Er
Rolf Proske ist der härteste Haftrichter der Stadt, und ich habe schon so manchen Strauß mit ihm ausgefochten. Allerdings immer nur in meiner Eigenschaft als Strafverteidiger und nie als Angeklagter, so wie jetzt.
Und mir läuft die Zeit davon. Es hat mehr als eine Stunde gedauert, bis die erkennungsdienstliche Behandlung beendet war, und dann ließ Proske mich zusätzlich eine halbe Stunde schmoren, bis er endlich erschien. Eine Zeitspanne, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, in dem grausamen Wissen, dass Sandra zur gleichen Zeit diesem Baumann ausgeliefert ist, der vermutlich seinen Charme spielen lässt und versuchen wird, seine Position auszunutzen, um sie rumzukriegen. Um sie …
Allein der Gedanke macht mich fast wahnsinnig. Und so, wie ich mich in letzter Zeit benommen habe, könnte es gut sein, dass seine Bemühungen auf fruchtbaren Boden fallen.
Eigentlich kaum zu glauben, dieses Pech. Dass die Stadtverwaltung gerade zu dem Zeitpunkt eine Aktion gegen das horizontale Gewerbe beschließt, in dem ich durch eine geradezu absurde Verkettung der Umstände in dieser Szene lande.
Und ich muss zugeben, dass die Beweise, die mir Proske nur so um die Ohren haute, auf den ersten Blick tatsächlich erdrückend aussahen.
»Hier, bitte!«, sagte er mit einem Blick aus Stahl, als er mir einen ganzen Packen Fotos auf den Tisch knallte. »Das sind doch eindeutig Sie in diesem Zuhälterschlitten, der auf Erich Bender zugelassen ist … Und hier, beim Betreten der Venusbar … und hier, in der Venusbar, im Gespräch mit Erich Bender … und hier, wie Sie sogar die Treppe hochgehen … Und wir haben eine Aussage von einem Kollegen, dem Sie anlässlich einer Verkehrskontrolle mitteilten, dass Sie sich in absehbarer Zeit selbst so ein Fahrzeug zulegen wollen … Von einem Kollegen aus Ihrer Kanzlei wissen wir, dass Ihre Position dort nicht eben die beste ist. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum Sie sich für einen Branchenwechsel entschieden haben, stimmt’s?«
Bei der Bemerkung über die Aussage eines Anwaltskollegen fiel ich ihm ins Wort: »Darf ich raten, wer dieser Kollege ist: Philipp Streiff?«
»Das ist unerheblich«, versuchte Proske meinen Einwand vom Tisch zu fegen, doch sein kurzes Zusammenzucken zeigte mir, dass ich recht hatte. »Tatsache ist, dass Sie uns bei unseren verdeckten Ermittlungen ständig über den Weg gelaufen sind.« Er beugte sich über den Tisch und fasste mich scharf ins Auge. »Also, Herr Dr. Becker, ich bin schon gespannt, wie Sie mir das alles plausibel erklären wollen!«
So begann die mühsame Aufgabe, ihm die Geschehnisse der letzten Wochen darzulegen. Die fehlgeschlagene Reparatur an meinem Wagen. Die Schlitzohrigkeit von Schmidt, dem Werkstattleiter, der mich mit einem Kundenwagen ohne Vollkaskoversicherung auf die Reise schickte. Mein Unfall mit Erich Benders Mercedes (dass mein völlig hirnrissiger Selbstversuch daran schuld war, ließ ich natürlich unerwähnt) und Benders Vorschlag, als Gegenleistung seine juristischen Probleme zu übernehmen. Und die logische Konsequenz, dass ich mehrere Male die Venusbar aufsuchen musste, um mich dort mit ihm zu treffen.
Nachdem ich die Geschichte grob umrissen habe, starrt Proske mich jetzt schweigend an. Einige wortlose Sekunden vergehen, dann sagt er: »Und Sie erwarten tatsächlich, dass ich Ihnen das alles glaube?«
Ich zucke mit den Schultern. »Ich weiß, es hört sich merkwürdig an, aber Ihnen wird nichts anderes übrig bleiben. Sie können alles nachprüfen, und Sie werden feststellen, dass die Geschichte stimmt.« Ich werde ein bisschen schärfer. »Und ich weise Sie darauf hin, dass die Beweislast in einem Strafverfahren bei Ihnen liegt. Wenn Sie also keine konkreten Beweise haben, müssen Sie mich freilassen.«
»Und die Aussage Ihres Kollegen, dass Sie in Ihrer Kanzlei auf der Abschussliste stehen?«, entgegnet Proske.
»Philipp Streiff versucht schon seit Längerem, mich loszuwerden. Er betrachtet mich als seinen Hauptkonkurrenten um eine Partnerschaft bei Fichtel & Wurzer.« Ich beobachte mich dabei, wie ich wütend meine Fäuste balle. »Erst heute habe ich entdeckt, dass er einen meiner Fälle sabotiert hat, indem er der gegnerischen Anwältin Informationen über meine Prozesstaktik zukommen ließ.«
Rolf Proske zieht eine Augenbraue hoch. »Das ist eine schwerwiegende Anschuldigung.«
»Ja, und nicht nur das.« Ich fühle, wie mein Zorn wächst. »Dadurch, dass er zu Protokoll gab, meine Position in der Kanzlei sei gefährdet, hat er Ihnen eine gezielte Fehlinformation gegeben. Tatsache ist nämlich, dass ich heute den wichtigsten Fall meiner Karriere mit Bravour gewonnen habe und Fichtel und Wurzer mich beknieten, bei ihnen zu bleiben. Ich habe jedoch aus freien Stücken gekündigt, weil ich mit einem Kollegen eine eigene Kanzlei gründen werde. Von beruflichen Problemen kann bei mir also gar keine Rede sein.«
Proske mustert mich nachdenklich. Ich kann förmlich sehen, wie die Rädchen in seinem Hirn ineinanderrasten.
»Und die Aussage des Polizisten, dass Sie gesagt hätten, Sie wollten sich demnächst auch so einen Wagen kaufen?«, versucht er es noch einmal.
»Ich bitte Sie, Herr Dr. Proske«, sage ich und werde lauter. »Was beweist das schon, wenn ich die Absicht äußere, mir einen Sportwagen zu kaufen? Abgesehen davon ist dieser Polizist ein ehemaliger Schulkollege von mir, deshalb wollte ich ein bisschen angeben. Halten Sie mich deswegen von mir aus für einen Idioten, aber ein stichhaltiger Beweis sieht für mich anders aus.«
»Und weshalb sind Sie in der Venusbar auf ein Zimmer hochgegangen?« Der Mann gibt nicht auf. Ein Blick auf die Wanduhr zeigt mir, dass es bereits nach zehn ist. Mir läuft die Zeit davon, verdammt noch mal!
»Wenn Sie es genau wissen wollen: Ich habe kalt geduscht.«
»Sie haben kalt geduscht?« Proske stiert mich an. »Wozu das denn?«
»Um mich abzukühlen, emotional. Ich weiß, wie blöd das klingt, aber es war so.« Meine Geduld hat jetzt ein Ende. Ich schlage mit der flachen Hand auf den Tisch und sehe, wie er zusammenzuckt. »So, Proske, jetzt wollen wir mal Klartext reden …«
»Für Sie immer noch Dr. Proske!«, fällt er mir ins Wort.
»Von mir aus – Dr. Proske! Ich habe jetzt die Schnauze voll! Sie haben nicht einen einzigen stichhaltigen Beweis, der eine Anklage gegen mich rechtfertigen würde, und wenn Sie meine Angaben überprüfen, werden Sie sehen, dass ich Ihnen die Wahrheit gesagt habe.« Er öffnet den Mund, um etwas zu entgegnen, aber ich bringe ihn mit einer energischen Handbewegung zum Schweigen. »Lassen Sie mich ausreden! Hören Sie, wir beide hatten schon die eine oder andere Auseinandersetzung – bei unseren Berufen ist das auch nur natürlich, aber bisher hatte ich immer den Eindruck, dass Sie zwar hart, aber fair sind.« Ich atme tief aus und lasse mich in den Sessel zurückfallen. »Ich will ehrlich zu Ihnen sein: Ich hatte heute einen verrückten Tag. Erst dachte ich, ich würde den wichtigsten Prozess meiner Karriere verlieren, aber dann habe ich ihn doch gewonnen. Ich dachte, ich müsste sterben, um dann zu erfahren, dass ich kerngesund bin. Ich dachte, mein Glück sei vollkommen, um dann zu bemerken, dass die Frau, die ich liebe, drauf und dran ist, mich zu verlassen.« Ich lege eine Pause ein und sehe, wie es in Proskes Hirn arbeitet. Dann beuge ich mich zu ihm vor und senke meine Stimme. »Herr Dr. Proske, ich appelliere an Ihren Verstand und an Ihre Menschlichkeit: Lassen Sie mich gehen! Ich habe privat ein paar Fehler begangen, die ich dringend wieder ausbügeln muss, und mir läuft die Zeit davon!«
Proske mustert mich schweigend, und einen schrecklichen Moment lang befürchte ich, dass ich zu weit gegangen bin. Dann steht er plötzlich auf. »Ganz ehrlich, Herr Dr. Becker, ich habe in meiner gesamten Laufbahn noch nie so viel Verrücktes in so kurzer Zeit gehört. Andererseits, das Leben spielt manchmal verrückt, und auch auf die Gefahr hin, dass ich falsch liege: Ich glaube Ihnen. Sie können gehen. Was nicht heißt, dass wir nicht alles nachprüfen werden«, fügt er hinzu.
»Schon klar«, sage ich und verspüre unendliche Erleichterung. Ich springe auf. »So, und jetzt brauche ich meine Sachen, mein Handy … und vor allem ein Taxi. Oder kann mich eine Streife zu meinem Wagen bringen?«
»Von mir aus. Ich organisiere das für Sie«, murmelt Proske. Dann streckt er mir zögernd die Hand hin. »Und, Herr Dr. Becker …«
»Ja?«
»Für den Fall, dass Sie die Wahrheit gesagt haben, hoffe ich, dass Sie das wieder in Ordnung bringen können … diese private Sache, meine ich.«
»Soll das eine Entschuldigung sein?«
»Nein, natürlich nicht«, sagt er hastig. »Ich habe schließlich nur meinen Job gemacht.«
»Okay.« Ich ergreife seine Hand. »Trotzdem danke.«
Die Fahrt im Streifenwagen ist schnell gegangen, und auf den geschätzten zehn Kilometern von der Kanzlei bis zum Prado habe ich so ziemlich alle Verkehrsregeln gebrochen, die es gibt. Dennoch ist es schon halb elf, als ich endlich dort eintreffe.
Ich habe gar nicht versucht, Sandra noch einmal anzurufen, weil ich es endlich begriffen habe. Sie hat ihr Telefon nach dieser SMS abgestellt, weil sie wollte, dass ich selbst komme. Sie wollte keinen einfachen Anruf, kein knappes Verbot, keinen Streit über den Äther.
Nein, Sandra will, dass ich persönlich erscheine und dass ich um sie kämpfe. Sie will, dass ich gegen Baumann antrete, und sie will, dass ich das öffentlich tue. Und das werde ich.
Falls es nicht schon zu spät ist. Nachdem ich meinen Wagen quer über den Bürgersteig geparkt habe, haste ich die breiten Stufen zum Empfang hoch. Das Prado ist ein mondäner Schuppen, schon von außen protzig und knapp an der Grenze zum Kitsch. Gerade richtig für einen großen Verlagsboss, der eine hoffnungsvolle kleine Schriftstellerin beeindrucken will. Der ihr das Blaue vom Himmel versprechen und sie damit ins Bett kriegen will. Als mir das bewusst wird, beginne ich gleich wieder innerlich zu kochen.
Ich will in den Laden stürmen, als sich mir ein großer Kerl im dunklen Anzug in den Weg stellt.
»Verzeihen Sie, haben Sie reserviert?«, fragt er und drückt mir gleichzeitig seine Hand gegen die Brust.
»Nein, habe ich nicht«, fahre ich ihn an. »Und nehmen Sie gefälligst Ihre Pfoten weg!«
»Tut mir leid«, sagt er und zieht sicherheitshalber seine Hand zurück. »Dann kann ich Sie nicht reinlassen.«
Für einen kurzen Moment erwäge ich, ihn einfach beiseitezustoßen, doch dann gelingt es mir, mich zu beherrschen.
»Sie müssen mich reinlassen«, sage ich mit erzwungener Ruhe. »Ich bin Rechtsanwalt, und da drinnen befindet sich meine Verlobte und ist gerade dabei, einem Betrüger aufzusitzen. Wenn Sie mich nicht reinlassen, dann verklage ich Sie wegen … Behinderung der Selbstjustiz.«
Was rede ich denn da? Behinderung der Selbstjustiz? Wäre die Situation nicht so tragisch, müsste ich selber laut loslachen.
Zum Glück ist das Gehirn des Mannes weniger ausgeprägt als seine Muskeln, denn nach kurzem Zögern gibt er den Weg frei. »Aber veranstalten Sie bloß kein Theater«, ermahnt er mich unsicher.
»Natürlich nicht«, behaupte ich. »Ich sagte doch schon, ich bin Rechtsanwalt.«
Dann betrete ich den Hauptraum und sehe mich um. Das Lokal ist groß und übersichtlich. Die Tische sind locker über den Raum verteilt und, soweit ich es überblicken kann, alle besetzt. Meine Augen wandern suchend durch den Raum, aber Sandra kann ich nirgendwo entdecken.
Plötzlich packt mich die Enttäuschung. Ob sie schon weg sind? Und wenn ja, hat Baumann sie rumgekriegt? Vielleicht hat Sandra ihm eine Abfuhr erteilt, ihm gesagt, dass sie bereits in festen Händen ist. Dass sie eine glückliche Beziehung mit jemandem führt.
Oder ich mache mir nur etwas vor.
Ich spüre einen heftigen Stich in meinem Herzen, und diesmal weiß ich, dass es kein Herzanfall ist und auch keine Verspannung.
Es ist die Erkenntnis, dass ich Sandra liebe und dass ich sie vielleicht für immer verloren habe.
Dann entdecke ich ihn. Er sitzt an einem Tisch weiter hinten, in einem teuren Anzug, mit grauen Schläfen und einer kitschigen Bräune, die sein Alter kaschieren soll. Das muss er sein, Sandra hat ihn mir beschrieben, genauso habe ich ihn mir vorgestellt.
Jetzt wird mir auch klar, warum er mir nicht gleich aufgefallen ist. Er sitzt allein an dem Tisch, und ich habe hauptsächlich nach Sandra Ausschau gehalten. Auf dem Tisch jedoch stehen zwei Gläser und die obligate Champagnerflasche – natürlich, er will sie erst betrunken machen, um dann sein Ziel zu erreichen.
Als ich mich mit entschlossenen Schritten nähere, entdecke ich die Handtasche an der Lehne des freien Stuhls. Es ist eine helle Tasche aus cremefarbenem Leder von Gucci. Sandras Tasche. Das weiß ich so genau, weil ich sie ihr gekauft habe, letztes Jahr zu Weihnachten.
Das ist er also. Dr. Steffen Baumann. Der große Verlagsboss. Der Mann, der mir meine Frau wegnehmen will. Ein widerwärtiger alter Lustmolch. Aus der Nähe bemerke ich sein überhebliches Grinsen, die widerwärtige Selbstzufriedenheit, die er an den Tag legt. Anscheinend ist er auch noch stolz auf seine neueste Eroberung, auf seinen jüngsten Aufriss.
Na warte, du Mistkerl!
Als ich seinen Tisch erreiche, baue ich mich vor ihm auf. Er glotzt mich überrascht an und versucht ein halbherziges Lächeln. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass sich eine mit reichlich Schmuck behängte ältere Dame nähert, doch ich schenke ihr keine Beachtung.
»Ihr Spiel ist aus«, sage ich mit schmalen Augen.
»Äh, wie bitte?« Er blinzelt verwirrt.
»Ich habe Sie durchschaut«, fahre ich fort und bewundere mich selbst dafür, dass ich ihm nicht gleich eine reinhaue. »Sie benutzen Ihre Position, um sich an unschuldige junge Frauen ranzumachen. Sie gaukeln ihnen die große Karriere vor, dabei wollen Sie sie nur ins Bett kriegen.« Ich rede mich jetzt so richtig in Rage. »Geben Sie es zu, bevor ich mich noch vergesse! Was haben Sie noch geplant für den heutigen Abend? Haben Sie schon eine Hotelsuite reserviert, um sie in Ruhe vernaschen zu können? Haben Sie sicherheitshalber Viagra eingeworfen, damit Sie es auch bringen?« Ich bin jetzt so wütend, dass ich mich am liebsten gleich auf ihn stürzen würde, ihn am Kragen packen, vor die Tür schleppen und …
»Dann ist es also wahr?«, höre ich auf einmal eine hysterisch kreischende Stimme. »Du hast was mit dieser Neuen?«
Das Kreissägen-Organ gehört der älteren Dame, die sich jetzt neben mich gestellt hat. Wer ist die denn? Kennt sie ihn etwa?
Und wenn schon, mir egal. Soll sie ruhig erfahren, was für ein Schwein dieser Kerl ist.
»Aber, aber …«, beginnt er zu stottern und läuft knallrot an. »Was soll das denn alles? Wer sind Sie überhaupt? Und woher wissen Sie …?«
»Wer ich bin? Ich bin der Mann, dessen Frau Sie heute Abend verführen wollten, und ich weiß davon, weil sie es mir gesagt hat.«
»Du Schwein!« Die Alte mutiert jetzt zur Amazone und schüttet Baumann den Inhalt seines Glases mitten ins Gesicht. Der schnappt erschrocken nach Luft, und ich ärgere mich beinahe, dass mir das nicht eingefallen ist.
»Für eine kleine Praktikantin nimmst du also Viagra, und als ich dich darum bat, hast du gesagt, der Arzt hätte es dir verboten!«, keift sie, und gerade, als ich mich wundere, dass sie Sandra eine Praktikantin genannt hat, packt sie auf einmal die Gucci-Tasche und zieht damit Baumann mit voller Wucht eins über den Schädel.
Der reißt schützend die Hände vors Gesicht. »Aber Emma, das stimmt doch gar nicht!«, jammert er. »Und das mit der Praktikantin war nur ein einziges Mal, und da hat sie sich an mich rangemacht, als ich betrunken war, das musst du mir glauben!«
»Dann gibst du es also zu?« Die Wut verleiht der Alten ungeahnte Kräfte, und sie zieht ihm noch einmal eins mit der Tasche über. Ich genieße es, mache mir aber allmählich Sorgen um Sandras Tasche. Hoffentlich hat sie nichts Zerbrechliches da drin. Ob ich sie ihr wegnehmen soll? Sie könnte ihn ja auch mit etwas anderem verkloppen. Mit dem Sektkübel zum Beispiel oder mit dem Stuhl. Die Alte keucht inzwischen heftig, dennoch drischt sie weiter auf den Untreuen ein, und aus den Augenwinkeln sehe ich, wie die Kellner und der Türsteher heranstürmen.
»Meine Mutter hat mich immer vor dir gewarnt, aber ich wollte ja nicht auf sie hören«, schnauft sie, und jetzt kapiere ich erst.
Das muss Baumanns Frau sein! Na, wenn das kein Zufall ist! Dumm gelaufen, kann ich da nur sagen. Der Blödmann geht mit seinem Seitensprung ausgerechnet in ein Lokal, in dem sich seine Angetraute aufhält. Geht’s noch blöder?
Die Kellner sind jetzt da und packen die Frau an den Armen. Sie strampelt wie verrückt und versucht sich loszureißen, und als sie merkt, dass sie gegen die Männer keine Chance hat, schreit sie: »Eines sage ich dir, Egon, mit uns ist es aus!«
Egon? Ich dachte, der heißt Steffen.
»Mein Vater wird dafür sorgen, dass Sie dich aus der Bank rausschmeißen«, kreischt sie weiter. »Immerhin ist er Vorsitzender im Aufsichtsrat. Du bist ab jetzt Geschichte für meine Familie!«
Bank? Was faselt die denn da? Scheint ein bisschen verwirrt zu sein, die Gute. Aber angesichts der Situation ja auch verständlich.
Ich versuche vorsichtig, ihr Sandras Tasche abzunehmen. Da dürfte inzwischen schon einiges zu Bruch gegangen sein, fürchte ich.
»Was tun Sie denn da?«, schreit sie mich an.
»Tut mir leid, Frau Baumann«, sage ich. »Aber diese Tasche gehört Sandra.«
»Baumann? Wieso Baumann?« Sie reißt die Augen auf. »Und wer ist Sandra?«
»Ja, wer ist Sandra?«, echot auch ihr Mann.
»Sandra Wilding. Meine Verlobte«, sage ich. »Die Frau, mit der Sie heute Abend hier sind.«
»Ich bin mit meiner Frau hier«, stammelt er fassungslos.
»Ja, er ist mit mir hier«, pflichtet die Alte ihm plötzlich bei.
»Aber Sie sind doch Steffen Baumann, oder etwa nicht?«, vergewissere ich mich.
»Nein, ich bin Egon Lessing«, antwortet er empört.
Hoppla. Für ein paar Nanosekunden setzt mein Gehirn aus. Als es wieder einrastet, fühle ich, wie mir das Blut in den Kopf schießt.
Das ist jetzt … irgendwie peinlich …
»Das ist ja unerhört!« Der Geprügelte erwacht jetzt wieder zum Leben. »Sie kommen hier reingetrampelt und bezichtigen mich, eine Affäre mit Ihrer Verlobten zu haben, und dann ist das alles nur eine Verwechslung?« Er beginnt sich mit einer Serviette das Gesicht abzutrocknen. »Na, warten Sie, das wird ein Nachspiel haben, ich werde Sie …«
Moment mal. Einspruch!
»Und die Sache mit der Praktikantin?«, entgegne ich. »Das haben Sie doch gerade zugegeben!«
»Ja, genau!«, geht die Sirene seiner Frau gleich wieder los. »Das hast du zugegeben! Und wer weiß, vielleicht hast du ja auch mit dieser Sandra … he, Sie, warten Sie!«, schreit sie mir nach.
Aber ich beachte sie nicht, sondern verlasse mit Riesenschritten das Lokal. Okay, es war eine Verwechslung. Es war sogar eine verdammt peinliche Verwechslung. Das war gar nicht Baumann.
Aber hilft mir das weiter? Ganz im Gegenteil. Ich habe ihn und Sandra verpasst. Sie sind längst über alle Berge, und ich habe keine Ahnung, wohin.
Draußen fühle ich, wie sich Verzweiflung in mir breitmacht. Was soll ich bloß tun?
Ich werde sie anrufen, natürlich. Ich werde ihr alles erklären, ich werde sie bitten, mir zu verzeihen, und ihr sagen, dass ich nicht rechtzeitig kommen konnte, weil sich heute alles gegen mich verschworen hatte. Genau.
Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und klappe es auf.
Doch dann zögere ich.
Was, wenn es bereits zu spät ist? Wenn sie und Baumann schon …?
Der Gedanke versetzt mir einen Stich.
Doch dann besinne ich mich. Würde Sandra das wirklich tun? Würde sie gleich am ersten Abend so weit gehen mit einem anderen Mann? Ich kann es mir nicht vorstellen. Klar, sie ist wütend auf mich, und ganz sicher ist sie enttäuscht. Sie muss denken, ich wäre absichtlich nicht gekommen. Sie muss denken, ich hätte sie im Stich gelassen.
Aber würde sie deswegen …?
Ich atme ein paar Mal tief durch, und in meinem Schädel rasen die Gedanken.
Nein, entscheide ich dann. Sie ist doch meine Frau. Sie und ich, wir sind doch füreinander bestimmt. Nie wurde mir das klarer als heute, als ich dachte, ich müsste sterben.
Nein, ich muss es riskieren. Ich muss ihr vertrauen. Und für den ganzen Mist, den ich gebaut habe, hat sie mehr als eine bloße Entschuldigung verdient. Ich muss ihr sagen, dass ich sie liebe. Ich muss mich zu ihr bekennen – und zu unserer Beziehung.
Und ich muss das öffentlich tun. Ohne Wenn und Aber. Ohne Kompromiss.
Und plötzlich weiß ich auch, wie.
Ich wähle die Nummer des Cheerio. Frankie hebt ab.
»Hallo, Frankie, hier ist Martin. Hast du deine Videokamera da?«
»Meine Videokamera? Ja, sicher. Wozu brauchst du die denn?«
»Das erklär ich dir später. Sind die Jungs noch da? Henning und Michael?«
»Ja, die sind da. Wir haben uns übrigens schon gewundert, wo du heute bleibst.«
»Sag ihnen, sie sollen auf mich warten. Ich bin gleich bei euch.«
»Das klingt ziemlich seltsam, Martin. Was ist denn los bei dir?«
»Ich muss endlich Nägel mit Köpfen machen, Frankie«, erkläre ich. »Ich muss mein Leben wieder auf die Reihe bringen.«
»Im Moment kapier ich überhaupt nichts«, gesteht Frankie. »Was hast du denn vor?«
»Auf die Gefahr hin, dass du mich für verrückt hältst, Frankie: Ich werde mir selbst den Prozess machen. Und die ganze Welt soll dabei zusehen.«