Ich

»Er hat dich für Sandy Wild gehalten? Wahnsinn!« Kerstin kichert unbekümmert drauflos. Dann hält sie ihre Hände wie ein Kameraobjektiv vor mein Gesicht und betrachtet mich aus zusammengekniffenen Augen. »Obwohl, mit einer blonden Perücke und greller Schminke …«

Wir sitzen unter der Eiche im Innenhof des Kindergartens. Die Kinder toben ausgelassen über den Platz, und ich habe immer noch einen leichten Kater von gestern Abend.

Susi und ich haben immer wieder auf meinen großen Durchbruch angestoßen und dabei drei Flaschen Prosecco geleert, und als mir die Sache mit Martin wieder einfiel und ich erneut losheulte, hat sie mich ganz lieb getröstet und zu Bett gebracht. Irgendwann bin ich dann eingeschlafen, und heute früh habe ich Martins SMS auf meinem Handy entdeckt. Er kann beim Schreiben auch nicht mehr ganz nüchtern gewesen sein, denn da stand:

Wolkte micht so grob rein. Wir qeden norgen in Suhe. Mastin.

Aber wenigstens scheint er sich wieder halbwegs beruhigt zu haben, worüber ich unendlich erleichtert bin.

Jetzt schiebe ich Kerstins Hände von meinem Gesicht weg. »Sag bloß, du kennst die?«, frage ich sie.

»Sandy Wild? Klar kenne ich die. Wer kennt die nicht?«, fragt Kerstin amüsiert zurück.

»Na, ich zum Beispiel … Aber woher kennst du sie? Sag bloß, du und Ludger guckt euch solche Filme an.«

»Also, meistens sieht Ludger sie sich alleine an«, erklärt Kerstin, als wäre das ganz normal.

Ich mache große Augen. »Und es macht dir gar nichts aus, dass er sich alleine Por …« Aus den Augenwinkeln sehe ich Leonie und Jasmin in Hörweite spielen. »… so was anguckt?«

Kerstin scheint jetzt ihrerseits erstaunt zu sein. »Aber nein, wieso denn? Er hat seine Freude daran, und solange er nur guckt …«

Ich bin echt beeindruckt, und das nicht zum ersten Mal. Kerstin und Ludger sind das seltsamste Paar, das ich kenne. Allein vom Äußeren her: Kerstin hat ein hübsches Gesicht, ist aber ziemlich groß und stämmig, Ludger dagegen ist einen halben Kopf kleiner als sie, hat ein Pferdegesicht und ist klapperdürr. Ich kenne die beiden jetzt schon einige Jahre, und ich habe noch nie erlebt, dass Kerstin je ein schlechtes Wort über ihn verloren hätte, oder er über sie, geschweige denn, dass sie sich jemals gestritten hätten.

Im Gegenteil, manchmal ist es richtig peinlich, wie verliebt sie miteinander herumturteln.

»Aber wirst du da nicht eifersüchtig?«

»Eifersüchtig? Quatsch. Sind doch bloß Filme. Das ist wie Superman oder Donald Duck, alles nicht echt.« Sie macht eine wegwerfende Handbewegung.

Ich beneide sie. Das ist anscheinend das Geheimnis ihrer guten Beziehung: Sie sieht die Dinge locker, und deswegen prallen solche Probleme ganz einfach von ihr ab.

Kerstin bemerkt meine nachdenkliche Miene. »Und du und Martin, ihr habt Probleme?«, erkundigt sie sich vorsichtig.

Ich habe das Thema vorhin angeschnitten, aber dann kam uns Aisha dazwischen, die sich ein Tictac in die Nase gesteckt hatte.

»Äh, ja, gestern ist was passiert …« Beim Gedanken daran überkommt mich gleich wieder ein mulmiges Gefühl. Ich erzähle Kerstin, was vorgefallen ist, und zeige ihr die SMS, die Martin mir in der Nacht geschrieben hat.

Kerstin nickt verständnisvoll. »Das war sicher ein harter Schlag für ihn. Andererseits konntest du nicht wissen, dass das so wichtig für ihn war …« Sie deutet auf mein Handy. »Und mit seiner Nachricht hat er das ja auch indirekt zugegeben, nicht wahr?« Sie tätschelt beruhigend meinen Arm. »Du wirst sehen, das renkt sich alles wieder ein.«

Ich versuche ein Lächeln. »Ja, wahrscheinlich hast du recht.«

Kerstin betrachtet mich forschend. »Ist sonst noch was?«

»Ach, ich weiß nicht …«, beginne ich zaghaft.

»Komm schon, raus damit!«, ermuntert sie mich.

»Also, ich bin mir nicht sicher, aber in letzter Zeit, da ist es … irgendwie anders …«

Kerstin beugt sich interessiert vor. »Was? Eure Beziehung?«

Ich nicke. »Mmm. Weißt du, mal abgesehen von diesem Missgeschick … ich werde das Gefühl nicht los, dass es zwischen uns nicht mehr so richtig läuft.«

Kerstin macht ein besorgtes Gesicht. »Wie meinst du das? Streitet ihr euch? Habt ihr finanzielle Probleme?«

Ich schüttle den Kopf. »Nein, das ist es nicht. Martin verdient ja gut – Geld ist eigentlich gar kein Thema zwischen uns. Und richtigen Streit haben wir auch nie, es ist nur … in den letzten Monaten ist er anders als früher. Weißt du, früher ging er öfters mit mir aus, er brachte ab und zu Blumen mit, und er machte mir Komplimente …«

Kerstin wirkt gar nicht überrascht. »Ja, ja, die erste Verliebtheit, die geht irgendwann vorbei. Und je schneller man sich ineinander verliebt hat, desto schmerzlicher empfindet man das. Bei mir und Ludger war das deswegen kein Problem, weil ich ihn schon einige Jahre gekannt habe, bevor wir ein Paar wurden. Das wuchs erst langsam, da hat es nicht sofort gefunkt wie zwischen dir und Martin.«

»So schnell hat es bei uns eigentlich auch nicht gefunkt«, widerspreche ich.

Auf einmal muss ich daran denken, wie Martin und ich uns kennengelernt haben. Eine Freundin hatte mir damals zum Geburtstag eine dreimonatige Mitgliedschaft für einen Fitnessclub geschenkt (übrigens ein Geschenk, das mir zu denken gab, vor allem, weil sie dort selbst nicht Mitglied war), und am Anfang war ich natürlich schwer beeindruckt von all den wundersamen Maschinen und den unglaublich fitten Menschen, die es da gab.

Bis dahin hatte ich noch nie einen ausgewachsenen Bodybuilder aus der Nähe gesehen, und bei so einem Anblick schießen einem unwillkürlich ein paar Fragen durch den Kopf: Ist an dem alles so hart? Bekommt man von hartem Training Haarausfall? Machen Anabolika braun? Platzt der, wenn ich ihn mit einer Nadel piekse?

Und nicht nur die Männer waren da so, auch die Frauen. Zwar nicht so muskulös, aber doch überwiegend schlank und straff, und ich rang einige fassungslose Minuten mit der Erkenntnis, dass ich das einzig Weiche in dem ganzen Raum war.

Doch dann sah ich Martin, und das Erste, was ich bei seinem Anblick empfand, war nicht Liebe, sondern Erleichterung.

Er hatte nicht so viele Muskeln wie die anderen. Er sah ganz normal aus. Er sah aus wie ich.

Das war es, was mir sofort an ihm auffiel. Ich dachte, er sei auch Anfänger, vielleicht hat er auch einen Gutschein geschenkt bekommen, vielleicht fühlt er sich auch so deplatziert unter all diesen Fitnessfreaks. Vielleicht sind wir seelenverwandt.

Irgendwann wurde er dann auf mich aufmerksam, das sah ich an seinen verstohlenen Blicken. Ich ließ mich jedoch nicht davon beirren, sondern befolgte eifrig die Anleitungen der Instruktorin, und als ich auf einem Trainingsgerät saß und meine Bauchmuskeln malträtierte, kam er auf einmal auf mich zu und kniete sich direkt vor mich hin.

Das brachte mich völlig aus dem Konzept, und ich fühlte, wie ich rot anlief. In meiner Verlegenheit machte ich einfach meine Übungen weiter, obwohl meine Bauchmuskeln bereits höllisch wehtaten, und auch er tat so, als konzentriere er sich nur auf einen Fleck am Boden.

Dann geschah es: Unsere Blicke trafen sich. Einen Moment lang war das superpeinlich, und ich war froh, als er mich dann ansprach. Wir wechselten ein paar belanglose Sätze, wobei ich kaum noch Luft bekam und insgeheim schon meine Trainerin verfluchte, weil die mich nicht von diesem Foltergerät erlöste. Dann wurde ich aber neugierig. »Was genau machst du da eigentlich?«, fragte ich schnaufend.

Er antwortete: »Stretching, für die Adduktoren.«

Ich hatte keine Ahnung, was Adduktoren sind, und dachte entsetzt: Dehnt der etwa seine …?!

Dann kam endlich meine Trainerin. »So, Sandra, aufgewärmt bis du inzwischen. Und jetzt machen wir das Ganze mit ein bisschen Gewicht.« Sie verstellte etwas hinter meinem Rücken, und als ich die Schaumstoffrolle wieder nach vorne pressen wollte, rührte sich auf einmal überhaupt nichts mehr. Na fein, dachte ich, jetzt hat die doofe Nuss das Gerät blockiert.

»Ich dachte immer, das ging ruck, zuck bei euch«, holt Kerstin mich wieder in die Gegenwart zurück.

Ich schüttle den Kopf. »Nein, ich meine … ich fand ihn gleich sympathisch, das schon, aber es war nicht Liebe auf den ersten Blick, falls du das meinst. Das kam erst nach ein paar Verabredungen.«

»Aber dann dafür richtig, stimmt’s?«

»Stimmt«, sage ich leise. Ich lächle, und mir wird ganz warm ums Herz, als ich an unseren ersten Kuss denke. Es war unten an der Isar in einer lauen Sommernacht, und es war der schönste Moment meines Lebens. Martin war so zärtlich und behutsam, und damals dachte ich, das würde für immer so bleiben.

»Wow!« Kerstin starrt mich mit großen Augen an.

»Was ist?«, frage ich unsicher.

»Du hättest dich mal sehen sollen, gerade eben. So verliebt habe ich noch nie jemanden gucken sehen.« Sie wird ganz aufgeregt. »Also, eines weiß ich, Sandra: wenn man einmal so verliebt war wie ihr, dann darf man das nicht einfach wegwerfen. Dann muss man darum kämpfen.« Sie macht ein entschlossenes Gesicht. »Also, erzähl: Was hat er denn so Unmögliches getan in letzter Zeit?«

Ich lege die Stirn in Falten und versuche meine Aussage zu konkretisieren.

»Na ja, er ist nicht mehr so aufmerksam … und er hört mir nicht mehr richtig zu. Ja, genau, das ist es«, sage ich bestimmt.

»Zuhören? Wenn du wovon redest?« Ich komme mir vor wie bei einem Verhör. Fehlt nur noch die grelle Lampe – aber die Sonne blendet ja auch ganz ordentlich.

»Na, von meiner Arbeit zum Beispiel. Oder von meinem Buch.« Jetzt fühle ich sogar ein bisschen Ärger in mir hochsteigen. »Mir kommt es so vor, als würde er das alles für Kinderkram halten im Vergleich zu dem, was er tut, verstehst du? Er macht sich lustig darüber. Und von mir erwartet er, dass ich jedes Mal vor Begeisterung zusammenbreche, wenn er irgendetwas Tolles geschafft hat.«

Kerstin schweigt einen Moment lang. Dann beginnen auf einmal ihre Mundwinkel zu zucken.

»Was ist?«, frage ich verwirrt. »Findest du das etwa auch lustig?«

Sie schüttelt den Kopf. »Nein, es ist nur …« Jetzt kann sie sich ein Grinsen nicht mehr verkneifen. »Es ist doch alles Kinderkram! Du redest vom Kindergarten und von Kinderbüchern … das ist alles Kinderkram.«

Jetzt fällt bei mir der Groschen, und gegen meinen Willen muss ich plötzlich auch kichern. Dann prusten wir beide los, und es dauert ein paar Minuten, bis wir uns wieder eingekriegt haben.

»Nein, im Ernst«, schnieft Kerstin dann und wischt sich die Tränen vom Gesicht. »Ich verstehe schon, was du meinst. Du glaubst, er hält alles, was du tust, für unbedeutend.«

»Genau«, nicke ich.

»Und umgekehrt geht er dir manchmal auf die Nerven«, mutmaßt sie weiter.

»Ja, stimmt. Wenn er sich zum tausendsten Mal über seine ach so interessanten Fälle auslässt, zum Beispiel. Oder wenn er gar nichts sagt, sondern sich nur kommentarlos vor die Glotze hockt. Oder wenn er gleich im Cheerio hängen bleibt und ich mal wieder allein zu Hause rumsitze. Das ist doch respektlos, oder etwa nicht?«

Kerstin nickt nachdenklich. »Ja und nein«, sagt sie dann mystisch. »Der springende Punkt ist: Frauen verstehen Männer nicht, und umgekehrt verstehen Männer Frauen nicht …« Sie macht ein Gesicht, als hätte sie mir gerade die Weltformel erklärt.

»Aha?«

»Verstehst du?«, fragt Kerstin, als sie meine ratlose Miene sieht.

»Nein.«

Kerstin schickt einen Hilfe suchenden Blick in die Baumkrone. »Ich weiß, das ist schwierig zu erklären. Also, es gibt da gewisse Verhaltensmuster bei Männern und Frauen, die sie einfach haben. Die sind evolutionsbiologisch bedingt, da können sie gar nichts dagegen tun, die haben sich schon in grauer Vorzeit entwickelt. Zum Beispiel, dass Männer aus allem einen Wettkampf machen und nie Fehler zugeben oder dass Frauen immer hübsch sein wollen und so viel reden und immer gleich auf andere Frauen eifersüchtig sind …«

Allmählich kapiere ich, worauf sie hinaus will. »Okay, ich verstehe. Und weiter?«

»Das Problem ist, dass die wenigsten wissen, warum sich ihr Partner so verhält. Wenn du das erst mal verstanden hast, siehst du alles viel lockerer, glaub mir.«

»Ist das der Grund, weshalb es zwischen dir und Ludger so gut funktioniert?«

Sie nickt. »Das ist ein wesentlicher Teil. Das und der gute Sex. Da könnte ich dir übrigens auch ein paar Tipps geben.«

Bei der Vorstellung, wie sie und Ludger Sex haben, durchläuft mich ein Schaudern. »Oh, nicht nötig«, sage ich hastig. »Aber mich würde schon interessieren, warum Männer so anders ticken als Frauen.«

Die Vorstellung, dass Martin und ich zu ähnlicher Harmonie finden könnten wie Kerstin und Ludger, hebt meine Stimmung augenblicklich.

Kerstin strahlt. »Ludger und ich haben so ein Buch gelesen, das müsstest du dir …« Auf einmal unterbricht sie sich. »Das müsste doch hier sein, das habe ich doch erst … Warte!« Sie springt auf wie von der Tarantel gestochen und flitzt mit erstaunlicher Geschwindigkeit ins Haus.

Keine Minute später ist sie wieder zurück. Sie schwenkt ein kleines rotes Büchlein in der Hand und sieht ganz glücklich aus. »Ich hatte es hier, in meinem Schrank, weil ich es erst neulich Mona geborgt habe. Hier bitte, das ist es!« Sie gibt mir das Buch und sieht mich dabei an, als würde sie mir den Heiligen Gral überreichen.

Ich wende es hin und her und bin ein wenig überrascht. In diesem kleinen Büchlein soll ich die Antwort auf alles finden? Ich hätte mir da eher so einen dicken, wissenschaftlichen Wälzer vorgestellt. Nachdenklich betrachte ich den Umschlag.

Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken von Allan & Barbara Pease. Hm. Davon habe ich schon mal gehört, meine ich mich dunkel zu erinnern. Aber ich hab’s nie gelesen.

Allein der Titel: Warum Frauen schlecht einparken. Was soll das denn heißen? Ich bin mit meinem Mini bis jetzt noch in jede Parklücke reingekommen. Okay, bis auf letztes Mal. Da habe ich eine Zeit lang rumgemurkst und es dann aufgegeben. Und im Rückspiegel gesehen, wie hinter mir ein Kleintransporter reinfuhr …

Und dass Männer nicht zuhören – okay, das stimmt.

Kerstin bemerkt meinen skeptischen Blick. »Sandra, vertrau mir«, sagt sie mit eindringlicher Miene. »Lies das Buch, und du wirst endlich verstehen, wie Männer ticken. Und dann gib es Martin.«

»Und du meinst tatsächlich, das hilft uns weiter?«

»Wenn ich’s dir sage«, sagt sie mit verschwörerischer Miene. »Lesen und verstehen, das ist das Wichtigste, und zwar alle beide. Kapiert?«

»Verstehe«, sage ich und mache dabei ihren Tonfall nach.

Dann müssen wir beide kichern.