Er

Ich bin ebenso überrascht wie erleichtert. Das Gebäude ist auf stilvolle Art beeindruckend. Die Fassade zieren riesige Reliefs mit halbnackten Barockengeln, und vor dem Eingang ragen drei riesige, goldene Säulen vom Marmorboden bis hinauf zum Dach. Rein vom Äußeren her hätte man eher auf ein Museum für antike Kunst getippt als auf ein Bordell.

Als ich die Venusbar betrete, brauche ich ein paar Sekunden, bis sich meine Augen vom hellen Sonnenlicht auf die gedämpfte Beleuchtung umgestellt haben.

Auch im Inneren ist alles vom Feinsten. Ich gehe durchs Foyer und gelange in einen großen Barraum. Als meine Schuhe in einem zentimeterdicken Teppich versinken, verharre ich kurz und lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. Zu meiner Linken gibt es eine Vielzahl von Nischen und Winkeln mit gemütlichen kleinen Tischen und dick gepolsterten Sitzmöbeln, und direkt gegenüber entdecke ich eine kleine Showbühne, die momentan leer ist. Rechts erstreckt sich eine endlos lange Theke mit viel poliertem Messing, funkelnden Gläsern und Spiegeln. Dahinter steht eine hübsche Frau mit kurzem, braunem Haar und lächelt mir freundlich entgegen. Ich steuere sie an und nehme auf einem der Barhocker Platz. Dabei zucke ich ein bisschen zusammen. Diese verdammte Sauna. Der Splitter, den ich mir vorgestern eingezogen habe, scheint hartnäckig zu sein. Ich habe mir heute Morgen ein dickes, gepolstertes Pflaster über die Stelle geklebt, aber beim Sitzen tut es dennoch weh.

»Hallo. Ich bin Clarissa«, stellt sie sich vor.

»Äh, ja … Hallo, Clarissa. Ich bin Martin.« Dabei komme ich mir vor wie bei einer Selbsthilfegruppe.

»Zum ersten Mal hier?«

»Ja, richtig.«

»Was möchtest du trinken?«

»Ein Mineralwasser, bitte.«

Sie zieht erstaunt die Augenbrauen hoch, dann geht sie zu einer der Kühlladen und angelt eine Flasche Perrier heraus. Dabei kann ich sehen, dass sie eine zierliche Figur hat, die durch das enge, aber dennoch stilvolle Kleid zusätzlich betont wird.

Während sie Eiswürfel in ein Glas schaufelt und es mit dem Mineralwasser auffüllt, habe ich Zeit, mich etwas genauer umzusehen. Jetzt am Nachmittag ist nicht viel los. An einigen der Tische entdecke ich junge Frauen, die allesamt gut aussehend und leicht bekleidet sind. Sie taxieren mich mit diskreter Neugierde, und mit dem Wissen, dass es sich dabei um Professionelle handelt, fühle ich mich plötzlich wie ein Beutetier, auf das sie sich gleich stürzen werden.

»Hier, bitte.« Clarissa stellt das Glas vor mir ab. Dann fragt sie unbefangen: »Hübsch, unsere Damen, nicht wahr? Schon was Passendes entdeckt?« Dabei deutet sie in Richtung der Mädchen.

Ich verschlucke mich fast an meinem Mineralwasser. »Oh, ich bin nicht deswegen hier«, stelle ich schnell klar. »Ich komme wegen Erich Bender. Ist er da?«

Bender, so heißt der Besitzer des SL, und nicht Lick. Ich bin immer noch sauer auf Schmidt, weil er mir diese Zuhälterkarre angedreht hat. Außerdem hätte er mir sagen müssen, dass der Wagen nicht vollkaskoversichert ist. Nur, rein rechtlich habe ich jetzt ein Problem. Ich hätte mich selbst vergewissern müssen, ob das Fahrzeug ausreichend versichert ist, aber in meiner Blödheit bin ich ja gleich losgedonnert, ohne auch nur eine einzige Frage zu stellen.

Und jetzt habe ich die Bescherung. Als Schmidt mir gestern mitteilte, dass der Schaden sich auf mindestens zehntausend Euro beläuft, hätte ich ihn am liebsten auf der Stelle erwürgt. Wo soll ich denn so mir nichts, dir nichts zehntausend Mäuse herzaubern? Auf meinem Konto sieht es zappenduster aus, da geht im Moment gar nichts. Ich kann das gar nicht bezahlen.

Als ich mit wackeligen Knien diesen Bender anrief, plagten mich schreckliche Visionen von einem rasenden Zuhälter, der mir sämtliche Knochen bricht, wenn ich nicht sofort mit der Kohle rüberkomme. Doch Erich Bender klang am Telefon äußerst kultiviert und schien auch gar nicht besonders verärgert darüber zu sein, dass ich seinen Wagen demoliert hatte. Stattdessen schlug er mir ein Treffen vor, heute um vier in der Venusbar, um alles in Ruhe zu besprechen, wie er sagte.

»Erich?« Auf Clarissas Gesicht spiegelt sich eine Mischung aus Neugierde und schlechtem Gewissen, weil sie mich für einen Freier gehalten hat. »Klar, der sitzt da hinten am Tisch.« Sie zeigt mit dem Finger über meine Schulter. »Erich! Kommst du mal?«, ruft sie.

Ich folge ihrer Hand mit meinen Augen, und jetzt erst entdecke ich drei Männer an einem Tisch, den ich vorhin übersehen habe, weil er durch ein Pflanzenarrangement vom Rest des Raumes optisch getrennt ist. Die drei sehen herüber, und mich beschleicht gleich wieder ein mulmiges Gefühl. Eine Stimme am Telefon kann täuschen, und womöglich ist es kein Zufall, dass die zu dritt sind.

Und tatsächlich, jetzt erheben sich alle drei. Zwei von ihnen sind riesig, im Format von Joe Winzigmann, würde ich mal schätzen, der dritte sieht dagegen vergleichsweise klein aus. Er trägt einen dunklen Anzug und hat kurz geschnittenes, schwarzes Haar, und zu meiner Erleichterung gibt er den anderen beiden ein Zeichen, sich wieder zu setzen. Dann kommt er mit flotten Schritten auf mich zu.

»Herr Dr. Becker! Pünktlich auf die Minute. Freut mich, Sie kennenzulernen.« Er streckt mir lächelnd die Hand entgegen, und als ich aufstehe, merke ich, dass er fast einen Kopf kleiner ist als ich.

»Mich auch, Herr Bender. Wenngleich der Anlass ja nicht so erfreulich ist …«

Er hat ein fein geschnittenes Gesicht und kleine, fast zarte Hände. Dennoch beschließe ich, auf der Hut zu sein. Typen wie er haben im Milieu oft klingende Beinamen wie der Fisch oder die Klinge, und immerhin scheint er hier der Boss zu sein – was nicht gerade darauf schließen lässt, dass er harmlos ist.

»Ach, lassen Sie mal. Da finden wir schon eine Lösung.« Er schwingt sich neben mir auf den Barhocker. »Clarissa, mach mir bitte einen Espresso. Wollen Sie auch einen?«, fragt er mich.

»Danke, später vielleicht«, lehne ich höflich ab. »Sie meinen also, wir können die Angelegenheit ohne Ihre beiden Freunde da hinten regeln?«, versuche ich einen Witz, um die Atmosphäre aufzulockern.

Bender runzelt die Stirn. »Ohne meine Freunde?« Dann kapiert er. »Ah, guter Witz, ha ha. Keine Sorge, die sind nur zur Abschreckung da. Für die Besoffenen, Sie verstehen? Im Übrigen sehen Sie nicht so aus, als müssten Sie sich vor denen fürchten.« Er betrachtet meine rechte Augenbraue mit Kennerblick. »Mal geboxt?«

»Ja, das ist aber schon eine Ewigkeit her«, sage ich und mache eine wegwerfende Handbewegung.

Insgeheim aber genieße ich es. Diese Narbe ist etwas Feines, die verschafft einem Respekt. Ich habe tatsächlich mal geboxt, aber nicht lange. Ich war damals siebzehn, und diese Rocky-Filme brachten mich auf die tolle Idee, einen Boxclub aufzusuchen. Nach einem Monat Aufbautraining hatte ich meinen ersten Amateurkampf, eine ziemlich bittere Erfahrung. Mein Gegner war ein dünner Zwerg, und ich hatte ehrlich Mitleid mit ihm – bis er mir dann ein paar Dinger verpasste, dass ich nur noch Sterne sah. Seitdem weiß ich nicht nur, dass in den Rocky-Filmen maßlos übertrieben wird, sondern auch, dass ich in Sachen Boxen eine absolute Niete bin. Und diese Narbe, die kommt gar nicht vom Boxen, die kommt vom Rodeln. Schon erstaunlich, was für eine magische Anziehungskraft ein einzelner Baum an einem ansonsten kahlen Hang auf einen alkoholisierten Menschen ausüben kann …

Aber Tatsache ist: Ich habe mal geboxt, und ich habe eine Narbe über meinem rechten Auge. Und die näheren Umstände muss ich ja nicht jedem auf die Nase binden, nicht wahr?

»Dachte ich mir«, sagt Erich Bender mit anerkennendem Nicken. »Aber nun zu meinem Wagen.« Er beugt sich zu mir vor und senkt ein wenig die Stimme. »Also, ich hätte da eine Idee …«

Habe ich ein Schwein. Habe ich ein Schwein!

Die Sache wird mich keinen Euro kosten. Nicht mal einen Cent! Bender hat mir ein Gegengeschäft vorgeschlagen, wie es für mich gar nicht günstiger sein könnte. Er hat nämlich ein Problem, ein juristisches Problem, genauer gesagt. Er hat das Grundstück, auf dem die Venusbar errichtet wurde, vergangenes Jahr dem vormaligen Eigentümer abgekauft, und der dachte, Bender wolle darauf ein Wohnhaus errichten. (Vermutlich hat Bender auch nicht ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es ein First-Class-Etablissement werden sollte.) Als der Verkäufer sah, was da entstand, legte er sich plötzlich quer und forderte einen Nachschlag von fünfhunderttausend Euro – andernfalls würde er die Grundbucheintragung zur endgültigen Eigentumsübertragung verweigern. Und das ist meine Rettung. Als Bender von Schmidt erfuhr, dass ich Rechtsanwalt bin, kam er auf die geniale Idee eines Gegengeschäftes: Ich soll mich um seine juristischen Probleme kümmern, und er vergisst dafür die Sache mit dem Wagen. Eine klassische Win-Win-Situation.

Und für mich ist das Ganze ein Klacks. Gottfried kennt sich bei Grundstücksstreitigkeiten hervorragend aus, das bringen wir ganz locker über die Bühne. Eine Klage auf Vertragserfüllung und Eintragung der neuen Besitzverhältnisse ins Grundbuch, das war’s.

Als ich beim Cheerio reinschneie, bin ich in Feierstimmung. Henning ist da und auch Frankie und Claudia. Gerade als ich mich setze und dadurch wieder schmerzhaft an die mindere Qualität meiner Sauna erinnert werde, kommt auch Michael hereingewalzt.

»Ratet mal, was besser ist als eine Stewardess?«, tönt er und hockt sich schwungvoll neben uns.

»Keine Ahnung. Aber ich schätze, du wirst es uns gleich verraten«, erwidert Henning.

»Zwei Stewardessen!«, sagt Michael gewichtig, dann legt er los. Unfassbar, was der Mann für eine Phantasie hat, wenn es um Sexgeschichten geht. Der sollte Erotikbücher schreiben.

Als er mit seinem Märchen fertig ist, bestelle ich eine Runde Bier.

»Nanu, so spendierfreudig?«, wundert sich Claudia. »Gibt es einen Grund dafür?«

»Allerdings.« Ich erzähle die Geschichte von dem Wagen (ohne dabei auf die peinliche Aufschrift und meinen Multi-Tasking-Selbstversuch einzugehen) und von meinem Treffen mit Erich Bender.

»Dem gehört die Venusbar?«, fällt Michael mir verblüfft ins Wort.

»Ja, wieso? Kennst du den Laden?«

Als ihn plötzlich alle anstarren, wird er rot. »Nein, ich … äh … keine Ahnung. Nur vom … Vorbeifahren, wisst ihr … Was ist das überhaupt für ein Laden?«

»Das ist ein Bordell«, erkläre ich genussvoll, und Claudia feuert einen angeekelten Blick auf Michael ab.

»Jedenfalls brauche ich nur den juristischen Kram zu erledigen, und damit ist die Sache erledigt.«

»Da bist du ja noch mal gut weggekommen«, stellt Henning fest.

»Ja, zehntausend sind kein Pappenstiel«, bestätigt auch Frankie.

»Bender hat mir sogar einen Bonus angeboten – den ich allerdings nicht nutzen werde«, füge ich hinzu.

»Was denn?«

»Ich könnte gratis Dienstleistungen in der Venusbar konsumieren, ihr wisst schon. Würde alles aufs Haus gehen. Nur habe ich da keinen Bedarf.«

Claudia verzieht das Gesicht. »Ist ja ekelhaft. Also, ich könnte mir das nicht vorstellen, mit einem fremden Mann … bääh.«

»Also, so ekelhaft bin ich dann auch wieder nicht«, protestiere ich.

»Ich meinte ja auch nicht dich. Aber allgemein, was glaubst du, was da alles daherkommt …«

Michael schiebt sich ein bisschen näher an mich ran. »Ist das auch übertragbar?«, fragt er, als Claudia für einen Moment außer Hörweite ist.

»Was?«, stelle ich mich blöd.

»Na, dieses … Guthaben?«

»Wieso, hättest du es gerne?«

Als Michael unser Grinsen sieht, läuft er wieder rot an. »Ich?«, sagt er mit hastiger Empörung. »Blödsinn! Ich hab das doch nicht nötig, ich hab doch meine Klientinnen.« Er zwinkert uns zu. »Nein, ich dachte nur, vielleicht für Frankie oder Henning …«

Die beiden reißen die Augen auf.

»Hast du sie noch alle?« Jetzt ist sogar Henning ein wenig aus der Fassung, was selten passiert.

»Die nächste Runde geht auf dich!«, verdonnert Frankie Michael, und der nimmt die Strafe widerspruchslos an.

Dann fällt mir noch etwas ein.

»Ach, übrigens, worum ich euch noch bitten wollte: Von dieser Geschichte muss Sandra nicht unbedingt erfahren. Ihr kennt sie ja, womöglich käme sie auf falsche Gedanken …«

»Apropos Sandra«, sagt Claudia. »Hat sich diese Sache zwischen euch wieder eingerenkt?«

Ich nicke. »Ja, das haben wir geklärt. Funktioniert alles wieder prächtig inzwischen.«

»Dann bin ich ja froh«, sagt Claudia erleichtert. »Aber eins interessiert mich: Hat sie eigentlich gar kein Problem damit, dass du immer hier rumhängst?«

»Nein, überhaupt nicht«, antworte ich. »Sie war da ja nie besonders kompliziert, aber seit sie dieses Buch gelesen hat, ist es noch viel einfacher. Sie hat ihre Rolle und ich meine. Und sie akzeptiert es, dass ich nach einem harten Tag noch ein bisschen mit meinen Jagdgefährten am Lagerfeuer hocke.«

»Sie akzeptiert es, aber ist sie damit auch glücklich?«, fragt Claudia skeptisch.

Ich nicke wieder. »Ja, sicher. Ihr geht es so gut wie noch nie.« Ich nehme einen großen Schluck Bier. »Mir übrigens auch«, ergänze ich der Vollständigkeit halber. »Total gut!«