Er
Ivana Lorenz hat sich weitgehend an meine Empfehlungen gehalten. Sie trägt ein sandfarbenes Kostüm, flache Wildlederstiefel und ist dezent geschminkt. Na ja, zumindest für ihre Verhältnisse.
Und dennoch: die superblonden Haare, aufgespritzte Lippen wie ein Schlauchboot und die nicht zu kaschierende Oberweite (Doppel-D, das weiß ich aus den Unterlagen der Gegenpartei, in denen die Operationskosten als »großzügiges Investment in ihr seelisches Wohlbefinden« aufgelistet sind) machen es einem schwer, in ihr eine geschundene, vernachlässigte Ehefrau zu sehen, die ihrem Mann die besten Jahre ihres Lebens geopfert hat und sich nun wegen grober Zerrüttung ihrer Ehe scheiden lassen will.
Aber egal. Jedem Beteiligten muss auf den ersten Blick klar sein, worum es sich bei dem Ehepaar Lorenz handelt. Er – der klassische alternde Selfmademillionär, der es zu einem Vermögen gebracht hat, und sie – die ehemalige kroatische Schönheitskönigin, die ihm dabei behilflich war, dasselbe standesgemäß wieder auszugeben.
Ein Arrangement, das auch funktioniert hat. Zwölf Jahre lang, bis Hermann Lorenz kapiert hat, dass auch an ehemaligen Schönheitsköniginnen irgendwann der Zahn des Jetset-Lebens zu nagen beginnt und dass es für einen Millionär genügend Nachschub an willigem Frischfleisch gibt.
So hat es jedenfalls Ivana Lorenz geschildert, als sie vor zwei Monaten bei uns in der Kanzlei Fichtel & Wurzer auftauchte, um sich »so schnell und so ökonomisch wie möglich« von diesem Scheusal scheiden zu lassen. Wobei sie unter »ökonomisch« verstand, dass ihr mindestens das Penthouse, der Aston Martin, eine (die größere) von zwei Jachten sowie eine monatliche Abfindung nicht unter zwanzigtausend Euro zugesprochen werden müssten – von irgendwas müsse sie ja schließlich auch leben, nicht wahr?
Also habe ich mich an die Arbeit gemacht. Als Erstes kontaktierte ich meinen alten Kumpel Blinky. Blinky heißt eigentlich Johann Seitenstätter, ist ein ehemaliger Schulkamerad von mir und jetzt Privatdetektiv, und seine Aufgabe war es, die vermutete Untreue von Hermann Lorenz zu dokumentieren. Was ihm auch gelang, weshalb in meiner Aktentasche jetzt ein umfangreiches Dossier samt Fotomaterial über Hermann Lorenz’ Reisetätigkeit während der letzten beiden Monate steckt. Darauf ist auffallend oft eine junge Frau an seiner Seite zu sehen, die in denselben Hotels wie er abstieg, die mit ihm ausging und mit der er sogar ein paar Tage auf Fuerteventura verbrachte. Blinky gelang es zwar nicht, den alten Lorenz in flagranti abzuschießen, aber vor einer strengen Scheidungsrichterin würden wir damit allemal gute Karten haben.
Und das Wichtigste an der ganzen Sache: Unsere Gegenpartei hat keine Ahnung von unserer heißen Akte. Ich habe weder bei Telefonaten noch in irgendeinem unserer Schreiben auf die verfänglichen Fotos hingewiesen. Die sind unser Joker, und den haben wir auch bitter nötig.
Das Problem an dem Fall sind nämlich nicht nur die gesetzlichen Grundlagen – aufgrund derer die gute Ivana von einer dermaßen hohen Abfindung nicht mal träumen könnte –, sondern auch die Anwälte, die Hermann Lorenz konsultiert hat. Der hat natürlich nicht irgendeine Kanzlei genommen, sondern die beste der ganzen Stadt: Gessler & Bering, die Anwaltskanzlei schlechthin. Und da Hermann Lorenz nicht irgendein reicher Promi ist, sondern einer der reichsten und prominentesten überhaupt, wurde ihm bei Gessler & Bering auch nicht irgendein Anwalt zugeteilt, sondern das stärkste Kaliber, das sie haben: Dr. Rebecca Theesink. Intelligent, wortgewandt und juristisch mit allen Wassern gewaschen. In Fachkreisen hat man ihr den Spitznamen »Dobermann« verpasst, und der passt hervorragend zu ihr.
»Wann kommen die denn? Ob sie den Termin vergessen haben?« Ivana Lorenz rutscht ungeduldig auf ihrem Sessel herum. Wenn sie nervös ist, hört man ihren slawischen Akzent stärker als sonst. Wir sitzen nebeneinander im Konferenzraum von Gessler & Bering, der größer ist als die gesamte Kanzlei, für die ich arbeite, und wie erwartet lässt Rebecca Theesink uns ein wenig schmoren. Unser Besprechungstermin war um vier anberaumt gewesen. Ich bin mit Ivana Lorenz taktisch klug erst um zehn nach vier erschienen, und Rebecca Theesink brummt uns jetzt zusätzlich ein paar Minuten auf, um uns gleich unsere Grenzen aufzuzeigen.
»Das war zu erwarten.« Ich lege beruhigend meine Hand auf Ivanas Arm. »Das ist taktisches Geplänkel, weiter nichts.«
»Meinen Sie?« Sie erwidert nervös meinen Blick.
»Ja, machen Sie sich deswegen keine Sorgen.«
»Hm.« Sie nimmt einen Schluck von dem Kaffee, den uns eine von den drei (!) freundlichen Empfangsdamen gebracht hat. Dann greift sie in ihre Tasche und bringt einen Lippenstift zum Vorschein. Einen quietschroten, wie ich sehe, als sie ihn öffnet.
»Was wollen Sie denn damit?«, frage ich erschrocken, als sie ihn zu ihrem Mund führt.
Sie guckt mich entgeistert an. »Na, mir die Lippen nachziehen. Was denn sonst?«
Ich schüttle tadelnd den Kopf. »Was haben wir ausgemacht? Keine roten Lippen! Sie müssen unschuldig aussehen, schon vergessen?«
Sie macht ein Gesicht wie ein kleines Mädchen, dem man den Lolli wegnimmt, doch dann schlägt sie sich theatralisch vor die Stirn. »Ah, genau. Gut, dass Sie mich daran erinnern.« Sie lässt den quietschroten Lippenstift wieder in die Tasche fallen, zieht stattdessen einen rosaroten hervor und zieht sich damit ihre Lippen nach. Dann strahlt sie mich an. »Unschuldig genug?«
Tja, was soll ich dazu sagen? Nicht dass ich auf dieses Silikonzeugs stehe, aber bei solchen Lippen denkt man unweigerlich an …
»Ja, so passt es«, sage ich und vertiefe mich zum Schein wieder in die Unterlagen, die ich vor mir ausgebreitet habe. Dann blicke ich auf meine Uhr und sehe, dass es bereits zwanzig nach vier ist. Allmählich wird diese Hinhalterei unverschämt. Ich beschließe, noch fünf Minuten zu warten, dann werde ich den Termin platzen lassen, die unschuldige Ivana schnappen und kommentarlos die Kanzlei verlassen. Damit werde ich unsere Stärke demonstrieren, immerhin habe ich den Trumpf in der Tasche und nicht die.
Die Zeit verrinnt zäh, und als die fünf Minuten vorüber sind, beginne ich meine Unterlagen einzusammeln.
»Was tun Sie da?«, fragt Ivana erstaunt.
»Zusammenpacken. Wir haben es nicht nötig, uns hier für dumm verkaufen zu lassen«, sage ich und tue so, als ob das ein ganz normaler Vorgang wäre.
Insgeheim ärgert es mich aber, dass Rebecca Theesink so weit geht. Was denkt sie sich eigentlich? Dass ich hier wie ein dummer Schuljunge sitze und warte, bis die Frau Staranwältin endlich geruht, uns ihre kostbare Zeit zu widmen?
Ich habe gerade alles in meinem Aktenkoffer verstaut, als sich die Tür öffnet. Rebecca Theesink kommt herein, und im Schlepptau hat sie Hermann Lorenz. Sie sieht aus wie einer amerikanischen Anwaltserie entsprungen: perfekt sitzendes, dunkelblaues Kostüm, halbhohe Schuhe, das halblange, dunkle Haar exakt um ihre intellektuelle Schildpattbrille arrangiert. Sie sieht verdammt gut aus, das muss ich insgeheim zugeben.
Sie setzt sofort ein verbindliches Lächeln auf und steuert auf uns zu. Während sie uns die Hand reicht, sagt sie: »Frau Lorenz, Herr Dr. Becker. Sie sind ja bereits da.«
»Bereits da ist gut, Frau Dr. Theesink«, sage ich in strengem Tonfall. »Unser Termin war um vier. Frau Lorenz und ich wollten gerade wieder gehen.«
Rebecca schüttelt ungläubig den Kopf. »Wie bitte, um vier? Unmöglich.« Sie tippt hastig auf ihrem Blackberry herum. »Aber hier steht’s doch: sechzehn Uhr dreißig. Sehen Sie selbst!« Sie hält mir ihren Organizer hin.
Dieses Biest. Sie lässt mich gegen die Wand laufen, indem sie so tut, als hätte ich mich bei unserem Termin vertan. »Was beweist das schon, wenn es auf Ihrem Organizer steht, Frau Dr. Theesink?«, sage ich kühl.
Sie sieht mich mit ihren blauen Augen an. »Wir können gerne auch draußen im Terminkalender nachsehen«, schlägt sie mit Unschuldsmiene vor.
Natürlich. Als ob sie ihrer Sekretärin nicht die Anweisung gegeben hätte, den Termin nachträglich umzuschreiben.
»Lassen wir die Spielchen, Frau Dr. Theesink. Kommen wir lieber gleich zur Sache, wo wir schon mal da sind.« Ich gebe Ivana ein Zeichen, sich wieder zu setzen.
Rebecca Theesink nimmt mit einem triumphierenden Lächeln Platz, und Hermann Lorenz lässt sich schwerfällig neben ihr in einen Sessel fallen. Rebecca Theesink breitet sorgfältig ihre Unterlagen vor sich aus, dann sieht sie zu uns auf. »Also gut, Herr Dr. Becker, Sie haben uns um diese Unterredung gebeten, um …«
»Niemand hat um diese Unterredung gebeten, Frau Dr. Theesink«, falle ich ihr ins Wort. »Wir beide haben uns darauf geeinigt, dass es für beide Parteien von Vorteil wäre, zuerst eine gütliche Einigung zu suchen, bevor wir uns auf einen langwierigen Prozess einlassen.«
Sie sieht mich ein bisschen erstaunt an. »Nun, das ist ja nicht weiter von Bedeutung …«
Wieder falle ich ihr ins Wort: »Ob von Bedeutung oder nicht, ich möchte, dass wir bei den Fakten bleiben. Damit sind Sie doch sicher einverstanden?«
Wieder mustert sie mich erstaunt. Normalerweise gehe ich nicht so streng in eine Verhandlung, aber in diesem Fall musste ich ihr einfach eine Retourkutsche verpassen für ihren miesen Trick mit dem Termin.
»Gut, selbstverständlich«, sagt sie und schluckt ihren Ärger hinunter. »Also, zu den Forderungen Ihrer Mandantin …« Sie wirft wieder einen Blick in ihre Unterlagen. »Wie ich Ihrem Schreiben entnehme, erhebt Ihre Mandantin Anspruch auf das Penthouse, den Aston Martin und die Jacht Lady Ivana …« Sie tut so, als würde sie wieder nachsehen, obwohl sie die Zahlen bis auf den Cent genau im Kopf hat, jede Wette. »Und dazu noch zwanzigtausend Euro monatlich, zeitlich unbefristet. Ist das korrekt?« Mit einem neutralen Blick wartet sie auf meine Antwort.
Plötzlich gibt Hermann Lorenz ein wütendes Schnauben von sich. Sein aufgedunsenes Gesicht ist noch röter als sonst geworden. Wütend starrt er Ivana an. »Zwanzigtausend, du spinnst doch! Und die Lady Ivana gebe ich schon gar nicht her. Die taufe ich nur um, und zwar schleunigst!«
Ivana zuckt unter seinen Worten zusammen und sieht mich Hilfe suchend an.
Ich fasse Hermann Lorenz streng ins Auge. »Herr Lorenz, wir wollen hier ein konstruktives Gespräch führen. Ich bitte Sie um Sachlichkeit, und Beleidigungen verbitte ich mir, ist das klar?«
Hermann Lorenz holt tief Luft, um loszupoltern, aber Rebecca Theesink fasst ihn am Arm. »Natürlich, Herr Dr. Becker, wir sehen das genauso«, antwortet sie an seiner Stelle.
Lorenz schießt noch einen feindseligen Blick auf mich und Ivana ab und lässt es dabei bewenden. »Von mir aus, dann machen Sie mal«, grunzt er mit mühsamer Beherrschung.
Rebecca Theesink greift erneut nach ihren Unterlagen. »Also, Herr Dr. Becker, ist es korrekt, wie ich es wiedergegeben habe?«
»Ganz recht, Frau Dr. Theesink«, antworte ich ruhig.
»Nun …« Sie setzt einen amüsierten Blick auf. »Dann muss ich Sie jetzt wohl fragen, wie Sie auf diese total überzogenen Forderungen kommen? Sie wissen genauso gut wie ich, dass sie rechtlich gesehen jeder Grundlage entbehren.« Selbstzufrieden wartet sie auf meine Antwort.
So, jetzt wird’s lustig. Sie glaubt tatsächlich, dass sie alle Trümpfe in der Hand hält. Also gut, dann wollen wir Fräulein Neunmalklug mal eine Lektion erteilen.
Ich setze einen erstaunten Blick auf. »Rechtlich jeder Grundlage entbehren? Wie kommen Sie denn darauf?«, frage ich unschuldig.
Jetzt kommt’s. Sie wird uns einen elendslangen Vortrag halten. Über eheliches Güterrecht, über eheliches Gebrauchsvermögen, über Zugewinngemeinschaft, über Unterhaltsansprüche des geschiedenen Ehegatten, bla, bla, bla. Sie wird uns vorrechnen, dass Ivana nicht viel zu erwarten habe, da Hermann Lorenz sein Vermögen bereits vor der Verehelichung mit Ivana erwirtschaftet habe und es seitdem keinen nennenswerten Zugewinn gegeben habe. Und dass der monatliche Unterhalt keinesfalls so hoch ausfallen könne, da Herr Lorenz angesichts der schwierigen Wirtschaftslage nur über ein geringes Einkommen verfüge. Laut Steuererklärung.
Und wirklich, Rebecca Theesink legt gleich los. Systematisch betet sie alles herunter, nicht ohne die zugehörigen Paragrafen zu zitieren – darin ist sie ein Ass, das muss ich ihr lassen –, und hält dazu einen anschaulichen Vortrag über die »äußerst belastete finanzielle Situation« ihres Mandanten, wie sie es formuliert. Sie macht das so gut, dass dem alten Lorenz zwischendurch ganz mulmig wird und er ihr immer wieder überraschte Blicke zuwirft. Wenn sie so weitermacht, glaubt der am Ende selbst noch, er sei arm wie eine Kirchenmaus.
Auch Ivana wird neben mir immer kleiner, während Rebecca Theesink ihren perfekt einstudierten Monolog vorträgt. Ich dagegen sitze lässig und entspannt da, trinke zwischendurch einen Schluck Kaffee – bei der Hälfte des Vortrages unterbreche ich Dr. Theesink mit der Bitte um eine weitere Tasse, die sie mit einer Mischung aus Ärger und Erstaunen über die Sprechanlage weitergibt – und genieße es lächelnd, wie sie sich zum Affen macht.
Nur weiß sie das noch nicht.
Nach einer guten halben Stunde lehnt sie sich schließlich zurück und meint: »Aufgrund dieser Tatsachen, Herr Dr. Becker, sehen meine Kollegen und ich nicht die geringste Chance für Ihre Mandantin, Forderungen in dieser exorbitanten Höhe zugesprochen zu bekommen.«
Ich erwidere gelassen ihren Blick. War’s das? Gut, dann können wir ja zum Wesentlichen kommen. Zu der ungemein attraktiven Blondine zum Beispiel, mit der sich der gute Hermann Lorenz seine alten Tage versüßt, anstatt bei seiner armen, treuen (ist sie das, bei diesen Lippen?) Frau zu bleiben – in guten wie in schlechten Zeiten, wie es doch so schön heißt.
Ich greife in meinen Aktenkoffer und ziehe die Fotos heraus. Voller Genuss überlege ich, welches ich als Erstes auf den Tisch knallen werde. Das, auf dem sie gemeinsam das Ritz in Berlin verlassen? Oder das, auf dem er ihr in einer Hotelbar in Düsseldorf verliebt zuprostet? Oder das, auf dem sie auf Fuerteventura am Strand liegen und sie ihm zärtlich den Rücken massiert? Unsinn, das nehme ich natürlich als Letztes, davor präsentiere ich noch das mit …
»Ach, eines habe ich noch vergessen«, unterbricht Rebecca Theesink plötzlich meine diebische Vorfreude.
Was will sie denn noch? Sie hat doch schon alles gesagt. Mehr als das, sie hat eine halbe Stunde mit juristischen Ausführungen verplempert, die letztendlich völlig belanglos sind – weil Hermann Lorenz ein treuloser Windhund ist, der seine Frau betrügt.
»Und das wäre?«, frage ich ungeduldig.
Rebecca Theesink greift jetzt ihrerseits in ihren Aktenkoffer und holt Unterlagen hervor.
»Nur um zu unterstreichen, wie hart Herr Lorenz für sein vergleichsweise bescheidenes Einkommen arbeitet, haben wir noch eine Auflistung seiner Aktivitäten während der letzten beiden Monate zusammengestellt, samt den Reiseprotokollen und sämtlichen Belegen«, sagt sie ganz beiläufig. »Aber sehen Sie doch selbst.« Sie schiebt uns den ganzen Packen über den Tisch, und dabei ziehen sich ihre Mundwinkel ein kleines bisschen auseinander.
Eine Auflistung seiner Aktivitäten? Wer führt denn so was? Und vor allem: Wozu? Was bezwecken die damit?
Ich merke, wie es in meinem Magen zu kribbeln beginnt.
»Oh, ein paar Fotos gibt es dazu auch noch«, fügt Rebecca Theesink mit Unschuldsmiene hinzu. »Hier, bitte.« Sie schiebt sie uns über den Tisch.
Die Fotos zeigen Hermann Lorenz auf verschiedenen Veranstaltungen, meist im Gespräch mit irgendwelchen wichtig aussehenden Leuten, und auf gut der Hälfte der Fotos ist die blonde Sexbombe an seiner Seite.
Jetzt wird mir flau. Dieses ausgefuchste Anwaltsluder zeigt uns diese Fotos doch sicher nicht, um uns seine neue Gespielin zu präsentieren?
Und als hätte Rebecca Theesink meine Gedanken erraten, deutet sie in diesem Moment ganz gelassen auf ein Bild, auf dem Hermann Lorenz gerade einem hässlichen Mann im schwarzen Anzug die Hand schüttelt und die Blondine ehrfürchtig im Hintergrund steht. »Hier sehen Sie ihn bei einem Treffen mit dem rumänischen Wirtschaftsminister … die Dame im Hintergrund ist übrigens seine Marketingassistentin, Frau … wo habe ich noch gleich den Arbeitsvertrag …?« Sie tut so, als müsste sie danach suchen, was Hermann Lorenz erneut mit einem verwunderten Blick quittiert. »Ah ja … Frau Kiesewetter.« Mit diesen Worten schiebt sie mir mit unverhohlenem Triumph in den Augen ein anderes Dokument über den Tisch.
Es ist tatsächlich ein Arbeitsvertrag. Ein kurzer Blick auf das Datum reicht, um meine schlimmsten Befürchtungen wahr werden zu lassen. Das Datum liegt zwei Monate zurück, was bedeutet, dass diese Isabella Kiesewetter seit unserer Beschattung als offizielle Mitarbeiterin von Hermann Lorenz geführt ist. Und nicht als Geliebte, sondern als seine Marketingassistentin, was ein sehr dehnbarer Begriff ist.
Ich merke, wie ich in meinem Sessel zu versinken beginne, doch dann fällt mir noch etwas ein. Ein winziger, aber vielleicht doch rettender Strohhalm: Das Strandfoto, auf dem sie ihm den Rücken massiert. Ha! Ein gemeinsamer Urlaub auf Fuerteventura wird sich wohl kaum finden bei seinen Reiseabrechnungen. Dann soll er doch mal erklären, was für tolle Geschäfte er dort mit dem Fräulein Marketingassistentin abgewickelt hat.
Kampfeslustig blicke ich zu Rebecca Theesink hoch, doch auch das scheint sie kein bisschen zu erschüttern.
»Das hier ist auch interessant«, sagt sie mit zuckersüßer Stimme. Das Foto, das sie in der Hand hält, zeigt eine gutgelaunte Runde älterer Herren in Hawaiihemden und Sonnenhüten, die sich gegenseitig zuprosten, darunter auch Hermann Lorenz und neben ihm – das sexy Marketingwunder.
»Raten Sie mal, wo das war«, sagt Rebecca Theesink mit blitzenden Augen.
»Auf Fuerteventura?«, erwidere ich schwach.
Sie nickt eifrig. »Genau. Eine kleine Feier anlässlich einer Grundstücksübergabe. Herr Lorenz konnte dort einen großen Bauauftrag an Land ziehen.« Sie macht eine abschwächende Geste mit der flachen Hand. »Nicht dass der viel einbringen würde …« Hermann Lorenz holt Luft und will schon wieder etwas sagen, doch Rebecca Theesink bringt ihn mit einem einzigen Blick zum Schweigen. »… aber es beweist, wie hart dieser Mann für sein Geld schuftet. Beeindruckend, nicht wahr?«
Meine Gesichtszüge entgleisen. Wir sind tot. Wir haben nichts, gar nichts – außer dem Beweis, dass sich Hermann Lorenz mal von seiner Marketingassistentin anlässlich einer Geschäftsreise den Rücken einschmieren ließ.
Wow, das wird den Richter aber umhauen.
Das war’s, der Fall ist gelaufen.
Rebecca Theesink lächelt jetzt nicht mehr, sie lacht fast schon, und auch Hermann Lorenz hat ein hämisches Grinsen auf seiner fetten Visage. Diese Mistbande hat sich da was Feines ausgedacht, einen klug vorbereiteten, perfekten Plan, wie sie uns ausbooten können.
»Nun, Herr Dr. Becker, was sagen Sie?«, fragt Dr. Theesink langsam, und sie fühlt sich sichtlich wohl in ihrer Rolle als gewitzte Anwältin. »Glauben Sie tatsächlich noch, dass Sie diesen Fall gewinnen können?«
Eine gute Frage. Eine unnötige Frage, deren Antwort sie ebenso kennt wie ich.
»Nun, Frau Dr. Theesink, nach sorgfältiger Abwägung aller Umstände«, höre ich mich sagen und registriere die lauernden Augen meiner Gegner, »… bin ich zu dem Schluss gekommen, dass …« Rebecca Theesink und Hermann Lorenz beugen sich gespannt vor. »… unsere Chancen, diesen Prozess zu gewinnen, ganz ausgezeichnet stehen.«
Sie können ihre Verblüffung nicht verbergen. Rebecca Theesinks Kinnlade klappt für einen Moment herunter, und Hermann Lorenz gibt ein ungläubiges Schnaufen von sich.
Und Ivana lacht erleichtert auf.
»Sie glauben doch selbst nicht …«, stößt Rebecca Theesink hervor.
Ich unterbreche sie mit einer einzigen Handbewegung. »Ich denke, für heute haben wir genug geredet, Frau Dr. Theesink. Wir sehen uns in zwei Wochen vor Gericht wieder. Dann werden wir die ganzen Fakten auf den Tisch legen.«
Ehe sie noch etwas sagen kann, erhebe ich mich, und Ivana tut es mir gleich. Ich verabschiede mich mit professioneller Höflichkeit und lasse sie mit offenen Mündern stehen. Ivana trippelt wie ein ergebenes Hündchen hinter mir her.
Als wir an den Aufzügen stehen, fragt sie: »Das lief doch super, nicht wahr? Kriege ich jetzt alles? Das Penthouse, den Wagen und die Lady Ivana?«
Super? Ein kurzer Blick in ihr Gesicht sagt mir, dass sie das tatsächlich glaubt. Die einzig ehrliche Antwort auf ihre Frage wäre: »Schätzchen, vergiss die Kohle von deinem Alten, und den Namen Lady Ivana wirst du nur noch hören, wenn du dich irgendwo als Domina bewirbst.«
Aber ich bringe es nicht fertig. Ich kann ihr die kindliche Freude nicht rauben. Daher sage ich: »Läuft alles wie geschmiert, Frau Lorenz. Wie geschmiert.«
Das ist eine glatte Lüge. Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, werden wir in diesem Prozess schneller untergehen als die Titanic, so viel ist sicher.
»Super!«, wiederholt Ivana begeistert. Dann schenkt sie mir einen Blick voll Bewunderung. »Sie sind echt der Größte, Herr Dr. Becker.«
»Mmm«, brumme ich geistesabwesend. Mehr fällt mir dazu im Moment nicht ein. Während ich auf die Anzeigetafel des Aufzugs starre, rasen die Gedanken durch meinen Schädel.
Wie zum Teufel sind die nur darauf gekommen? Das war doch kein Zufall, dass Rebecca Theesink ausgerechnet in dem Moment, als ich die Fotos vorlegen wollte, mit ihren verdammten Aufzeichnungen daherkam? Und dazu noch dieser Arbeitsvertrag. Wenn der gültig ist – und davon muss ich wohl ausgehen –, dann ist der Zug für uns abgefahren. Isabella Kiesewetter, Marketingassistentin. Dass ich nicht lache. Aber woher wussten die, dass dieses blonde Gift unser Ass im Ärmel war? Ich habe nur mit meinen Kollegen in der Kanzlei darüber geredet, und die sind professionell genug, um nichts auszuplaudern.
Von Blinky vielleicht? Nein, ausgeschlossen. Von dem etwas über einen aktuellen Fall zu erfahren, ist nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. Da könnte man ebenso gut bei Coca Cola anrufen und mal eben nach der geheimen Formel für ihr braunes Sprudelwasser fragen.
Dann drängt sich langsam eine Szene in mein Bewusstsein. Es ist schon länger her – vielleicht zwei Monate –, da diskutierten Sandra und ich über Beziehungen. Ganz allgemein. Irgendwann kamen wir auch auf den Sinn der Ehe zu sprechen und darauf, wie viele davon nach einigen Jahren in die Brüche gehen. Ich erwähnte, dass das Finanzielle auch ein wichtiger Faktor sei, und ich glaube mich erinnern zu können, dass ich auf ihren Protest hin einräumte, dass Geld natürlich keine Garantie für Beständigkeit sei. Und ich habe …
Verdammt! Ich habe den alten Lorenz als Beispiel angeführt. Den alten Lorenz mit seiner jungen Geliebten. Genau so war es.
Aber kann Sandra so leichtsinnig gewesen sein, das weiterzuerzählen? Ich meine, wo sie doch weiß, dass solche Informationen entscheidend für einen Prozess sein können? Dass sie der anwaltlichen Schweigepflicht unterliegen? Und dass ich streng genommen nicht einmal mit ihr darüber reden dürfte?
Das weiß sie doch, oder?
Dann taucht ein anderes Bild vor meinem geistigen Auge auf: Sandra und ihre Freundinnen. Wie sie sich unterhalten. Schnattern wie ein Haufen aufgeregter Gänse! Unmöglich, sich vorzustellen, dass da nicht ab und zu intime Details ausgeplaudert werden. Die erzählen sich doch alles, einfach alles! Und dann noch so wunderbar frische Schmutzwäsche über einen Promi …
Verdammt noch mal! Natürlich, das muss es sein! Sandra hat es jemandem erzählt. Ihrer Freundin Susi zum Beispiel. Oder Kerstin im Kindergarten. Oder ihrer Mutter. Oder …
Es gibt unzählige Personen, denen Sandra das erzählt haben könnte. Und diese Personen haben dann mit anderen Personen geredet, und die wieder mit ihren Bekannten und … Ich hätte es ebenso gut aufs Titelblatt der Bild-Zeitung drucken lassen können.
Die Erkenntnis trifft mich wie ein Hammerschlag.
Sandra war die undichte Stelle! Sie hat herumgetratscht und damit meine Karriere zerstört – gerade jetzt, wo es doch auch sonst nicht so gut läuft.
Ich bin fassungslos. Auf einmal spüre ich, wie die Wut in mir hochkommt. Ich muss sie sofort anrufen, sie fragen, ob sie jemandem davon erzählt hat. Sie wird es natürlich abstreiten, aber sie ist eine schlechte Lügnerin. Ich werde es sofort heraushören, ob sie das war oder nicht.
Und wenn doch, dann gnade ihr Gott!
Spontan greife ich nach meinem Handy, kann mich dann aber gerade noch rechtzeitig zügeln. Ich kann jetzt nicht anrufen, zumindest nicht, solange Ivana Lorenz neben mir steht und mich wegen meiner Cleverness anhimmelt. Sie würde alles mitbekommen, und dann wäre schon hier alles vorbei.
Ich mache ein paar tiefe Atemzüge, um mich zu entspannen, und bemühe mich krampfhaft um einen souveränen Gesichtsausdruck.
Endlich kommt der Aufzug. Die Türen öffnen sich, und in dem Moment sehe ich Rebecca Theesink aus der Kanzlei kommen. Als sie uns erblickt, bleibt sie überrascht stehen. Einen Augenblick lang wirkt sie unschlüssig, dann setzt sie ein überlegenes Lächeln auf.
Sie weiß es. Ich kann es an ihrem Gesichtsausdruck sehen. Sie weiß, dass ich geblufft habe, sie weiß, dass ich nichts, absolut gar nichts in der Hand habe für den bevorstehenden Prozess.
Dennoch lächle ich trotzig zurück. Ich schiebe Ivana Lorenz vor mir in den Lift, und das Letzte, was ich von Rebecca Theesink zu sehen bekomme, ist der Hohn in ihren Augen.
Nicht zu fassen, wie sich diese Frau am Unglück anderer weidet.
Und nicht zu fassen, dass ich mit ihr fünf Jahre meines Lebens verbracht habe.