass ich stürzte und unterging!

In der plötzlichen Kälte zog sich mein ganzer Körper zusammen, als hätte mich jemand mit einem elektrischen Viehtreiber berührt. Ich versuchte verzweifelt, mit Händen und Füßen am felsigen Flussbett Halt zu finden, doch plötzlich waren da keine Steine mehr, an denen ich mich hätte festhalten können. Ich kämpfte mich an die Oberfläche und hielt den Kopf über Wasser. Die Bäume und das Flussufer hatten sich verändert, und alles raste jetzt an mir vorbei. Die Stelle, an der ich meine Kleider hingelegt hatte, konnte ich schon nicht mehr sehen.

Ich wollte um Hilfe rufen, aber dazu war es zu kalt, und mein Mund war voll Wasser. Ich schluckte und spuckte und hustete wie eine Verrückte. Hilflos der Strömung ausgeliefert, hielt ich den Atem an, bevor es mich wieder unter Wasser zog. Meine Lunge und meine Arme leisteten Schwerstarbeit. Ich hatte enorme Angst. Kurz bevor ich wieder unterging, sah ich eine Gestalt am Flussufer entlanglaufen. Ach du meine Güte! Das waren die Worte, die mir durch den Kopf gingen.

Etwas krachte vor mir ins Wasser. Ich wischte mir die Augen, so gut ich konnte, und erkannte einen großen, halb verrotteten Baumstamm. Eine tiefe Stimme brüllte, ich solle mich festhalten. Ich schwamm mit letzter Kraft darauf zu und griff danach. Es gelang mir in letzter Sekunde! Mit einem Mal raste das Wasser an mir vorbei. Ich hatte irgendein Insekt aufgescheucht, vielleicht einen Hundertfüßer, der im Baumstamm wohnte, und das Biest stach mich genau zwischen die Finger. Aber ich ließ nicht los, obwohl es fürchterlich wehtat.

Als ich das Wasser aus den Augen geblinzelt hatte, sah ich den Maskierten am Ufer stehen. Er steckte mit den Fersen im Sand und zog an dem Baumstamm. Grundgütiger, was für ein Anblick! Je näher ich kam, desto lauter hörte ich über dem Tosen des Wassers sein Schnaufen und Prusten. Es klang, wie Mr Waldrips Ranchverwalter Joe Flud immer grunzte, wenn er eine kalbende Kuh in das Metallgestell bugsieren musste.

Schon war ich ihm nah genug, um den Aufdruck mit den Pfannkuchen auf der weißen Maske zu erkennen. Auf seinem Mund bildete der Stoff ein feuchtes Oval und bewegte sich im Rhythmus seines Atems. Er ließ das Ende des Baumstamms fallen und zog mich an den Achseln aus dem Wasser. Ich lag flach auf dem Rücken am Ufer und rang nach Luft. Mir war kalt, und ich war nackt und nass wie ein Täufling, aber ich war am Leben.

Ich bin immer wieder gefragt worden, was mir in dem Moment, als das kleine Flugzeug über dem Bitterroot Forest abstürzte, durch den Kopf ging. Es sind immer die jungen Leute, die mich das fragen. Und ich muss sie jedes Mal enttäuschen. Ich kann mich nicht erinnern, auch nur einen klaren Gedanken gehabt zu haben. Mein Verstand war so leer wie eine von Mr Waldrips Colaflaschen bei uns hinten auf der Veranda, auf denen immer der Wind flötete.

Ich kann Ihnen jedoch noch genau sagen, was ich dachte, als ich in diesem Fluss dort beinahe ertrank. Ich dachte an Mr Waldrip. Ich wollte, dass er das Letzte war, woran ich dachte, bevor ich nichts mehr würde denken können, also wiederholte ich im Kopf seinen Namen, immer und immer wieder, bis schließlich klar war, dass ich überleben würde.

Der Himmel über mir war blau und wolkenlos. Der Mann beugte sich über mich. Die feuchte Maske schmiegte sich an sein Gesicht und offenbarte die Form seines bärtigen Kinns. Ich war mir sicher, dass ich in seinen smaragdgrünen Augen mein Spiegelbild sah, das Bild einer rosafarbenen, nackten alten Frau. Da er mich gerettet hatte, wusste ich nun auch, dass er mich dabei beobachtet hatte, wie ich mich ausgezogen hatte, um ein Bad zu nehmen.

Alles okay mit Ihnen?, fragte er mich.

Ich bejahte.

Der Mann deckte mich mit seiner Daunenjacke zu und machte Feuer. Es war später Nachmittag, und der Wind wehte. Ich setzte mich auf und rieb mir die Stelle, an der mich das Tierchen in die Hand gestochen hatte. Die Flammen wehten seitwärts, versengten das hohe Ufergras und verscheuchten die Mücken. Am helllichten Tag sieht ein Feuer ziemlich merkwürdig aus, ja geradezu fehl am Platz.

Der Mann ging flussaufwärts, um meine Sachen zu holen – meine Handtasche, das Beil, die Feldflasche und den Kochtopf, Terrys Jacke und meine schmutzigen Kleider und Mr Waldrips Stiefel. Er verschwand hinter einem kleinen Hügel aus Steinen und Gras. Ich wartete. Ich steckte meine Hände in die Taschen seiner Jacke, um sie vor dem kalten Wind zu schützen, und in einer der Taschen fand ich einen kleinen Schlüssel. Er sah aus, als wäre er antik. In der anderen entdeckte ich etwas, das ich zunächst für ein Stofftaschentuch hielt, das sich aber bei näherem Hinsehen als Damenschlüpfer entpuppte. Er war aus blauer Baumwolle und hatte nichts Besonderes an sich, außer dass er sauber zu sein schien. Ich tat ihn zurück und dachte damals nicht weiter darüber nach.

Wie ich dort so saß, nackt in die Jacke dieses Mannes gehüllt, musste ich daran denken, wie Vater uns manchmal zum Schwimmen am Greenbelt Lake mitnahm. Ich saß am Ufer, klein und in ein Handtuch gewickelt, und ließ die texanische Sonne mein geflochtenes Haar trocknen. Vater war kein sonderlich religiöser Mann. Er ging nur Mutter und den Nachbarn zuliebe in die Kirche. Er wuchs in Colorado auf, bei der fast blinden Grandma Blackmore, einer wenig gebildeten Goldwäscherin. Ihre Vergangenheit war für ihn ein wunderbares Mysterium. Er erzählte ständig ganz erstaunliche Geschichten; dass sie einst in Mitteleuropa mit einem Hofnarren ohne Zunge verheiratet gewesen war und auf den Basaren von Marrakesch versteinerte Affenherzen feilgeboten hatte. Mein erzählerisches Talent habe ich sicherlich von seinem Zweig der Familie. Wie dem auch sei: Er nahm mich und Davy mit zum See, und wir gingen dort schwimmen, nackt wie Neugeborene. Als Mutter davon erfuhr, bereitete sie diesen Ausflügen ein Ende. Sie war in der Lage, meinen Vater allein mit der Art und Weise einzuschüchtern, wie sie seinen Namen sagte. Das konnte sie auf tausend verschiedene Arten. Letztendlich tat er überhaupt nur, was sie ihm gestattete.

Nach etwas mehr als einer halben Stunde kehrte der Mann zurück. Er trug Terrys Jacke und hatte meine Handtasche über dem Arm. Er legte meine Handtasche, meine ordentlich gestapelte Kleidung und Terrys Jacke neben mich. Er sagte kein Wort und nahm auf der anderen Seite des Feuers Platz und wandte sich von mir ab.

Ich dankte ihm, dass er mir schon wieder geholfen hatte. Ich mache Ihnen ganz schön viel Ärger, sagte ich.

Er gab keine Antwort.

Ich stand auf und ließ seine Jacke zu Boden fallen und war wieder nackt. Die Sonne ging unter, und der große Berg hüllte uns in seinen grenzenlosen Schatten. Alles, was vom Tag übrig war, leuchtete hinter dem Gipfel in einer königlichen Farbe. Der Schein des Feuers war für meinen nackten Körper wenig schmeichelhaft. Ich machte mich daran, mich anzuziehen. Meine Strümpfe waren so zerfetzt, dass ich sie zusammenrollte und in meiner Handtasche verstaute. Ich kämmte mir mit den Fingern das Haar zurück und setzte mich wieder ans Feuer.

Ich sagte dem Mann, ich sei nun angezogen und er könne sich wieder umdrehen. Doch sein maskiertes Gesicht blieb auf die weite felsige Landschaft gerichtet.

Sie werden heute nicht weiter vorankommen, sagte er schließlich. Sie sollten heute Nacht hierbleiben.

Ich wickelte mich in Terrys Jacke und betrachtete den Mann durch die peitschenden Flammen hindurch. Bleiben Sie bei mir?

Ich kann hier nicht bleiben, sagte er.

Ich fragte ihn, warum, aber er antwortete nicht.

Hat Jesus Sie gesandt?, fragte ich ihn.

Nein, sagte er.

Mein Name ist Cloris Waldrip, sagte ich. Wie heißen Sie?

Der Mann richtete seine Maske und stand auf. Er hielt mir eine Tafel Schokolade in Silberfolie hin und sagte, das müsse als Abendessen reichen. Ich nahm die Schokolade und wollte seine Hand berühren, aber er wich zurück wie ein Hund mit schlechten Erfahrungen. Ich bat ihn um Entschuldigung.

Morgen kommen Sie in den Wald, sagte er. Da finden Sie das Schlüsselloch, von dem ich Ihnen erzählt habe. Gleich morgens werden Sie es sehen. Der Mann zeigte in die Dunkelheit, dorthin, wo der Wald begann. Direkt da. Bleiben Sie auf dem Wanderpfad. Da ist ein Schild, wissen Sie noch? Der Weg führt direkt nach Osten. Nehmen Sie sich vor den Berglöwen in Acht. Und vor Schlangen. Sie können den Highway in knapp einer Woche erreichen, wenn Sie nicht zu viele Zwischenstopps einlegen.

Kommen Sie doch mit, bat ich ihn und sagte: Ich glaube nicht, dass ich es ohne Sie schaffe.

Ma’am, sagte er, es tut mir wirklich leid. Und dann nahm er seine Jacke und machte sich auf den Weg in den dunklen Wald.

Ich war so müde, dass ich sofort einschlief, und schon war der Morgen da. Das Feuer war ausgegangen. Nach dem Mann schaute ich mich gar nicht erst um. Auf dem Boden lagen eine kleine Schachtel Haferflocken und vier gesalzene Fische, die in Zeitungspapier eingewickelt waren, auf dem man die Spielzeiten für ein kleines Kino in Idaho lesen konnte. An den Namen der Stadt kann ich mich nicht erinnern. Daneben lagen sechs stangenförmige Feueranzünder und ein Feuerzeug mit einer aufgedruckten Comicfigur, einem Saxofon spielenden Schwein. Ich richtete mich auf, stopfte die Schachtel mit den Haferflocken in meine Handtasche zu Mr Waldrips Stiefel, in dem das Beil steckte, und verstaute die Feueranzünder und das Feuerzeug und die kleine rote Feldflasche in den Taschen von Terrys Jacke.

Natürlich war ich neugierig, was es mit dem Maskierten auf sich hatte. Meines Wissens maskierten sich in der Regel nur Verbrecher, wenn sie gerade ein Verbrechen begehen. Ich hatte noch nie davon gehört, dass jemand sein Gesicht verbirgt, wenn er selbstlos und in Nächstenliebe handelt. Ich kam nicht darauf, so albern das scheint, dass der Mann vielleicht trotzdem ein Krimineller war.

Nach meiner Zählung befand ich mich nun seit einundzwanzig Tagen in der Wildnis des Bitterroot Forest. Ich gewöhnte mich mittlerweile daran, Tag und Nacht im Freien zu sein. Aber Grundgütiger, ich hatte schreckliche Schmerzen, und ich war müde wie ein Murmeltier. Ich wollte endlich nach Hause. Also füllte ich die rote Feldflasche, die mir der Maskierte gegeben hatte, und fasste mir ein Herz und blickte auf die Berge und das wilde Land, das mich umgab. Ich war wieder ein wenig zuversichtlicher, als ich auf den dichten, dunklen Wald zuging, um ihn an genau der Stelle zu betreten, die der Mann mir beschrieben hatte. Der Stelle, die aussah wie ein Schlüsselloch.

Wie ich später erfuhr, fand ziemlich genau zu dieser Zeit in der Kirche in Clarendon eine Andacht für mich und Mr Waldrip statt. Man zündete Kerzen für uns an. Wie ich hörte, erschien fast die gesamte Gemeinde. Sogar Mrs Holden, die ihre Beine nicht mehr benutzen konnte und die gut und gerne 250 Pfund auf die Waage brachte und von ihren vier Enkeln auf einem großen Tuch getragen werden musste, als trügen sie sie zu ihrer eigenen Beerdigung. Die Andacht wurde an einem warmen Mittwochabend auf dem säuberlich gemähten Rasen des örtlichen Gerichtsgebäudes abgehalten, und gerade als Pastor Bill mit dem Fürbittengebet für die Verstorbenen begann, fuhr ein außer Kontrolle geratener Kleintransporter voll betrunkener Rowdys in das Schaufenster der Apotheke auf der anderen Straßenseite. Dem Herrn sei’s gedankt, dass dabei niemand verletzt wurde, aber manche sahen in dem Vorfall eine Bestätigung dafür, dass wir nicht zurückkommen würden.

Ich drehte mich um und schaute noch einmal zu dem großen Berg hinüber, auf dem das Flugzeug zerschellt war. Ich dachte an den Aufprall und an das Geräusch, das kein Geräusch war. Ich dachte an den armen Mr Waldrip, der noch immer im Baum hing, und stellte mir vor, wie rachsüchtige Vögel an ihm herumpickten, als hätte ihnen jemand verraten, dass Mr Waldrip, seit er hatte laufen können, ihre Artgenossen gejagt hatte. Ich warf einen allerletzten Blick auf diesen abscheulichen Berg, und dann ging ich durch das Schlüsselloch in den dunklen Wald. Was mich dort erwartete, werde ich wohl niemals vergessen, so gerne ich es täte.

Die Sonne ging gerade auf, als Lewis sich den Rangerhut unter den Arm klemmte und an der weißen Hütte läutete.

Bloor öffnete die Tür. Danke, dass du sie wieder abholst, sagte er.

Mehr als eine Woche war vergangen, seit Jill auf dem Berg angekommen war. Seither holte Lewis sie jeden Morgen auf ihrem Weg zur Bergstation ab, und unterwegs sagten sie kein Wort und lauschten dem Rauschen der Heizung.

Liegt ja auf meinem Weg, sagte Lewis.

Er beugte sich vor und küsste sie auf die Wange. Sie ist hinten, sagte er. Kommt heute Morgen nicht so recht in die Gänge.

Er drückte Lewis eine Tasse Kaffee in die Hand, und sie ging durch die Glasschiebetür und sah das Mädchen am Geländer lehnen. Jill rauchte und starrte in die Dunkelheit. Lewis ging zu ihr und folgte ihrem Blick. Ein abgemagertes Eichhörnchen saß auf dem Ast einer Kiefer und drehte ein zappelndes Knäuel aus feuchtem Fell in den Pfoten.

Es frisst sein Junges, sagte Jill. Wie Ugolino.

Das Junge quietschte und knackte, und das Eichhörnchen fuhr mit entblößten Zähnen über den kleinen Schädel und zog das Fleisch ab wie mit einem Hobel. Lewis trank einen Schluck Kaffee, verzog das Gesicht und klaubte sich einen abgeschnittenen Zehennagel von der Zunge. Sie spuckte über das Geländer, schnippte den Nagel mit dem Finger fort und schaute hinter sich zum Fenster. Dahinter stand Bloor und beobachtete die beiden.

Lewis wandte sich wieder dem Mädchen zu und hob den Rangerhut zum rot und blau leuchtenden Himmel und sagte, sie sollten langsam los, sie müssten noch Ranger Paulson und Pete einsammeln, und heute hätten sie eine ganz schöne Strecke vor sich.

Jill blies einen Ring aus Rauch in die Luft. Sie nickte in Richtung Whirlpool. Ich habe euch gehört.

Was hast du gehört?

Sie und meinen Vater, wie ihr es im Whirlpool getrieben habt.

Ich weiß nicht, was du meinst.

Letzte Woche, an dem Abend, als ich hier ankam. Ich habe gehört, wie ihr Sex hattet.

Lewis sah zu, wie das Eichhörnchen das Neugeborene bearbeitete, als wäre es eine Nuss. Vielleicht hast du irgendwelche gottverdammten Tiere gehört.

Ich habe einen Jungen überredet, es mit mir zu treiben, und hinterher hat er in der Schule herumerzählt, dass meine Vagina total ausgeleiert ist.

Lewis schüttete den Inhalt ihres Bechers über das Geländer. Jungs können echt ätzend sein.

Männer, die tun, wovon sie meinen, dass Männer das halt tun müssten, die sollte man alle vergasen. Und Frauen, die tun, wovon sie meinen, dass Frauen das tun müssten, die sollte man auch vergasen.

Vielleicht brauchen wir ja die Leute, die wir nicht mögen. Aus irgendeinem Grund.

Vielleicht, sagte Jill und schlug vor sich ins Leere. So, wie wir Mücken für das Ökosystem brauchen. Wenn alle Leute, die nerven, weg sind, geht vielleicht die Gesellschaft zugrunde.

Lewis drehte sich wieder zum Fenster. Bloor stand immer noch hinter dem Glas im Schatten und beobachtete sie. Er lächelte und hob eine Kreidehand.

Ich glaub langsam, dein Vater traut dir zu wenig zu, sagte Lewis.

Als meine Mom krank war, konnte sie sich nicht bewegen. Sie konnte nicht einmal reden. Und trotzdem hob er sie regelmäßig aus dem Rollstuhl und trieb es mit ihr auf dem Teppichboden im Wohnzimmer. Bis zu der Woche, als sie starb.

Vielleicht ist das ja romantisch.

Nein, ist es nicht, sagte Jill.

Lewis beobachtete, wie das Mädchen an seiner Zigarette saugte. Rauch quoll aus einer perfekt geformten Nase, und das Licht spielte auf dem Muster aus Narben auf seinem Gesicht.

Das Mädchen sagte: Ich wäre gerne jemand, der immer wieder was anderes macht, bevor er stirbt. Vielleicht heirate ich einen Mann in Tokio, der mich betrügt, wenn er ehrenamtlich für UNICEF in Afrika arbeitet. Vielleicht bin ich Bibliothekarin und habe eine Geliebte, die aus dem Iran stammt. Sie ist Hotdog-Verkäuferin im Central Park. Vielleicht habe ich ein Schuhgeschäft, das nach einem Wasserrohrbruch verschimmelt und geschlossen werden muss, und dann werde ich Sozialarbeiterin in einem Obdachlosenheim. Vielleicht sitze ich im Gefängnis, weil ich mit meinem Sohn in Neufundland illegale Glücksspiele um Fisch veranstaltet habe. Hauptsache, es ist was anderes als das hier und alles andere.

Meinst du nicht, du solltest erst mal die Highschool beenden?

Jill drückte die Zigarette auf dem Geländer aus und wandte sich Lewis zu. Sie könnten mich ruhig ernst nehmen.

Vielleicht bereust du’s später, wenn du die Schule nicht beendest.

Bereuen Sie irgendwas?

Kann gut sein.

Glauben Sie, die alte Dame da draußen, wenn die noch am Leben ist, die bereut irgendwas?

Du kannst sie ja fragen, wenn wir sie finden, sagte Lewis.

Wenn sie beim Absturz nicht gestorben ist, hat sie sich inzwischen wahrscheinlich selbst umgebracht.

Lewis schaute wieder hinüber zur Kiefer. Das Eichhörnchen war fort.

Sie sah in den Rückspiegel. Jill schlief auf dem Rücksitz, gegen das Fenster gekauert. Der alte Hund lag zusammengerollt zu ihren Füßen. Pete, die Haube über dem verfilzten roten Haar, saß neben dem Mädchen und stickte. Lewis stellte sich vor, er wäre eine hässliche holländische Bäuerin aus der Zeit vor der Entdeckung Amerikas. In den drei Stunden, die sie bereits unterwegs waren, hatte er ab und zu die Videokamera in die Hand genommen und Jill gefilmt und den Stickrahmen und den Hund und den Nacken von Claude, der auf dem Beifahrersitz saß. Einmal hatte er die Kamera auf sie gerichtet, als sie Merlot aus der Thermosflasche trank.

Lewis fuhr noch knapp eine Stunde weiter über immer schlechter werdende Straßen und durch immer dunkler werdende Wälder, und sie musste immer wieder anhalten und einen heruntergefallenen Ast von der Fahrbahn räumen, und danach schlich sie sich an die Heckklappe des Wagoneer und füllte heimlich ihre Thermosflasche aus einer der Weinflaschen nach, die sie auf der Ladefläche versteckte.

Jill wachte auf, als der Motor erstarb und die anderen ausstiegen und die Türen zuschlugen. Sie blinzelte Lewis an, als hätte sie vergessen, wer sie war, und fragte, ob sie da seien.

Lewis verkündete, sie würden nun den Pfad entlanggehen und den Wald durchkämmen, bis sie zum Black Elk Creek kämen. Dort würden sie noch etwa eine Meile weiterlaufen, um dann vor Einbruch der Dunkelheit umzukehren, falls sie Cloris Waldrip bis dahin nicht gefunden hätten. Sie vermute, Cloris halte sich am Fluss auf, sagte sie.

Sie händigte Jill und Pete reflektierende orangefarbene Westen aus, und das Team folgte einem überwucherten Pfad, der von halb verfaulten blassroten Holzpfählen markiert war. Ringsherum riefen sie Cloris, Cloris, Cloris, Mrs Waldrip. Claude markierte ihren Weg mit einer Machete an den Kiefern, und der alte Hund wackelte hinter ihm her. Sie gingen hinunter in Richtung Tal wie Pilger im Gebet, und Pete hatte die Videokamera um den Hals hängen, er keuchte und blieb stehen, hielt sich seinen verformten Brustkorb und richtete seine Haube.

Pass auf, dass du nicht den Anschluss verlierst, Petey, sagte Claude. Wir würden dich niemals wiederfinden.

Sie ließen den Wald hinter sich und kamen ins weite Grasland im Tal, in dem nur noch vereinzelte windschiefe Kiefern standen. Ein Stück vor ihnen befand sich der Fluss. Sie verteilten sich, und Pete und Claude gingen zusammen vor. Der Hund trottete hinter ihnen her. Aasfresser zeigten sich auf den Gipfeln.

Wie findest du’s draußen?, fragte Lewis.

Sie sollten mal Tokio sehen, sagte Jill.

Lewis zog die Schultergurte ihres Rucksacks fester und spuckte ins Gras. Warst du schon mal da?

Nein.

Woher weißt du das dann?

Ich hab Bilder gesehen, in einer Zeitschrift.

Findest du es nicht schöner in der Natur?

Tokio ist auch Natur, sagte das Mädchen.

Lewis fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. Vielleicht hast du recht. Vielleicht ist es gar nicht so unterschiedlich.

Sie gingen weiter, und die Gruppe kam an den Fluss und hielt an. Jill setzte sich auf einen Felsen und zündete sich eine Zigarette an.

Aber lass nicht die gottverdammte Kippe hier draußen liegen, sagte Lewis zu ihr.

Claude und Pete waren bereits rund fünfzig Meter weiter flussabwärts. Der Hund schnüffelte herum, fraß Gras und würgte. Pete platzierte die Videokamera auf einem Baumstumpf und richtete sie auf Claude, der vor ihm stand, und, die Hände zu Klauen geformt, wild in Richtung Wasser gestikulierte und große Reden schwang, worüber, konnte Lewis nicht hören.

Jill strich sich das Haar aus den blau geschminkten Augen und schlug im Wind nach einer unsichtbaren Mücke. Hassen Sie Ihren Ex-Mann?

Lewis holte eine Thermosflasche mit Merlot aus ihrem Rucksack und schraubte den Deckel ab. Sie schob sich den Rangerhut in den Nacken und trank. Es war schon später Nachmittag, und die Berge jenseits des Flusses wurden langsam blau. Warum fragst du mich das?

Das Mädchen zuckte die Achseln.

Nein, sagte Lewis. Ich hasse ihn nicht.

Lieben Sie ihn?

Manchmal machte er Gurkensandwiches und brachte sie mir zur Bergstation. Dann aßen wir zusammen Mittag. Er hielt meine gottverdammte Hand und sagte mir, dass er mich liebt. Vielleicht habe ich ihn damals geliebt.

Warum?

Hat nie ein böses Wort zu mir gesagt. Ich habe ihm viel mehr an den Kopf geworfen als er mir. Vielleicht ist das der eigentliche Grund, warum alles so geworden ist. Ich bin kein einfacher Mensch. Hab ihm wegen nichts und wieder nichts die Hölle heißgemacht. Aber manchmal habe ich gemerkt, dass er mich anschaute, als hätte er noch nie im Leben was anderes gesehen. Ich glaube, das ist das Schlimmste daran. Er war ein richtig guter Mann.

Ich hab früher mal eine Katze geliebt, aber dann wurde mir klar, dass das Quatsch ist, sagte Jill.

Lewis schüttelte den Kopf und leckte sich den Merlot von den Lippen. Als er verurteilt wurde, hab ich mich im Gerichtsgebäude mit einer seiner anderen Ehefrauen unterhalten. Wir haben uns gesagt, wie gottverdammt leid uns das alles täte und wie schlimm das alles sei, was er uns angetan hatte. Aber dann hat sie was gesagt. Sie sagte, sie hatte geglaubt, was sie zusammen gehabt hatten, das habe es nur einmal auf der Welt gegeben, und dass das nicht so war, täte ihr unheimlich weh. Ich glaube, wir alle hätten gerne was, das sonst keiner hat.

Die Frau ist traurig und dumm, sagte Jill, und sie drückte die Zigarette auf dem Felsen aus und schnippte die Kippe in den Fluss. Nichts gibt es nur einmal auf der Welt.

Kann gut sein.

Glauben Sie, er hat Sie geliebt?

Lewis trank aus der Thermosflasche und stieß auf und spuckte einen roten Fleck ins Gras. Bei einem, der so viel lügt, kann man sich das schon fragen. Aber ich glaube, er hat sich halt um drei Frauen gekümmert und sein Bestes gegeben, und vielleicht hat er uns alle drei auch wirklich geliebt. Das kann keiner wissen. Der Richter hat ihn gefragt, warum er das getan habe, und Roland sagte, er habe sich ein Leben ohne uns nicht vorstellen können, und vielleicht sei er ein gieriger Mensch, aber ein Leben mit nur einer Person, die er liebte, würde ihm nicht reichen. Er sagte, er habe halt besonders viel Liebe zu geben, und wenn das ein Verbrechen sei, sollten sie ihn wegsperren und den Schlüssel ins Meer werfen.

Wenn die Leute glauben, dass sie Katzen lieben, sagte Jill, dann glauben sie sicher auch, dass sie mehr als einen Menschen lieben können.

Lewis trank wieder aus der Thermosflasche. Jill saß auf dem Felsen und umarmte ihre Beine, ihr langes Haar war fast zu schwer für den Wind, die Sonne ließ es leuchten, genau wie die Narben auf ihrem Gesicht.

Dein Vater traut dir wirklich zu wenig zu, sagte Lewis.

Das Mädchen sagte nichts.

Ich nehme an, du bist ein bisschen wie er.

Wir sind beide gleich langweilig, sagte das Mädchen.

Weiter flussabwärts hörten sie Claude pfeifen. Er ruderte mit den Armen. Auch Pete winkte und versuchte zu pfeifen, aber er japste nur wie ein kleiner Hund und bekam einen Hustenanfall. Er drehte sich um, und Claude schlug ihm so lange auf den Rücken, bis er sich wieder aufrichtete.

Lewis und Jill gingen zu ihnen, und unterwegs zündete sich Jill eine neue Zigarette an. Als sie sich ihnen näherten, sagte Claude kein Wort, sondern hob nur den Arm und zeigte auf den Stumpf einer umgeknickten Fichte.

Lewis ging vor dem Baumstumpf in die Hocke und erkannte eine Reihe grob in das Holz gehackter Buchstaben. Sie fuhr mit den Fingern darüber, stand auf, hielt sich die Hand vor ihren violetten Mund, taumelte und fing sich wieder. Sie rief nach der verschollenen Frau. Sie ließ die Hände sinken und ließ ihren Blick über das Tal schweifen. Gottverdammt, ich wusste es, sagte sie.

Jill kniete neben dem Baumstumpf und rauchte ihre Zigarette.

Pete hockte sich neben das Mädchen und legte sich eine Hand auf die verformte Brust. Meinst du, du kannst mir eine leihen? Mir wird das Herz so schwer.

Jill schüttelte die Packung, dass ein paar Zigaretten herausguckten, und hielt sie ihm hin.

Pete nahm sich eine und steckte sie sich zwischen die Lippen. Er zündete sie an und betrachtete das Mädchen. Herzlichen Dank. Ich glaub, du wirst mal eine wunderbare Frau mittleren Alters. Ganz anders als meine Ehefrau.

Claude nahm seinen Rangerhut ab und wischte sich mit dem Handrücken die blaue Nase und schnippte mit den Fingern in Richtung Hund. Der Hund kam bei Fuß, und Claude ging zu Lewis. Er legte eine Hand auf ihre Schulter. Ich würde sagen, dass sie ihren Namen in diesen Baumstumpf geritzt hat, bedeutet nichts anderes, als dass sie tot ist, Debs. Sie hat gehofft, dass wir das finden, um uns mitzuteilen, dass sie stirbt. Ich bin beeindruckt.

Ich find das jetzt nicht so kunstvoll gemacht, sagte Pete. Ich hab kleine Kinder gesehen, die konnten besser mit Holz umgehen.

Ich bin ja auch nicht von ihrer Handwerkskunst beeindruckt, Petey.

Jill schnippte ihre Zigarette in Richtung Fluss und beobachtete die anderen ohne ein Wort. Die Sonne färbte die Narben auf ihrem Gesicht rosa.

Lewis stampfte auf den Boden. Und der Leichnam?

Ich würde sagen, von einem wilden Tier gefressen, sagte Claude.

Das ist verdammt schade, sagte Pete. Die Dame muss ganz schön was auf dem Kasten haben, dass sie es bis hierher geschafft hat und dann noch ihren Namen in das Holz geritzt hat, auch wenn sie das nicht so gut konnte.

Ich sehe hier nichts, das auf wilde Tiere hindeutet, sagte Lewis. Kein Blut, keine Haare, keine Knochen, nicht einmal eine gottverdammte Kniescheibe.

Jill sah sich im Gras um. Ich sehe auch nichts.

Claude fuhr sich mit der Hand durch sein sauberes schwarzes Haar. Du willst es echt wissen mit dieser Cloris Waldrip, Debs.

Lewis nahm einen Schluck aus der Merlot-Thermosflasche, ein paar Tropfen liefen ihr das Kinn hinab. Sie wischte sie fort und zeigte dem Mann ihren weinroten Mittelfinger. Du verbringst deine Nächte im Wald auf der Suche nach einer rothaarigen Zyklopin, die auf einem gottverdammten Gürteltier reitet.

Claude schwieg eine Minute, und dann runzelte er die Stirn. Kein Grund, unwirsch zu werden, Debs. Ich sag ja nur, dass es ziemlich unwahrscheinlich ist, dass sie noch lebt.

Zwei lange, furchtbare Tage lief ich schon ziellos durch diesen seltsamen Wald, und ich war immer noch nicht auf den alten Wanderpfad gestoßen, von dem der maskierte Mann gesprochen hatte. Da waren nur Bäume und noch mehr Bäume. Grundgütiger, waren da viele Bäume!

Das Blätterdach ließ nur vereinzelte Sonnenstrahlen hindurch, die immer wieder aufblitzten, was mich mächtig schwindlig machte. Es war derselbe Effekt, wie wenn Mr Waldrip mit mir in Clarendon die Goodnight Street hinunterfuhr. Die Straße war von hohen alten Ulmen gesäumt, zwischen denen auf die gleiche Art und Weise die Sonne aufblitzte. Wenn wir dort entlangfuhren, kam es mir immer vor, als würde ein Verrückter immerfort das Licht an- und ausknipsen. Mithilfe des kleinen Kompasses, den mir der Mann dagelassen hatte, bemühte ich mich, immer Richtung Osten zu gehen, aber ständig standen mir Bäume im Weg, und ich musste Schlangenlinien laufen. Ich sage Ihnen jetzt und hier, wenn ich ab sofort nie wieder einen Baum zu Gesicht bekäme, bis ich diese Welt verlasse, ich hätte überhaupt kein Problem damit.

Mir war nicht wohl dabei, dass der Maskierte nicht mehr auf mich aufpasste. Ich fühlte mich schrecklich einsam, wie bei dem furchtbaren Tohuwabohu in der Nacht, als Terry starb. Mir kam der Gedanke, was, wenn Gott mich verlassen und in einem verhexten Märchenwald ausgesetzt hatte? Alles um mich schien mir unwirklich. Kränkliche, schwerhörige Singvögel krallten ihre abblätternden Füße in die Äste der Bäume, und gelbäugige Nager, träge und kahl und von Wunden übersät, versteckten sich im Unterholz. Da waren farblose Insekten, groß wie Handflächen, die wirkten wie etwas, das man am Grunde des Ozeans finden würde, und schwarze Schmetterlinge schwebten im Nebel. Über mir klapperten die kahlen Äste toter Bäume, während ich beobachtete, wie ein schleimiger Frosch einen anderen schleimigen Frosch fraß. Da war ein Strauch, der aussah wie das Haar eines Farbigen. Hunderte biolumineszenter Fliegen schwirrten um ihn herum.

Die Luft war abgestanden und ließ kaum Geräusche durch, und so hörte ich nur meinen Atem, der klang wie auf Papier rieselnder Sand. Alles war voll von heruntergefallenen, zerbrochenen Ästen, es sah aus wie der Fußboden eines Beinhauses. In diesem Wald lauerte das Böse, alles schien krank zu sein. Schon zu Beginn war mir angst und bange, aber erst nach einer Nacht im Regen packte mich vollständig das Grauen, und ich musste mir eingestehen, wie mutterseelenallein ich war.

Dies war die Nacht nach meinem dritten Tag in diesem seltsamen Wald, falls ich richtig gezählt hatte. Zunächst nieselte es nur, aber nach einer Weile goss es wie aus Kübeln. Glücklicherweise gelangte ich an eine große Mauer aus Kalkstein. Sie erinnerte mich an die Fassade der alten Texas State Bank in der Innenstadt von Amarillo. Ich kenne mich in diesen Dingen nicht so aus, aber ich habe einmal gelesen, dass einst mehrere Ureinwohnerstämme im Bitterroot zu Hause waren, also nehme ich an, dass ich auf die Ruinen eines uralten Bauwerks gestoßen war, wie in Petra auf der anderen Seite der Erdkugel. Ich lehnte mich ganz dicht an die Mauer unter eine Art Vorsprung und wickelte mich in Terrys Jacke. Im Boden befand sich eine rechteckige Öffnung, in die das Regenwasser strömte wie in einen Gully.

Inzwischen war es dunkel geworden. Ich tastete den Boden um mich herum ab und fand in einer Nische einige trockene Kiefernnadeln und ähnliches Zeug. Ich hoffte, es würde mir gelingen, damit ein Feuer zu machen. In aller Eile kratzte ich alles zu einem kleinen Haufen zusammen. Einen Feueranzünder hatte ich noch übrig, den und das Feuerzeug mit der albernen Cartoonfigur holte ich aus der Tasche von Terrys Jacke. Plötzlich blitzte es, und ich erschrak so sehr, dass ich das Feuerzeug fallen ließ. Es rutschte weg und fiel direkt in den Abfluss im Stein! Ich erwog kurz, den Arm hineinzustecken, vielleicht war das Feuerzeug ja noch nicht ganz verschwunden, sondern hatte sich irgendwie verkantet, aber es war dunkel, und ich brachte es nicht über mich.

Gegen die Ruinen gelehnt, beobachtete ich den Regen und drehte meinen Ehering am Finger. An Regen hatte ich mich mittlerweile gewöhnt. Ich jammerte nicht, sondern stellte Mr Waldrips Stiefel auf. Nachdem sich meine Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte ich den Wald sehen, ganz schwarz und grau. Der Regen fiel in großen Tropfen, und ich fror wie ein Schneider. Mein einziger Gedanke war: Mir ist kalt. Und ich hatte großen Hunger, also aß ich den Rest der Haferflocken. Ich hatte eigentlich gehofft, dass sie länger vorhalten würden. Für den gesalzenen Fisch hatte ich nicht allzu viel übrig.

Ich hatte gerade die Haferflocken aufgegessen, da bemerkte ich den Berglöwen. Er kroch aus dem Regen. Wie alles andere in diesem Wald sah das Biest altersschwach und kränklich aus. Es hatte viel zu große Schulterblätter, die aufragten wie Platten auf dem Rücken eines Dinosauriers. Im Dunkeln erinnerte das Tier an eine Art geflügeltes mythologisches Wesen, dessen Aufgabe es war, die steinerne Ruine zu bewachen, in der ich saß. Das Erstaunlichste aber war, ob Sie es glauben oder nicht: Der Berglöwe lief rückwärts, mit dem Schwanz voran, der hin und her schwang wie der Kopf einer Schlange. Sein Maul war schlaff, und der Regen lief ihm zwischen den Zähnen hindurch. Ich hatte mächtige Angst, aber ich nahm mein Beil in die Hand und brüllte das Tier, so laut ich konnte, an. Der Löwe sauste davon wie ein kleines Kätzchen. Später las ich, dass Berglöwen instinktiv Angst vor der menschlichen Stimme haben.

Ich saß mit dem Beil in der Hand auf dem Kalkstein und wartete darauf, dass die Katze zurückkam. Es ist schon seltsam, wie sich manchmal die Gedanken verselbstständigen, sobald eine Gefahr abgewendet ist, und je mehr ich überzeugt war, dass das Katzenvieh nicht mehr zurückkehren würde, desto mehr grübelte ich wieder über die Vergangenheit und dachte über die Bilanz meines Lebens nach, darüber, was für und was gegen mich sprach. Kurzum: Ich dachte an Garland Pryle.

Wir hatten ein Techtelmechtel, keine große Liebesbeziehung. Nicht, dass Sie das denken. In Texas reden die Frauen meiner Generation nicht über Sex. Sie hätten damals in Donley County Ihr ganzes Leben in der Überzeugung verbringen können, dass außer Ihnen überhaupt niemand Sex hat. Doch um der Vollständigkeit dieses Berichts willen muss ich ganz offen sein: Ich habe mit Garland Pryle Ehebruch begangen. Ich bin nicht stolz darauf, aber so war es.

Zweimal passierte es. Der erste Vorfall ereignete sich in dem hübschen kleinen Haus seiner Eltern in der Bent Tree Street. Wir liebten uns auf dem Esstisch. Der zweite Vorfall ereignete sich an einem sommerlichen Nachmittag nicht einmal eine Woche später, im alten Kühlhaus hinter dem Lebensmittelladen. Wir waren heißblütig und verrückt und jung, und wir liebten uns zwischen den Gurken und Kürbissen. Es war unheimlich schön, und das machte mir eine Zeit lang zu schaffen, denn mein liebestoller Geist ließ mich ständig an ihn denken, wenn ich nachts im Bett neben Mr Waldrip lag, dem liebsten und nettesten aller Männer. Der Gedanke quälte mich in dieser regnerischen Nacht im Bitterroot Forest, als kaum noch etwas Sinn ergab und sich Gott von einer ganz anderen Seite zeigte, als ich ihn bislang kennengelernt hatte. Ich konnte nicht nachvollziehen, was Er mit dem Maskierten vorhatte. Ich konnte nicht nachvollziehen, was Er vor all den Jahren mit Garland Pryle vorgehabt hatte. Aber vor allem konnte ich nicht nachvollziehen, was Er mit mir vorhatte. Ich bin mir selbst nach wie vor das größte Mysterium.

Was mich damals ängstigte und mich auch heute noch ängstigt: Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich die Entscheidung, die ich in dem schmalen Gang mit den Erbsendosen traf, noch einmal treffen würde und immer wieder, bis ans Ende der Zeiten. Das war mir immer klar, jedes Mal, wenn ich auf den Knien in der First Methodist um Vergebung bat und die Gemeindemitglieder ihre selbstsüchtigen Gebete vor sich hin flüsterten, alle waren wir Sünder, die sich in diesem Holzbau versammelt hatten, um über die Bilanz unser Seele Rechenschaft abzulegen, und wir hörten nicht einmal den Wind heulen. Ich würde es wieder tun, Herr. Ich würde es wieder tun, und ich bin mir nicht einmal sicher, ob es mir leidtut.

Ich fand keinen Schlaf. Ich wartete darauf, dass der Morgen kam. Der Regen ließ nach und hörte schließlich ganz auf, und die Wolken wurden heller. Ich hatte eine weitere Nacht überlebt. Erschöpft und durchgefroren, wie ich war, stand ich auf, wrang den Pullover mit dem Zickzackmuster aus und schaute in den Abfluss im Stein, ob ich das Feuerzeug sehen könnte, aber da war nichts als schwarzes Wasser. Bei Tageslicht waren die Ruinen nicht mehr ganz so eindrucksvoll, wie sie mir im Dunkeln vorgekommen waren. Ich füllte das Regenwasser aus Mr Waldrips Stiefel in die kleine rote Feldflasche und sah auf den Kompass. Dann machte ich mich wieder auf in Richtung Osten.

Ich war noch keine Viertelmeile gegangen, als ich aus dem dunklen Schatten zwischen einigen Bäumen im Südosten einen langen Pfiff hörte. Ich blieb stehen und legte die Hand ans Ohr. Da war es wieder. Es klang, wie wenn der Wind bei uns durch die Viehställe pfeift, nur in der Tonlage eines Schuljungen. Ich konnte schon immer gut hören, ich nehme an, weil ich bis dahin ein so stilles Leben geführt hatte. Mr Waldrip hingegen war dank seiner Schrotflinte auf dem rechten Ohr schon so gut wie taub gewesen.

Ich ging zwischen den Bäumen hindurch in die Richtung, aus der das Pfeifen kam, bis ich an eine Stelle gelangte, an der es sich anhörte wie die Geräusche, die eine Frau macht, wenn sie mit einem Mann zusammen ist. Keine fünfzehn Yards entfernt stand, geschützt von zwei krummen Kiefern, ein kleines blaues Zelt. Himmel, war ich aufgeregt!

Ich wollte schreien, um die Menschen, die im Zelt waren und diese Töne von sich gaben, auf mich aufmerksam zu machen, aber meine Kehle schnürte sich vor Aufregung zusammen. Als ich das Zelt erreichte, hörte das Geräusch mit einem Mal auf. Ich versuchte noch einmal, mich bemerkbar zu machen, aber ich brachte keinen Ton heraus. Ich zitterte. Stattdessen klopfte ich an die Zeltwand.

Nichts passierte.

Endlich gelang es mir, zu sagen: Entschuldigen Sie, ich brauche Hilfe, ich heiße Cloris Waldrip, ich bin mit einem Flugzeug abgestürzt.

Aus dem Zelt kam keine Antwort.

Ich weiß nicht viel über Zelte. Ich fand es nie allzu verlockend, im Freien zu schlafen. Als ich ein kleines Mädchen war, nahm Vater mich einmal mit in die Prärie, und wir schliefen unter den Sternen, auf Pferdedecken auf der Ladefläche des Wagens. Ich glaube, eigentlich wollte er nur eine Nacht lang seine Ruhe haben. Erst im Sommer zuvor war Davy gestorben, und gerade war eine Frau zur Gouverneurin von Wyoming gewählt worden, und Mutter hielt das für keine gute Idee. Sie war eine ganze Weile kaum zu genießen.

Das Zelt hatte Reißverschlüsse. Es war schmuddelig, und an einer Stelle, auf die lange Zeit immer auf die gleiche Weise die Sonne geschienen hatte, war die blaue Farbe verblasst. Der Nylonboden wölbte sich und war dunkel verfärbt wie die Schürze eines Kochs in einem Diner. Ich wurde langsam unruhig. Ich stupste das Zelt mit dem Fuß an und sagte noch einmal, wer ich war. Nichts passierte. Dann nahm ich allen Mut zusammen und öffnete den Reißverschluss. Es roch wie in einem Kühlschrank nach einem Stromausfall.

Im Zelt war niemand! Darin lag eine große Papiertüte mit verrotteten und verschimmelten Lebensmitteln, und neben einer ungeöffneten Packung mit Papptellern und Plastikbesteck stand ein aufgeblähter Plastikbehälter mit der Aufschrift Orangensaft. Ich hatte keine Ahnung, was die Geräusche verursacht hatte, die ich gehört hatte. Vielleicht war es der Wind. Ich weiß es bis heute nicht.

Ich brüllte. Ich brüllte und brüllte. Ich brüllte so laut, dass ich glaubte, mein Hals müsse platzen. Langsam hatte ich wirklich genug da draußen. Manchmal denke ich heute noch an dieses leere Zelt. Wie war es dorthin gekommen, und was war Furchtbares passiert, dass jemand es einfach so zurückgelassen hatte? Ich hatte Angst, ich wäre in eine ganz spezielle Hölle gestolpert, eine Hölle voll ungelöster Rätsel.

Nachdem ich eine Weile gebrüllt hatte, lehnte ich mich gegen eine Kiefer und ruhte mich aus. Mein Hals tat mir weh, und mir war schwindelig. Ich beobachtete das Zelt und wartete ab, ob die Geräusche noch einmal zu hören wären.

Hinter mir bewegte sich etwas.

Ma’am, sagte eine gedämpfte Stimme. Ma’am.

Ich drehte mich um, und da sah ich ihn. Der Maskierte hockte zwischen den Bäumen! Meine Güte, war ich überrascht! Ich hatte schon befürchtet, der rückwärtslaufende Berglöwe sei zurückgekommen, um mich zu holen. Ich war ehrlich erleichtert, dass der Mann wieder da war, aber als ich den Mund öffnete, hob er einen behandschuhten Finger und bedeutete mir, still zu sein, und ich sagte nichts.

Er sah sich um und schlich ein wenig umher. Das ganze Zeug, das er bei sich trug, klirrte. Dann kam er zu mir und flüsterte: Alles okay mit Ihnen?

Ich nickte und fragte, warum er flüstere.

Warum schreien Sie so?, fragte er.

Ich sagte ihm, ich hätte das Gefühl, ich sei nicht mehr ganz bei Trost.

Er kroch zum Zelt, kniete sich hin und schloss den Reißverschluss wieder, dann stand er auf und richtete seine Maske, sodass seine Augen hinter den Löchern saßen. Er hatte eine vollgepackte Tasche über den Schultern, an der ein kleiner Angelkasten, eine Pfanne und drei rostige alte Kleintierfallen hingen. Von seinem Rücken ragte eine Angel empor, als ob man ihn wie eine Straßenbahn mit einer Oberleitung verbinden müsse. Was ist hier passiert?, fragte ich und zeigte auf das Zelt und zitterte.

In diesem Moment fuhr ein Windstoß durch den Wald und ließ das fleckige Nylon flattern. Genauso schnell, wie der Wind gekommen war, war er wieder weg, und alles war wieder still. Es war mächtig gruselig.

Ich weiß es nicht, sagte er und warf einen Blick zum Himmel. Wir müssen los.

Ich warf einen letzten Blick auf dieses schrecklich leere Zelt. Dann stiefelte der Mann los, und ich folgte ihm.

Ich dachte, Sie könnten mich nicht mehr begleiten, sagte ich.

Es ist eigentlich noch zu früh im Jahr für Schnee, sagte er, aber ich fürchte, es kommt trotzdem welcher. Sie hätten eingeschneit werden können. Kommen Sie, wir müssen uns beeilen.

Im Herbst 1986 herrschte furchtbar seltsames Wetter. In Florida trugen die Leute Pullover, und in Texas froren die Sickerteiche zu. Es kam vor, dass die Leute an einem Tag spärlich bekleidet an den Strand gingen, um Tags darauf am Kamin zu sitzen und heißen Apfelwein zu trinken. Soweit ich weiß, ist das Klima durcheinander, weil die Menschheit der Erde so übel mitspielt. Dass wir uns und unsere armen Nachbarn zugrunde richten, überrascht mich überhaupt nicht. Offenbar hassen wir uns selbst und die Zivilisation, die wir geschaffen haben. Die Städte werden immer größer, und die Technologie wird immer seltsamer, und die jungen Leute werden immer jünger und konsumieren Informationen, in denen ich weder Sinn noch Zweck zu sehen vermag.

Ich glaube, ich habe schon einmal erwähnt, dass unsere geliebte Großnichte Jessica in Phoenix, Arizona, lebt. Sie verbringt Stunden damit, in einem klimatisierten Raum vor dem Computer zu sitzen und in dieses Internet zu starren. Ich weiß wohl, dass sie darin einen Sinn sieht, den ich nicht erkennen kann. Wenn ich in diese weiße Kiste schaue, dann blendet mich das bunte Licht, und das, was man da alles zu sehen bekommt, finde ich einfach nur absurd. Ich bin keine Wissenschaftlerin, aber ich fürchte, wenn Jessica in meinem Alter ist, wird sie in einer Welt leben, in der es erdrückend heiß ist, in der arme Leute Kriege führen, die von Prominenten angezettelt werden, und meines Wissens wird Phoenix Feuer fangen, abbrennen und fortgeweht werden.

Ich bedankte mich bei dem Maskierten, dass er zurückgekommen war. Sie sind ein anständiger Mann, sagte ich ihm.

Er gab keine Antwort und ging einfach weiter.

Bloor, eine Flasche unter dem Arm und zwei Gläser zwischen den Fingern, ging mit Lewis nach oben ins Schlafzimmer, in dem Kerzen brannten. An einer Wand hingen drei Ölgemälde, auf denen leprakranke Zeloten kopflose Eidechsen in Händen hielten, und auf einem der Nachttische stand ein gerahmtes Foto von einer etwas jüngeren Jill, die konsterniert eine Hummerschere anschaut.

Bloor schenkte ein Glas Merlot ein und reichte es Lewis. Ich habe mir ein paar persönliche Sachen aus Missoula schicken lassen, sagte er. Er nickte in Richtung Foto. Früher war sie immer meine kleine Kameradin.

Ist sie noch wach oder schon im Bett?

Er schüttelte den Kopf. Teenager trauern anders, sagte er. Und für Jill Bloor sieht die ganze Welt irgendwie anders aus.

Lewis leerte das Glas in einem Zug. Durch die Panoramafenster sah man die Nacht und die schwarzen Berge. Auf der anderen Seite des Zimmers befand sich eine Glasschiebetür, die auf eine dunkle Terrasse führte.

Bloor fragte, ob sie etwas von Gaskell gehört habe.

Er sagt, es ist zu teuer, noch mehr gottverdammte Zeit zu investieren. Sagt, er ist sich nicht mal sicher, dass da wirklich ihr Name eingeritzt ist. Ich glaub, er hat einfach keine Lust mehr auf das Thema.

Bloor zeigte auf die Gemälde an der Wand. Die da sind heute angekommen. Eine norwegische Malerin. Sie sitzt im Gefängnis und wartet auf ihren Prozess, ist wegen Missbrauch angeklagt. Ist schon interessant, was die Leute antörnt, oder?

Weiß ich nicht, ob das so interessant ist.

Was törnt dich denn an, Ranger Lewis?

Lewis steckte sich einen Daumen in den Gürtel und schaute wieder die Bilder an. Das Übliche, denke ich mal.

Und das wäre?

Keine Ahnung, Küssen, Engtanz, nichts Besonderes.

Bloor kam auf sie zu und platzierte sein Kinn oben auf ihrem Kopf und schlang die langen Arme um sie. Er schwankte hin und her und tanzte mit ihr in einem kleinen Kreis. Weißt du, sagte er mit näselnder hoher Stimme, meine Frau hat immer gesagt, sie könne sich noch an die Nacht erinnern, als sie geboren wurde. Sie sagte, sie sei als Frühgeburt in einem Liegewagen eines Zugs zur Welt gekommen, irgendwo zwischen Yakima und Spokane. Ihre Mutter konnte sich nicht mehr an den Namen der Kleinstadt erinnern, durch die sie gerade fuhren, aber Adelaide schwor, der Name habe ein G enthalten, und die Straßenlaternen hätten die Farbe von getrocknetem Menstruationsblut gehabt.

Du immer mit deiner Ehefrau.

Er bugsierte sie sanft durch das Zimmer und schob sie aufs Bett. Er stand über ihr, im Schatten des Lichts, das vom Flur durch die offene Tür ins Zimmer schien. Er klatschte in die Hände, und eine Wolke aus Kreide stieg auf. Lewis stützte den Oberkörper mit den Ellbogen auf, um ihn besser anschauen zu können.

Er knöpfte sein Hemd auf, und bei jedem Knopf, den er öffnete, küsste er die Luft. Er legte sich neben sie und fuhr mit der Nase ihren Arm empor bis zur Schulter und hinterließ dort eine glasige Spur wie eine Schnecke. Zieh die Uniform aus, sagte er.

Ist Jill noch wach? Sollten wir nicht die gottverdammte Tür zumachen?

Lassen wir sie doch offen, was meinst du?

Warum zur Hölle sollten wir das tun?

Weil es sexy ist.

Okay.

Lewis knöpfte ihre Uniform auf, schlüpfte heraus und ließ sie zu Boden fallen. Das Pistolenhalfter landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Teppich.

Jetzt den BH.

Sie öffnete den Büstenhalter und warf ihn beiseite. Nun trug sie nur noch einen Slip.

Bloor machte hinten in der Kehle ein Geräusch, das klang wie ein Stein, der in einen Teich fällt. Er hielt Zeigefinger und Daumen hoch, rieb sie aneinander und betrachtete sie in dem schwachen Licht. Er ließ sie sinken und berührte ihre linke Brustwarze. Wie lange warst du verheiratet, Ranger Lewis?

Zwölf Jahre, sagte sie.

Bloor rollte ihre Brustwarze zwischen den Fingern. Was war am Ende das Problem? Dass ihr ständig hier oben wart? Der Alkohol? Die anderen Ehefrauen?

Lewis lag still und fixierte die Zimmerdecke. Sie zuckte zusammen, als Bloor sie fester anfasste. Er kniff sie, dass es wehtat, und sie schlug seine Hand weg. Gottverdammt, sagte sie. Bist du sicher, dass du beim Rettungsdienst arbeitest?

Sein halbes Gesicht lag im Schatten des Lichts aus dem Flur, die Höhlen seiner Augen, die Wulst seiner Brauen. Als er grinste, tauchten auf seinen Wangen tiefe Kanäle auf, die seine Mimik hölzern und mystisch wirken ließen wie die Fratze eines Neidkopfs.

Bloor kletterte auf sie. Er knöpfte sich die Hose auf und rieb sich sanft an ihrem Bauch, und sie sah über seine Schulter zur offenen Tür. Er nahm seine kreideweißen Finger und kniff sie in die Seite. Sie zappelte, doch er hielt sie fest an sich gedrückt und fuhr fort, sie zu kneifen.

Soll ich mal ganz ehrlich sein? So ehrlich, dass es wehtut?, fragte er.

Okay. Wenn’s sein muss.

Ich weiß, das sollte ich nicht, aber manchmal bin ich richtig wütend, dass ich eine Tochter habe, die ein wenig … ich will jetzt nicht sagen: zurückgeblieben ist, aber zumindest doch eine Tochter, die Schwierigkeiten damit hat, die Feinheiten der menschlichen Interaktion zu begreifen, und die keinen Sinn hat für höhere Werte.

Deine Tochter ist nicht zurückgeblieben.

Bloor erzählte Lewis, Adelaide habe noch am selben Tag, als Jill zur Welt kam, einen Traumfänger gekauft, und er habe ihn über ihrer Wiege aufgehängt, und eines Tages im Sommer, als es Adelaide nicht gut ging, habe sie das Baby vor dem Wohnzimmerfenster liegen lassen und sei auf der Couch eingeschlafen. Er berichtete, wie die Sonne das Muster des Traumfängers in das zarte Gesicht des Babys gebrannt hatte und wie es gebrüllt hatte, als sie aufgewacht war. Jill hatte Brandblasen auf den Wangen, sagte er. Wir mussten sie ins Krankenhaus bringen. Sie weiß davon gar nichts, weißt du.

Du hast es ihr nie gesagt?

Adelaide schämte sich dafür so sehr, dass ich ihr versprechen musste, es ihr niemals zu erzählen. Natürlich hab ich mein Versprechen gehalten. Wer würde wollen, dass seine Tochter weiß, dass ihre eigene Mutter ihr so etwas angetan hat?

Bloor kniff sie schon wieder. Sie biss die Zähne zusammen und hielt den Blick auf das Licht im Flur gerichtet. Dann lehnte sich Bloor zurück und griff wieder nach ihren Nippeln und drehte sie zwei Mal ganz fest und küsste die Luft über sich. Sie schrie kurz auf und biss sich auf die Zunge. Er ließ seinen Oberkörper wieder fallen und rieb sich rhythmisch an ihrem Oberschenkel. Sie sah über seine Schulter zur Tür.

Die Dielen knarrten. Jill überquerte den Flur und blieb in der offenen Tür stehen. Einen Moment lang sahen sie und Lewis einander in die Augen, dann ging das Mädchen die Treppe zur Küche hinunter, und Lewis hörte, wie sie die Kühlschranktür öffnete und einen Teller auf die Arbeitsplatte stellte.

Bloor brachte sich zum Höhepunkt, ergoss sich in seine Kreidehand und schmierte das Zeug an die Fensterscheibe über dem Kopfteil des Bettes. Er ließ sich neben Lewis auf das Bett fallen und lachte. Das war wunderbar, sagte er.

Lewis bedeckte ihre Brüste mit ihren feuchten Händen. Sie hörte, wie Jill die Treppe heraufkam, und sah sie über den Flur gehen.

Bloor rief den Namen seiner Tochter.

Sie blieb in der Tür stehen, aber schaute nicht ins Zimmer.

Gute Nacht, sagte Bloor.

Gute Nacht, sagte das Mädchen und ging in ihr Zimmer und schloss die Tür.

Irgendetwas löste draußen einen Bewegungssensor aus, und ein schwaches Licht ging an und beleuchtete die Terrasse. Lewis nahm an, dass es ein Eichhörnchen war, dennoch glaubte sie, hinter der Glasschiebetür noch etwas anderes gesehen zu haben. Den Schatten einer dünnen Frau. Es war gerade einmal Ende September, doch im kalten Licht draußen auf der Terrasse fiel Schnee. Lewis fand, der Schnee sah aus wie geschredderter Kunststoff in einem alten Film, und die angestrahlten, bewegungslosen Bäume hinter dem Geländer sahen aus wie die Kulissen auf einer windstillen Bühne.

Damit wäre wohl auch das geklärt, sagte Bloor und sah hinaus in den Schnee. Falls Cloris Waldrip den Absturz überlebt hat – diese Nacht wird sie nicht überleben.

Der Schnee lastete schwer auf den Ästen der Bäume und bedeckte die Granitfelsen am Straßenrand und erstickte das hohe Gras. Lewis fuhr mit Jill im Wagoneer durch den verschneiten Wald, das Radio summte leise vor sich hin, die Schneeketten an den Reifen bissen sich in den letzten Rest der asphaltierten Straße, die vor Kurzem geräumt worden war. Lewis setzte die Thermosflasche mit dem Merlot an die violetten Lippen. Sie nahm einen Schluck und bog mit dem Wagoneer auf einen Feldweg ein, den eine Mischung aus Eis und Schlamm bedeckte.

Jill beobachtete sie vom Beifahrersitz aus. Meinen Sie, wir bleiben hier draußen stecken?

Nein, wir bleiben nicht stecken, gottverdammt. Lewis trank noch einmal aus der Thermosflasche und schraubte den Deckel wieder fest. Sie gab ein wenig mehr Gas.

Trinken Sie etwa Wein aus einer Thermosflasche?

Nein.

Sie fuhren einige Meilen über die unbefestigte Straße, zogen eine Rinne durch den stellenweise hohen Schnee und sausten an vernagelten Jagdhütten vorbei. An der dem Wind abgewandten Seite einer Hütte ohne Fenster hing kopfüber der Kadaver eines dilettantisch geschlachteten Tiers, der zu einem riesigen schlammigen Eiszapfen gefroren war. Lewis hielt nicht an, um einen Strafzettel auszustellen. Schweigend fuhr sie weiter. Dann erzählte sie Jill, sie habe am Morgen erfahren, dass die Nationale Behörde für Transportsicherheit zur Erkenntnis gekommen war, dass das Flugzeug mit den Waldrips wegen menschlichen Versagens abgestürzt war.

Terry Squime muss die Kontrolle über die Maschine verloren haben, sagte Lewis. Als hätte er einfach so beschlossen, er wüsste nicht mehr, wie man fliegt. Die gottverdammte Leiche war schon zu verwest, als dass man noch herausfinden konnte, ob er einen Anfall hatte oder ein Aneurysma oder so etwas, aber offenbar kann man das nicht ausschließen.

Jill sagte nichts und kurbelte die Scheibe ein Stück herunter und steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Sie nahm ein Streichholz und zündete sie an.

Sie meinen, vielleicht gab es Turbulenzen, und er geriet in Panik, sagte Lewis. Stressbedingt. Können nicht ausschließen, dass er Depressionen hatte und die Waldrips mit in den Tod riss. Er hatte gerade geheiratet, und es lief nicht so gut. Offenbar traf er sich in Motels mit Männern. Unter anderem mit seinem Postboten.

Jill zog an der Zigarette und blies den Rauch aus dem Spalt im Fenster. Depressionen und Postboten, sagte sie.

Lewis nahm eine schlammige Straße, die schwarze Fahrbahn war in Schlangenlinien zerfurcht. Hinter einer Reihe sterbender Bäume blitzte ein See auf. An einem Totempfahl, an den Schlangenhäute genagelt waren und dreckige Socken und eine Wäscheleine, an der in seltsamen Winkeln festgefrorene Teile eines Bärenkostüms hingen, bog sie ab. Sie hielt vor einer schiefen, aus Holzbohlen zusammengezimmerten Hütte am Straßenrand. Aus einem verrosteten Rohr im Dach kam grüner Rauch. Eine Tür in Form eines Bügelbretts öffnete sich, und ein Kopf erschien. Er gehörte zu einem dunkelhäutigen Mann mit langen, vereisten Locken, der eine Badehose trug und auf dessen Stirn eine Tauchermaske saß. Als er sah, wer da gekommen war, machte er große Augen, hüllte sich in ein Badelaken und stapfte eilig in Militärstiefeln ohne Schnürsenkel durch den Schnee zum Fenster der Beifahrerseite.

Lewis bat Jill, die Scheibe ganz herunterzukurbeln. Jill seufzte und kurbelte und lehnte sich zurück, damit Lewis mit dem Mann reden konnte, der nun einen Arm auf den Seitenspiegel legte.

Hi, Eric, was zur Hölle machen Sie denn hier in Ihren Badeklamotten?

Hundepaddeln, sagte der Mann. Hundepaddeln im kalten Wasser, mehr braucht man nicht, um gesund zu bleiben. Seine Zähne klapperten. Wer ist denn dieses hübsche Mädel?

Eine Ehrenamtliche.

Okay, okay, sagte er. Er nickte und zitterte wie ein fehlerhaftes Uhrwerk. Was tun Sie hier draußen an so einem Tag, Ranger Lewis? Nicht, dass Sie mit der Karre stecken bleiben.

Jemand hat sich beschwert, dass Sie ein paar gottverdammte Camper erschreckt haben.

Ich hab keine Camper erschreckt. Da waren einige Kids auf meinem Grundstück, die waren betrunken und unter Drogen und schwanger, also hab ich mich als Bär verkleidet und hab sie mit einem Krocketschläger verjagt.

Ja, das haben sie gesagt.

Sie waren auf meinem Grundstück.

Wenn Ihre Grundstücksgrenze so nahe am Campingplatz verläuft, sollten Sie vielleicht mal ein, zwei gottverdammte Schilder aufstellen, dann passiert so was nicht mehr. Wenn jemand auf Ihren Grund und Boden kommt, dann funken Sie uns einfach an, und Ranger Paulson oder ich kümmern uns darum. So müssen Sie sich gar nicht erst einmischen. Ihr Funkgerät haben Sie noch?

Ja, Ma’am.

Also gut.

Krieg ich einen Strafzettel?

Zur Hölle. Diesmal wohl nicht.

Danke.

Darf ich Sie was fragen, Eric?

Ja, Ma’am.

Haben Sie in den letzten Wochen hier draußen irgendetwas Interessantes gesehen?

Der Mann legte die Stirn in Falten. Plötzlich war er ganz ruhig und zitterte nicht mehr. Was meinen Sie?

Haben Sie etwas Ungewöhnliches gesehen? Irgendwas?

Sie meinen die Rammler, oder?

Rammler?

Die Augen des Mannes wanderten hin und her. Hinter meinem Hobbyschuppen hab ich zwei männliche Hasen gesehen, die haben sich bestiegen. Hab gehört, dass die das manchmal tun, aber ich hab’s in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Zuerst fand ich das unnatürlich, aber ich weiß nicht.

Noch irgendwas?, fragte Lewis.

Na ja, ich hab gestern Abend Rauch gesehen, als ich draußen im See war.

Rauch?

Vielleicht war es auch vorgestern. Wie von einem Lagerfeuer, da draußen, der Rauch wirbelte herum wie das Haar von dieser Ehrenamtlichen hier. Er nickte in Jills Richtung.

Verdammt.

Konnte man kaum erkennen. Sah aus, als ob’s vom Alten Pass kam. Fiel mir nur auf, weil ich das so verstanden hatte, dass man da nicht mehr hinaufgehen darf. Dachte, es kommt vielleicht von einer der Schutzhütten.

Danke, Eric, das ist verdammt hilfreich.

Echt? Eric richtete den Blick wieder auf das Mädchen.

Jill starrte durch die Windschutzscheibe.

Geht’s um diesen Perversen aus Phoenix?

Nein, sagte Lewis. Vor ein paar Wochen ist ein Flugzeug abgestürzt, und wir suchen nach einer Überlebenden. Die Frau ist zweiundsiebzig. Heißt Cloris Waldrip.

Der Mann pfiff durch die Zähne und begann wieder zu zittern und schüttelte langsam seinen wackelnden Kopf. Zweiundsiebzig? Sagen Sie den Angehörigen, sie sollen eine leere Kiste verbuddeln und ihr Leben weiterleben.

Am Nachmittag brachte Lewis Jill zurück zur Bergstation, schenkte sich heimlich aus einer Flasche hinter ihrem Schreibtisch einen Becher Merlot ein und machte sich daran, einen Bericht über den Rauch über dem Alten Pass zu schreiben. Pete saß an der Küchenzeile, Claude an seinem Schreibtisch. Jill stand am Fenster und rauchte und blickte in die verschneite Wildnis hinaus. Sie drückte einen Daumen auf die Scheibe.

Claude, der in einer Broschüre über Kryptologie las, sah auf. Du machst das Glas schmutzig.

Jill setzte sich auf einen Stuhl und drückte ihre Zigarette am Rand eines Bechers aus, den sie zwischen den Beinen hielt.

Lass sie doch das gottverdammte Glas schmutzig machen, wenn sie will, Claude, sagte Lewis, und sie trank Merlot aus ihrem Becher und zeigte Claude den Mittelfinger.

Claude murmelte etwas von wegen, es werde zu voll in der Station und Cornelia werde von Fingerabdrücken angezogen wie ein Hai von Blut, und auch wenn er sie finden wolle, müsse er alle davor warnen, was sie vielleicht tun würde, wenn sie Appetit bekäme. Der alte Hund unter seinem Schreibtisch saugte an den Enden von Claudes Schnürsenkeln, und Claude vertiefte sich wieder in seine Broschüre und strich sich über die blaue Nasenspitze.

Die Fingerabdrücke des Mädchens schimmerten auf der Scheibe. Im Spiegelbild konnte Lewis sehen, wie Pete an der Küchenzeile hin und wieder von dem Stickrahmen auf seinem Schoß aufsah. Nach einer Weile legte er den Rahmen beiseite und stellte seinen Hocker neben Jill und erzählte ihr, wie seine Frau alle Zimmerpflanzen auf ihr gemeinsames Bett geworfen hatte und ihm einen Zettel hinterlassen hatte, auf dem stand, sie sei fort, um mit einem Registrar vom Automobilmuseum Sex zu haben.

Ich wusste nicht, was ein Registrar ist, sagte Pete, anderthalb Stunden lang hab ich zu Hause nach einem Wörterbuch gesucht. Konnte keins finden, musste in die Bibliothek fahren. Als ich da ankam, war zu. Ich hab anderthalb Tage gebraucht, um es rauszufinden. Das ist einer, der sich um die Sachen kümmert, die man im Museum anguckt. Die meisten Frauen brauchen Männer nur dafür, dass sie nicht merken, wie sie alt werden.

Manche Leute bekommen nicht genug Luft zum Atmen, wenn sie jung sind, sagte Jill.

Lewis widmete sich wieder ihrem Bericht und funkte das Hauptquartier an. Chief Gaskell war am anderen Ende. Sie erzählte, dass sie am Vormittag mit Eric Coolidge gesprochen hatte, der am Abend zuvor in der Nähe des Alten Passes Rauch hatte aufsteigen sehen. Lewis vermutete, dass sich Cloris Waldrip zu einer der Schutzhütten dort durchgeschlagen hatte, und sie sagte Gaskell, sie bräuchte ein Team mit einem Hubschrauber, um die Gegend abzusuchen.

Hören Sie, Debra, ich dachte, das Thema wäre durch. Over.

John, sie ist da draußen, und uns läuft die gottverdammte Zeit davon. Es gibt neue Informationen im Fall. Eric hat Rauch gesehen. Over.

Eric Toothlicker Coolidge zieht sich auch nackt aus und hängt sich kopfüber an die Bäume, weil er sich einredet, dass das gut fürs Gehirn ist. Erst neulich rief mich ein ziemlich ungehaltener Camper an, der das Pech hatte, das mitansehen zu müssen. Over.

Meinen Sie, das ist gut für sein Gehirn?, fragte Pete.

Lewis fuhr herum und legte einen Finger an die Lippen. Claude war mit dem alten Hund vor die Tür gegangen, und das Schloss war nicht eingerastet. Ein Windstoß stieß die Tür auf und ließ die Notizzettel und Mitteilungsblätter an der Pinnwand rechts von Lewis flattern. Ihr Blick fiel auf das Phantombild, das das glatte Gesicht des gesuchten dunkeläugigen jungen Mannes aus Arizona zeigte.

Ranger Lewis? Ranger Lewis, bitte kommen. Over.

Sie wandte sich wieder dem Funkgerät zu. Es könnte auch der Arizona Kisser sein. Over.

Haben Sie irgendeinen nachvollziehbaren Grund für diese Annahme? Over.

Das FBI glaubt, dass er sich in der Gegend versteckt. Eric Coolidge sieht Rauch von einer Schutzhütte aufsteigen. Vielleicht versteckt er sich in einer der gottverdammten Schutzhütten. In dem Quadranten gibt es nur drei Stück davon. Auf jeden Fall lohnt es sich, mal nachzuschauen, John. Over.

An der Behausung der McMillians führt eine Straße zum Alten Pass hoch, die früher die Bergarbeiter benutzt haben. Ganz ehrlich: Ich habe keinen Hubschrauber für Sie. Sie können aber gerne in ein paar Tagen, wenn der Schnee ein wenig getaut hat, mit Claude hinauffahren und es sich ansehen. Ist mir egal, so oder so. Ziemlich unwahrscheinlich. Ich weiß es nicht. Fahren Sie hinauf, und gehen Sie durch den Engpass, der zum alten Trapperpfad führt. Mehr kann ich im Moment beim besten Willen nicht für Sie tun. Passen Sie auf sich auf. Over.

Gut. Lassen Sie mich wissen, wenn sich was mit dem gottverdammten Heli ändert. Over.

Halten Sie durch, Ranger Lewis. Sagen Sie Bescheid, wenn wir hier unten irgendetwas für Sie tun können. Schöne Grüße von Marcy. Sie lässt ausrichten, dass sie Sie in ihre Gebete einschließt. Das tun wir alle. Over.