6. Kapitel

Ich hab 'ne Oma!«, rief Nele schon von Weitem, als sie Sara am nächsten Morgen am Kiosk traf. Sie konnte ihr Glück immer noch nicht fassen. Gestern Abend, sie saßen gerade beim Abendbrot, hatte Frau Sibelius, die inzwischen wieder nach Bremen zurückgefahren war, angerufen, um Ron von dem Unfall zu berichten und um sich zu erkundigen, ob Timmi wirklich m Ordnung war.

Nele und Timmi hatten natürlich längst erzählt, was passiert war, und Ron hatte Frau Sibelius beruhigt. »Timmi geht's prächtig«, hatte er gesagt. »Er verspeist gerade mit sehr gesundem Appetit eine riesige Salamischnitte, und das trotz der opulenten Kucheneinlage heute Nachmittag. Sie brauchen sich also wirklich keine Sorgen mehr zu machen.«

Und dann hatten sie noch ein wenig geplaudert und Ron hatte vorgeschlagen, dass sie sich einmal treffen könnten, wenn Frau Sibelius wieder im Lande sei. Sie hatte Ja gesagt und Nele hatte sich sehr gefreut. Doch Ron hatte sie gewarnt: »Freu dich nicht zu früh, Nele. So etwas sagt man immer, aber meistens macht man es dann doch nicht.« Aber das glaubte Nele nicht.

»Und?«, fragte Sara aufgeregt. »Wie ist sie? Hast du den Oma-Test mit ihr gemacht?«

Nele lachte übermütig. »Ja! Und sie ist total durchgerasselt! Sie kann nicht stricken, sie kann nicht kochen, sie kann nicht backen, und was Kleine-Jungs-Beschäftigen angeht, ist sie ein kompletter Reinfall. Aber sie ist so nett!«

Sara war nicht richtig überzeugt. »Nett reicht nicht«, sagte sie. »Das hat meine Mutter gerade vor ein paar Tagen zu Inge gesagt. Nett ist gar nichts, hat sie gesagt, damit kann man auf die Dauer überhaupt nichts anfangen. Es kommt auf die Basics an, verstehst du?«

»Auf die was?«

»Na, auf so 'ne solide Grundlage. Man muss was haben, was einen verbindet. Gemeinsame Interessen, Sachen, die man zusammen macht, so was alles.«

»Hör mal, ich will ja nicht den Rest meines Lebens mit ihr verbringen«, wandte Nele ein. »Eigentlich soll sie mich doch nur entlasten.«

»Ja, aber wenn sie nicht einmal mit Timmi spielen kann, was nützt sie dir dann?«

Tja, da war was dran. Trotzdem, Frau Sibelius hatte Nele supergut gefallen. »Du hast selbst mal gesagt, dass es nicht so wichtig ist, was so eine Oma kann, sondern wie sie ist. Und diese ist klasse, glaub mir! Sie hat sich richtig gekümmert! Dass sie Ron gleich gestern Abend noch angerufen hat, zeigt doch, dass sie richtig lieb ist. Und als wir da in dem Café saßen, irgendwie war sie so ... Ich mochte sie einfach, und ich hätte gern noch länger mit ihr geredet. Sie war so wie wir, bloß eben in alt, verstehst du?«

»Nee«, sagte Sara.

Nele seufzte. Sie konnte das nicht gut erklären. »Wenn ich echte Probleme hätte, zu der würde ich sofort gehen«, sagte sie.

Sara lief eine Weile schweigend neben ihr her. »Sag mal, was suchst du eigentlich?«, fragte sie plötzlich. »Eine Psycho-Tante für dich oder eine Oma fürs praktische Leben?«

»Ich brauch keine Psycho-Tante«, sagte Nele böse. »Und warum musst du überhaupt alles miesmachen? Du kennst sie doch gar nicht!«

»Mann, nun reg dich doch nicht so auf! Ich hab ja gar nicht gesagt, dass sie schlecht ist«, sagte Sara. »Ich meine ja nur, dass du keine vorschnellen Kompromisse machen sollst. Das sagt meine Mutter nämlich immer zu Inge.«

»Ach Blödsinn!«, sagte Nele. »Ich bin nicht Inge!«

Sara kicherte. »Nee, zum Glück nicht! Dann hättest du nämlich heute dein hundertfünfunddreißigstes Date und würdest nur mit Styling-Problemen rumnerven.«

Nun musste auch Nele lachen. Sie fasste Saras Hand. »Komm, wenn wir vor der Schmalbach in der Klasse sein wollen, sollten wir lieber nicht mehr so herumtrödeln.« Sie rannten los und schafften es noch gerade so.

Aber schon zehn Minuten später fragte sich Nele, warum sie sich eigentlich immer so anstrengten. Heute quälte die Schmalbach sie mit Pronomen – Personalpronomen, Possessivpronomen, Interrogativpronomen, Reflexivpronomen ... Gab es eigentlich auch Aggressivpronomen? Davon hätte Nele jetzt sehr gut einige gebrauchen können.

Später am Vormittag wurde es besser. In der vierten Stunde hatten sie Bio bei Herrn Knippel. Der war ganz jung und noch gar kein richtiger Lehrer. Er lernte erst, Lehrer zu werden, und Nele fand, dass er mal einen Zacken zulegen sollte, wenn er im nächsten Jahr seine Prüfung bestehen wollte. Noch ging es in seinen Stunden meistens drunter und drüber. Sara und Nele nannten ihn insgeheim »Herr Knispel«, weil er so schmächtig war und seine Stimme immer so aufgeregt piepste.

»Also, ein richtiger Mann ist der nicht«, hatte Sara nach der ersten Stunde bei ihm gesagt.

»Na ja, er lernt ja noch«, hatte Nele geantwortet, aber auch sie fand es schwer, sich vorzustellen, dass aus dem Knispel mal ein richtiger Mann und ein richtiger Lehrer werden sollte. Es war wirklich zu knispelig!

Heute hatte er beschlossen, dass sie mikroskopieren lernen sollten. Und dazu, sagte er, brauchten sie Wasserproben. Also marschierte die ganze Klasse zu dem Tümpel hinter dem Sportplatz, um Wasser in kleine Plastikbecher zu schöpfen, die der Knispel vorher verteilt hatte.

Blöd, fand Nele. Im letzten Schuljahr hatten sie so etwas auch schon gemacht, bei dem ollen Kaminski. Der hatte sein Wasser selbst mitgebracht, jedem mit einer Pipette ein Tröpfchen auf die kleine Glasplatte gegeben, und schon hatte es losgehen können.

Andererseits, ein Ausflug zum Tümpel war nicht schlecht. Kleine Auszeit. Und außerdem – wer sagte, dass man in jeder Stunde etwas lernen musste?

Patrick fing einen dicken Molch. Sven und Leon ließen Steine über das Wasser titschen, Julia, Lisa und Sara hatten Binsen gepflückt und flochten Zöpfe daraus. »Für eine Rasta-Nixen-Perücke«, sagte Julia grinsend und hielt sich probehalber den ersten Zopf ans Ohr.

Nele hatte einfach nur ihre Wasserprobe genommen und stand nun ratlos mit ihrem Becher in der Hand herum. Ein paar Jungen jagten sich um den Tümpel, und die meisten Mädchen hatten sich längst auf eine der Bänke am Sportplatz verzogen und guckten den Achtklässlern beim Fußballspielen zu.

»Nun füllt alle eure Becher!«, rief der Knispel, doch seine Stimme verhallte wie die eines Spatzes im Wald. Niemand schien ihn zu hören.

Nur Barbie, die sich bislang abseits gehalten hatte, gehorchte. Sie stakste in ihren weißen Schühchen an den Rand des Tümpels, bückte sich – und kassierte einen wohlgezielten Tritt von Sven. Platsch!, machte es, als das modrig-braune Wasser über ihr zusammenklatschte.

Sven hatte geschafft, was der Knispel mit seinen schwächlichen Rufen nie erreicht hätte: Alle standen wie auf Kommando am Tümpelrand, um zuzugucken, wie Barbie triefend aus der braunen Brühe auftauchte. Mann, das war mal was! Der Anblick lohnte sich! Mit weit aufgerissenen Augen und Mündern standen sie da und starrten Barbie an, die schlammtriefend bis zur Brust im Wasser stand und ebenso erschrocken zurückstarrte.

Und dann kreischte sie los: »Du niederträchtiger Kerl, du! Das wirst du büßen!« Sie ruderte wild mit den Armen und machte ein paar unbeholfene Schritte auf das Ufer zu.

Niemand kam auf den Gedanken, ihr zu helfen, nicht einmal der Knispel. Der stand einfach nur da und guckte verdattert. Nun reichte Barbie das Wasser nur noch bis zu den Knien, und sie sah aus wie eine Moorleiche, braun von oben bis unten. »Das sage ich Frau Schmalbach!«, schrie sie, knickte um und versank wieder. Für einen Moment sah man nur noch eine weiße Hand über der aufgewühlten Wasseroberfläche wedeln, dann erschien Barbies Kopf wieder, und sie spuckte in hohem Bogen einen Schwall der dreckigen Plörre aus.

Julia lachte als Erste. Sara fiel ein. Lisa, Leon und Patrick auch. Und schließlich lachten alle, und wie! Sogar der Knispel konnte kaum ein Lächeln verbergen.

»Jetzt hat sich's ausgeglimmert!«, krakeelte Julia und hielt sich die Seiten. »Sogar ihre Fresse ist vollgesudelt!«

Barbie wischte sich den Dreck aus den Augen und stapfte weiter auf das Ufer zu. Schließlich stand sie hilflos an der Böschung und blickte mit Tränen in den Augen in die johlenden, mitleidlosen Gesichter der anderen empor. Sie sah so aus, als würde sie gleich anfangen zu weinen.

Nele reichte ihr die Hand. »Komm!« Sie zog Barbie an Land, und als die zitternd und tropfend auf festem Grund stand, drehte Nele sich zu Sven um. »Los, gib deine Jacke her!«, sagte sie mit einer Stimme wie Sandpapier.

Sven machte einen Satz zurück. »Spinnst du? Die ist ganz neu! Die wird doch total eingesaut, wenn ...«

Nele war einen Schritt näher getreten. »Sofort!«, zischte sie. Sven starrte sie trotzig an und verschränkte die Arme. »Und wenn nicht?«

»Nele, das kannst du wirklich nicht verlangen«, sagte Sara. Vor lauter Lachen war sie ganz rot im Gesicht und in ihren Augen tanzte Schadenfreude.

»Ihr seid so was von gemein!«, schrie Nele außer sich vor Zorn. »Alle! Sven benimmt sich wie das letzte Arschloch und ihr findet das auch noch toll! Ihr seid wirklich das Letzte!« Sie funkelte Sara böse an. »Du auch!«

Sie wandte sich zu Barbie um, die inzwischen heulend und wie ein begossener Pudel am Rande des Tümpels stand. Sie sah wirklich mitleiderregend aus. Nele zog ihren Anorak aus und legte ihn Barbie um die Schultern. »Komm, ich bringe dich nach Hause.«

»Verräterin!«, brüllte Leon hinter ihr her, aber Nele drehte sich nicht einmal um. Die Verräterin, fand sie, war ganz jemand anderes. Und das tat weh.

Glücklicherweise war es nicht sehr weit bis in den Eichenweg. Nele klingelte Sturm, und es dauerte nur wenige Sekunden, bis Barbies Mutter die Tür aufriss.

»Um Gottes willen, Babettchen!«, rief sie bestürzt. »Was ist passiert?«

Barbie antwortete nicht, sie klapperte nur mit den Zähnen.

»Sie ist ins Wasser gefallen«, sagte Nele.

»Ach Gott, ach Gott!« Barbies Mutter rang die Hände und starrte ihre Tochter an.

»Sie muss sofort unter die Dusche«, sagte Nele. »Das Wasser war nicht gerade sauber.«

»Das sehe ich«, erwiderte Barbies Mutter und betrachtete angeekelt die braune Pfütze, die sich zu Barbies Füßen gebildet hatte. »Ach Gott, ach Gott!«

Nele wurde ungeduldig. »Los, zieh dich am besten gleich hier aus. Ich helfe dir.« Sie nahm Barbie ihren feuchten Anorak ab und ließ ihn einfach auf den Boden fallen. »Mach mal die Arme hoch!«

»Aber ich kann mich doch hier nicht ausziehen«, protestierte Barbie zähneklappernd. »Vor dir!«

»Quatsch!« Nele zerrte an ihrem klatschnassen Pullover. »Ich guck dir schon nichts ab!«

Endlich begriff auch Barbies Mutter, dass sie etwas tun sollte. »Ich hole mal ein Badetuch«, sagte sie und verschwand.

Als Barbie endlich unter der heißen Dusche stand, sagte Nele: »Und jetzt machen Sie einen heißen Kakao oder so was!« Es kam ihr ziemlich komisch vor, so etwas zu einer erwachsenen Frau zu sagen, aber Barbies Mutter stand einfach mit hängenden Schultern im Flur und sah ganz verwirrt aus.

»Ich muss erst meinen Mann anrufen«, sagte sie. »Ich muss ihm das erzählen.«

Nele fasste es nicht. Was war denn das für eine Mutter? Die benahm sich ja wie eine Dreijährige! Anstatt sich um ihre Tochter zu kümmern, jammerte sie nach Papi! »Das können Sie später immer noch tun«, sagte Nele. »Wissen Sie was, ich koche Kakao, und Sie legen Barbie mal was Warmes zum Anziehen raus.«

»Wem?« Barbies Mutter sah Nele verdutzt an.

Nele hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. »Ihrer Tochter! Babette!«

»Äh ... ach so, ja.« Und damit wuselte Barbies Mutter die Treppe hinauf.

Nele ging kopfschüttelnd in die Küche. Schließlich kannte sie sich hier aus.

Die Kücheneinrichtung war noch dieselbe, obwohl sich sonst, wie Nele flüchtig gesehen hatte, einiges in dem Haus geändert hatte. Überall lag ein flauschiger, weißer Teppichboden, und an den Wänden hingen sehr bunte Bilder, die so ähnlich aussahen wie die in dem China-Restaurant in der Stadt, in dem sie einmal mit Ron gewesen waren. Und es gab auch solche Lampen wie dort, mit roten Fransen.

In der Küche fand Nele sich schnell zurecht. Sie setzte einen Topf mit Milch auf, nur Kakaopulver fand sie nicht. Also rührte sie reichlich Honig in die Milch, das ging auch. In einem Schrank entdeckte sie Porzellanbecher mit chinesischen Schriftzeichen darauf. Sie füllte drei. Für Barbies Mutter, fand sie, war heiße Milch mit Honig auch das Richtige – ein Kindergetränk eben.

Nele war längst fertig. Auf dem Tisch dampften die drei Becher mit Milch, und sie hatte den Milchtopf in die Spülmaschine gestellt, aber von Barbie und ihrer Mutter war nichts zu sehen.

Nele ging in den Flur, wo noch Barbies nasse Sachen auf dem Boden lagen. Wie gut, dass es hier keinen weißen Teppich gab, sondern nur die Fliesen, die schon immer da gewesen waren. An einer fehlte eine winzige Ecke, da hatte Jessica mal einen Schlittschuh fallen lassen.

Von oben hörte Nele Stimmen. Ach Gott, ach Gott, die beiden jammerten ja um die Wette! Kein Wunder, dass Barbie so eine empfindliche Zicke war! Nele sammelte die nassen Kleidungsstücke ein, die nicht gerade angenehm rochen, und trug sie mit weit ausgestreckten Armen die Kellertreppe hinunter in den Wirtschaftsraum. Da stand die Waschmaschine, und wenn Nele nicht alles täuschte, war es noch die von Jessicas Eltern. Darin hatten Jessi und sie mal alle ihre T-Shirts blau gefärbt. Neles Mutter war ziemlich sauer darüber gewesen, besonders als sie die T-Shirts später zusammen mit Neles Unterwäsche gewaschen hatte. »Tja«, hatte sie ohne jedes Mitleid gesagt, »da musst du jetzt durch, das ist wohl deine blaue Periode.«

Doch als sie gesehen hatte, wie geknickt Nele gewesen war, hatte sie gelacht. »Komm, ich zeig dir mal was. Du befindest dich in allerbester Gesellschaft!« Sie hatte einen dicken Kunstband aus dem Regal gezogen und Nele Bilder von einem ganz berühmten Maler gezeigt. Picasso hieß der, und er hatte auch eine blaue Periode gehabt, in der er nur blaue Bilder gemalt hatte. Und davor oder danach, so genau konnte Nele sich nicht erinnern, eine rosa Periode, die hatte Nele eigentlich besser gefallen. »Nun komm bloß nicht auf den Gedanken, alles rosa zu färben!«, hatte Mama gedroht, aber sie hatte dabei gelächelt. »Das klappt jetzt sowieso nicht mehr, deine Wäsche würde bloß lila werden.«

Nele stopfte Barbies stinkende Sachen in die Waschmaschine und ihren eigenen Anorak gleich mit. Doch sie stellte die Maschine lieber nicht an. Wer weiß, dachte sie, vielleicht sind Barbies komische Klamotten superempfindlich und kommen am Ende drei Nummern zu klein wieder raus.

Außerdem hörte sie jetzt Barbie und ihre Mutter auf der Treppe. Also lief sie schnell wieder hinauf in die Küche.

Barbie war in einen dicken, weißen Bademantel gewickelt und trug einen weißen Handtuchturban auf dem Kopf. Ihr Gesicht war rosig und glänzte. Nele war überrascht. Ohne die alberne Schminke und die affige Frisur sah Barbie richtig hübsch aus. Ganz normal eben.

»Hier, trink das.« Nele schob ihr den Becher hin.

Barbie lächelte sie an. »Danke.« Sie trank in zierlichen Schlückchen, aber hinterher hatte sie doch einen dicken Milchbart. Jetzt, fand Nele, sah sie wirklich mal endlich normal aus.

Auch Barbies Mutter nippte von der Milch, stand aber gleich wieder auf. »Ich rufe jetzt erst einmal deinen Vater an, Babette«, sagte sie und ließ die beiden Mädchen allein.

»Geht's dir besser?«, fragte Nele.

Barbie nickte. »Die Milch ist lecker. Kannst du noch eine machen?«

Nele holte den Milchtopf wieder aus der Spülmaschine. »Oder habt ihr auch Kakao?«

Barbie sah sich ratlos um. »Ich glaub nicht. Normalerweise trinken wir grünen Tee.«

Aha. Wie edel! »Warum sieht bei euch eigentlich alles so chinesisch aus?«, fragte Nele, während sie das Honigglas leerte.

»Weil wir bis jetzt in Hongkong gelebt haben«, sagte Barbie.

»Echt?« Das war ja spannend! »Kannst du Chinesisch?«

Barbie schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Unser chinesisches Personal hat Englisch gesprochen.«

Nele rollte mit den Augen. Personal, wenn sie das schon hörte! Jessicas Mutter hatte auch immer von ihrem Personal gefaselt und damit die Putzfrau und den Gärtner gemeint. Aber – gegen Barbies Mutter war mit der richtig was anzufangen gewesen. Zumindest hatte sie Kakao kochen und Dreckwäsche einsammeln können. »Was für Personal hattet ihr denn?«, fragte Nele und goss die beiden Milchbecher voll. Wahrscheinlich war es einfach so, dass Leute, die sich so ein Minischloss wie dieses leisten konnten, immer Personal hatten. Sonst wären sie aus dem Saubermachen ja auch gar nicht mehr herausgekommen, und das wäre dann kein Luxusleben gewesen.

»Einen Koch, eine Hausdame, zwei Zimmermädchen und einen Gärtner«, zählte Barbie auf, als sei das das Normalste der Welt. »Aber mein Hauslehrer war Deutscher.«

Nele rutschte fast der Becher aus der Hand. »Du hattest einen Hauslehrer? Für dich ganz alleine?«

Barbie zuckte mit den Schultern. »Ja klar. Es gab da zwar auch eine deutsche Schule, aber mein Vater wollte nicht, dass ich sie besuche. Ich hätte mit dem Bus quer durch Hongkong fahren müssen, schließlich konnte er mich nicht immer bringen und abholen, er musste ja arbeiten.«

Nele lehnte sich vor. »Heißt das, dass du bis jetzt nie auf eine Schule gegangen bist?«

»Nein, Gott sei Dank nicht. Und ich bleibe auch nicht lange. Mein Vater hat gesagt, dass er mir ein gutes Internat suchen will, weil es an eurer Schule hier so ordinär zugeht. Aber das will ich auch nicht. Ich will nicht von zu Hause weg.« Barbie klang plötzlich ziemlich jämmerlich.

Irgendwie konnte Nele das verstehen. Andererseits, wenn sie sich hier so umguckte. Die sonderbare Einrichtung, die jammernde Mutter ... Und dann die Schule – keine Freundinnen, immer nur Ärger ... Da war ja sogar ein Internat besser. Obwohl Nele sich nicht vorstellen konnte, dass Barbie dort Freunde finden würde.

»Warum läufst du eigentlich immer so komisch rum?«, fragte Nele. »Ich meine ... na ja ... so doll geschminkt und mit dieser Frisur und diesen komischen Röcken und Stöckelschuhen? Also, weißt du, du bist doch keine vierzig!«

»Ich hab mich immer so angezogen«, erklärte Barbie. »Und in China ist es ganz üblich, dass Kinder sich schminken.«

Seltsam, das hatte Nele noch nie gehört. Und sie glaubte es auch nicht. Aber was sollte sie darauf antworten? Schließlich war sie nie in China gewesen.

»Dein Vater kommt gleich nach Hause«, verkündete Barbies Mutter, die plötzlich in der Tür stand. Sie sah sehr erleichtert aus. »Und er bittet dich zu bleiben, damit du ihm erzählst, was passiert ist«, sagte sie zu Nele.

»Das kann Barbie ihm genauso gut erzählen«, sagte Nele hastig. Ich muss jetzt gehen und meinen kleinen Bruder vom Kindergarten abholen.« Sie hatte es plötzlich sehr eilig. Und bevor Barbies Mutter auf den Gedanken kommen konnte, Nele zu bitten, später noch einmal vorbeizukommen, hatte sie sich schon verabschiedet. Zum Glück war Barbies Mutter nicht gerade von der schnellsten Sorte.