Als Nele mittags aus der Schule kam, traute sie ihren Augen nicht. Mama und Ron waren da, alle beide, das hatte es noch nie gegeben! Sie warteten neben Rons Auto.
»Komm, steig ein!«, rief Ron. »Wir holen Timmi vom Kindergarten ab, und dann machen wir eine Bootstour. Diesen wunderbaren Herbsttag müssen wir ausnutzen!«
Nele blinzelte. Tatsächlich, ja, es war richtig schönes Wetter. Die Sonne schien von einem knatterblauen Himmel, und ihre Strahlen waren noch warm. »Habt ihr denn Zeit?«, fragte Nele überrascht.
»Eigentlich nicht.« Ron lachte wie ein Junge, der die Schule schwänzt. »Aber wir holen alles nach, wenn es regnet.«
Zur Feier des allerletzten Altweibersommertages mitten im Herbst, wie Ron sagte, mieteten sie ein Boot mit Außenbordmotor, sodass sie nicht einmal rudern mussten. Sie tuckerten den kleinen Fluss entlang, bis sie ein sonniges Plätzchen mit einem verwitterten, hölzernen Anlegesteg am Ufer fanden.
Neles Mutter holte Kartoffelsalat und hart gekochte Eier aus dem Korb, den sie mitgebracht hatte, und dazu gab es die knuffigen, kleinen Körnerbrötchen, die Nele so liebte, und Apfelsaft. Und hinterher rote Grütze.
»Und Pudding?«, fragte Timmi.
Neles Mutter sah ihn zerknirscht an. »Oje, den hab ich vergessen, Timmi. Ich wollte ihn noch einpacken, aber dann hab ich einfach nicht mehr daran gedacht. Sehr schlimm?«
Timmi blickte grübelnd in sein Schälchen mit der einsamen roten Grütze. »Na ja«, sagte er schließlich. »Hauptsache Nachtisch.«
»Heute Abend bekommst du Pudding«, versprach Neles Mutter. »Mit Schokoladensauce.«
Timmi steckte einen Löffel rote Grütze in den Mund. »Gut!«, sagte er und schenkte Neles Mutter ein breites, grützerotes Lächeln. »Aber ganz viel.«
Ron lachte. »Superviel! Als Entschädigung dafür, dass du das hier so trocken runterwürgen musst!«
»Wieso?« Timmi sah ihn verständnislos an. »Ist doch ganz nass.«
Nele warf ihrer Mutter einen besorgten Seitenblick zu. Ob sie jetzt wieder anfing von Ironie und Pedo... Pädi... Kindererziehung? Aber nein, auch sie lachte bloß.
Nach dem Essen spielten Ron und Timmi auf der kleinen Wiese Fußball. Nele war zu faul mitzumachen und legte sich neben ihre Mutter auf den Steg in die Sonne.
»Möchtest du reden?«, fragte ihre Mutter nach einer Weile.
»Nee«, sagte Nele, »nützt ja doch nichts. Die sind alle blöd.«
Sie schwiegen und dösten. Es war schön, hier zu liegen, fand Nele. Die Sonne schien ihr ins Gesicht, über ihnen rauschte eine alte Weide und unter ihnen gluckerte das Flusswasser am Steg. Das und die Rufe von Ron und Timmi, die wie aus weiter Ferne klangen, waren die einzigen Geräusche. Als wären sie vier ganz allein auf der Welt. Kein bisschen einsam war das.
Doch irgendwann, viel zu früh, ging die Sonne unter, und es wurde kühl. Sie tuckerten zurück, lieferten das Boot ab und fuhren zu Ron nach Hause. Timmi, der sonderbarerweise an jedem Abend aussah wie ein kleines Ferkel, auch wenn er das Haus morgens noch so blitzsauber verlassen hatte, wurde gleich in die Badewanne gesteckt. Er schnappte sich sein gelbes Quietscheentchen und ein rotes Plastikboot und machte viele Wellen und mörderische Geräusche.
»Die Seeschlacht von Trafalgar war nichts dagegen«, bemerkte Ron.
Er und Neles Mutter bereiteten das Abendessen zu, während Nele an dem alten Sekretär in Rons Wohnzimmer ihre Hausaufgaben erledigte.
Aus der Küche drangen leise die Stimmen von Mama und Ron, Timmis Kriegsgetöse war gedämpft von oben zu hören, und Nele saß ganz still im Lichtschein der kleinen Lampe.
Als sie schließlich beim Abendessen saßen – es gab Bratkartoffeln mit gebackenem Fisch und Gurkensalat –, sagte Nele: »Morgen Nachmittag brauche ich richtig viel Zeit, ich muss einen Aufsatz schreiben.«
»Kein Problem«, sagte ihre Mutter. »Ich habe mir für den Rest der Woche Urlaub genommen. Ich kümmere mich um Timmi.«
Timmi, rosig glänzend, mit feuchtem Haar, warm in Schlafanzug und Bademantel verpackt, nickte erfreut. »Wir buddeln wieder, ja?«
Neles Mutter lächelte. »Wenn du willst. Die Sommerblumen vorne müssen sowieso raus. Wir könnten da Erika pflanzen.«
»Nee«, sagte Timmi und stieß seinen Gabelstiel auf die Tischplatte, »Erika nicht! Die ist ganz doof. Die schreit immer so rum.«
Neles Mutter guckte so dumm, dass Nele lachen musste. »Eine Erzieherin im Kindergarten heißt Erika. Sie ist so was wie die Schmalbach unter den Kindergärtnerinnen.«
Nun musste auch Neles Mutter lachen. »Die Erika, die ich morgen mitbringe, sind ganz lieb«, sagte sie zu Timmi. »Sie werden dir bestimmt gefallen.«
Timmi spießte seine letzte Bratkartoffel auf. »Glaub ich nicht. Bring lieber Neles mit.«
Ron wuschelte seinem Sohn amüsiert durch das badefeuchte Haar. »Du bist gar nicht so dumm, mein Kleiner. Manche Blumen hätten wirklich einen besseren Namen verdient.«
Nele war sehr müde, als ihre Mutter und sie nach Hause kamen. »Irgendwie ist das Mist mit zwei Wohnsitzen«, sagte sie vorwurfsvoll. »Ich könnte längst im Bett liegen.«
Ihre Mutter lachte. »Schätzchen, drängeln nützt nichts, das weißt du doch. Und nun ab ins Bad, Katzenwäsche reicht. Wenn du willst, kannst du heute Nacht bei mir schlafen.«
Nele wusste genau, warum sie das sagte. Und ja, sie wollte das verdammt gern. Mama las immer noch ein bisschen im Bett, und es gab nichts Besseres als das sanfte Licht der Nachttischlampe und das leise raschelnde Geräusch beim Umblättern der Seiten, wenn man gar nichts mehr denken, sondern bloß einschlafen wollte. Da hatten Einsamkeitsgefühle einfach keine Chance.
Am nächsten Morgen trödelte Nele so lange herum, dass sie erst mit dem Klingeln in die Klasse kam. Sie rutschte an ihren Platz, packte ihre Englischsachen aus und sortierte sie umständlich auf dem Tisch. Es war gar nicht so einfach, Sara nicht anzusehen. Und nicht mit ihr zu reden, machte Nele richtig Herzklopfen.
Zum Glück dauerte es nicht lange, bis Herr Schirmer, ihr Englischlehrer, in die Klasse gespurtet kam. Er war groß und hager und ging nie normal, sondern rannte immer. Auch in seinem Unterricht musste es zügig vorangehen. Wenn jemand lange herumstotterte, wurde er ungeduldig.
Wie in jeder Stunde startete er mit einer Vokabelwiederholung, querbeet, man musste ziemlich auf Zack sein. »Berg? Julia!«
»Mountain.«
»Erklären, Patrick!«
»Explain.«
»Entscheiden, Lisa!«
»Äh ...«
»Sara!«
»Decide.«
»Wolkenkratzer, Lisa!«
»Äh ... sky...«
»Patrick!«
»Sky... skyliner!«
»Skyscraper! Fool, Nele!«
Nele blitzte vergnügt und drehte sich zu Patrick um: »Dummkopf!«
In diesem Stil ging es noch eine ganze Weile weiter, und Nele war so bei der Sache, dass sie ihr Herzklopfen ganz vergaß. Außerdem fehlte Barbie heute, das machte den Tag auch leichter.
Danach hatten sie Mathe, und als es zur großen Pause klingelte und Sara nicht sofort davonlief, fasste Nele sich ein Herz: »Wollen wir uns eine Waffel holen?«
Sara sah sie an und guckte ganz schnell wieder weg. Sie wurde rot. »Nee«, sagte sie, drehte sich um und ließ Nele stehen, um hinter Lisa und Julia herzueilen.
»Dumme Pute«, murmelte Nele, holte einen Apfel aus ihrem Rucksack und machte sich auf den Weg zur Bücherei. In ihrem Inneren fühlte sich alles ganz eng an, wie eingeschnürt vor Wut und Traurigkeit.
In der letzten Stunde hatten sie Geschichte bei der Schmalbach. Es war so langweilig wie immer – was interessierten Nele die ollen Germanen? Anscheinend hatten die nie etwas anderes getan, als mit ihren Holzknüppeln durch die Wälder zu pirschen und einander die Köpfe einzuschlagen.
»Nele, bleibst du bitte noch einen Augenblick?«, sagte die Schmalbach, als es endlich klingelte.
»Du hast wirklich tolle neue Freundinnen«, zischte Sara. »Herzlichen Glückwunsch!«
Nele wandte sich zu ihr um. »Was ...«
Aber da war Sara schon abgerauscht.
Frau Schmalbach wartete, bis sich die Klasse geleert hatte. Dann sagte sie: »Nele, Herr Obermann hat angerufen, Babette ist krank. Anscheinend hat sie sich vorgestern bei diesem unfreiwilligen Bad im Tümpel doch eine Erkältung zugezogen. Ihr Vater hat gebeten, dass ihr jemand die Hausaufgaben vorbeibringt. Bist du so nett?«
Ungern, hätte Nele gern gesagt, doch was blieb ihr übrig? Jemand anderen konnte die Schmalbach ja wohl schlecht bitten. Obwohl – eigentlich wäre das die geniale Strafe für Sven gewesen. Schade, dass er nicht da war. »Ich kann aber erst später«, sagte Nele. »Ich muss erst noch den Deutschaufsatz schreiben.«
Die Schmalbach lächelte wohlwollend. »Du nimmst dir das alles sehr zu Herzen, nicht wahr?«
Nö, es ist mir völlig egal, dass ich wegen dieser Glaskäfig-Zicke mit meiner besten Freundin verkracht bin, hätte Nele am liebsten geantwortet. Wie blöd war die Schmalbach eigentlich, solche Fragen zu stellen? Dann fiel ihr etwas anderes ein: »Soll Barbie den Aufsatz eigentlich auch schreiben?«
Die Schmalbach dachte einen Moment lang nach, wobei sie unwillkürlich ihre Lippen nach vorne schob. Ihr Grübelgesicht hatten Sara und Nele das immer genannt, es vorm Spiegel nachgemacht und sich dabei kringelig gelacht. »Nein«, sagte sie schließlich, »sie braucht ihn nicht zu schreiben. Und du auch nicht, Nele.«
»Doch«, sagte Nele. »Ich will ihn schreiben.« Sie verabschiedete sich jetzt schnell. Noch mehr Gespräch mit der Schmalbach an einem Tag wäre wirklich zu viel gewesen.
Es kam Nele ganz ungewohnt vor, nach der Schule direkt nach Hause zu gehen, ohne den Umweg zum Kindergarten zu machen. Aber ihre Mutter hatte Timmi schon abgeholt und erwartete Nele mit einer frisch zubereiteten Gemüsesuppe. »Ganz liebe Grüße von Frau Meyerlink soll ich dir ausrichten«, sagte sie, als sie Neles Teller füllte. »Sie hat mich gefragt, ob die Kundschaft von morgen ihr schon heute untreu wird.«
Nele grinste. »Ich bin nicht die Kundschaft von morgen. Wenn ich erst in New York lebe, werde ich wohl kaum für ein paar Tomaten hier rüberjetten.« Es musste mindestens New York sein, das hatte Nele schon vor vielen Monaten beschlossen. Und jetzt war sie ganz sicher: Bloß weg von dieser Häschenhoppelwiese!
»New York?« Timmi kriegte große Augen. »Darf ich mit?«
Neles Mutter lachte. »Das ist noch lange hin. Erst einmal bleibt Nele hübsch hier und macht ihre Schularbeiten. Hast du viel auf?«
»Es geht. Aber«, Nele seufzte, »ich muss Barbie die Hausaufgaben vorbeibringen, sie ist krank. Dabei könnte ich mir wirklich was Besseres vorstellen, als für die das Kindermädchen zu spielen.«
»Es ist aber nett, wenn du es tust«, sagte Neles Mutter.
In diesem Fall, dachte Nele, pfiff sie aufs Nettsein. Sie erledigte schnell die Mathe- und Englischhausaufgaben, füllte das blöde Geschichtsarbeitsblatt aus und stöberte dann ihre Mutter und Timmi im Vorgarten auf, wo sie gemeinsam buddelten.
»Ich mache die Löcher für die Erika«, erklärte Timmi, der schon wieder aussah wie ein großes Ferkel. »Ganz tiefe!«
»Prima «, sagte Nele, hockte sich neben ihn und nahm eine der Pflanzen aus dem schwarzen Plastiktöpfchen. Sie schüttelte die Erde ab, sodass die Wurzel frei lag. »Guck mal«, sagte sie und strich über die Zweige, an denen sich die ersten rosa Knospen öffneten, »das sind die Haare. Der richtige Kopf ist das hier.« Sie zeigte auf die Wurzel. »Und da ganz innen drin ist der Mund. Wenn du sie in die Erde steckst, können sie nicht mehr schreien, dann sind sie einfach nur hübsch.«
»Gib!« Timmi rupfte ihr die Pflanze aus der Hand und stopfte sie in eines seiner Pflanzlöcher, ganz tief. Er schaufelte mit den Händen Erde um die Wurzel und drückte sie fest. »So«, sagte er zufrieden, »Ruhe!«
Nele bedauerte, dass es keine Blumen gab, die Schmalbach oder Barbie oder Sara hießen. Die hätte sie mit Wonne in die Erde gerammt, auch ganz tief. Vielleicht hätte sie nicht einmal die Haare rausgucken lassen.
Neles Mutter setzte Blumenzwiebeln, knubbelweise. »Im Frühjahr wird es hier aus allen Knopflöchern blühen«, sagte sie fröhlich.
Na und? Wenn es nach Nele ging, wohnten sie bis dahin längst alle zusammen in Rons Haus, dann war es doch egal, was hier blühte. Doch sie wusste, es hatte keinen Sinn, das zu diskutieren. Außerdem – ihre Mutter war Gärtnerin, die hätte auch Narzissenzwiebeln in die Sahara gesetzt, wenn sie gerade dort gewesen wäre. Sie hatte einen Pflanztrieb, das musste nicht unbedingt etwas bedeuten. Und jetzt hatte Nele sowieso etwas ganz anderes auf dem Herzen: »Kocht ihr heute Abend wieder, Ron und du?«
Ihre Mutter sah überrascht auf. »Ja, wir wollten Geschnetzeltes machen. Warum?«
Nele druckste. »Kann ich meinen Aufsatz dann schreiben und jetzt zu Barbie gehen?« Ihr war nicht ganz klar, warum, aber am liebsten wollte sie diesen Aufsatz an Rons Sekretär schreiben, im Lichtkegel der kleinen grünen Lampe, während aus der Küche Topfgeklapper und Mamas und Rons Stimmen zu hören waren und von oben Timmis Badegeplansche.
Neles Mutter lächelte. »Ist es so schlimm, zu Barbie zu gehen? Schlimmer, als einen Aufsatz zu schreiben?« Sie dachte, Nele wollte das Schlimmste zuerst hinter sich bringen.
»Ja«, sagte Nele. Es war zu kompliziert, ihrer Mutter zu erklären, dass es das nicht war. Es war auch nicht so wichtig. Hauptsache, sie durfte.
»Na, dann lauf. Aber in zwei Stunden bist du wieder hier, dann gehen wir zusammen rüber.«
Zwei Stunden! Was dachte sie denn? Dass Nele sich gar nicht mehr von Barbie trennen könnte?
»Ach Gott, ja, wie lieb, dass du kommst«, sagte Barbies Mutter. Sie hatte einen Topflappen in der Hand und sah ziemlich aufgelöst aus. »Ich koche gerade Kakao, Babette hat gesagt, dass du ihn magst.«
Nele schnüffelte. Es roch nach angebrannter Milch. Also, vielen Dank, solchen Kakao mochte sie nicht! »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie und legte die Mappe mit den Hausaufgaben auf die schwarz-rote Lackkommode im Flur.
Barbies Mutter war schon in die Küche gestürzt. »Ach Gott, ach Gott!«, rief sie und zog den Topf mit der übergekochten Milch von der Herdplatte.
Nele riss das Fenster auf. Vom Geruch angebrannter Milch wurde ihr immer schlecht. Aber sie war tapfer, schnappte sich den Küchenlappen und wischte die ganze Schweinerei auf. Musste wohl sein. Diese Glaskäfig-Mutter hätte das Zeug sonst garantiert weiter vor sich hinmiefen lassen, bis ihre Putzfrau wieder eintrudelte.
»Wissen Sie«, sagte Nele, als der Herd endlich sauber war, »ich trinke auch sehr gern grünen Tee.« Sie hatte zwar keine Ahnung, wie der schmeckte – wahrscheinlich irgendwie nach Gras, stellte sie sich vor –, aber schlimmer als angebrannte Milch konnte es wohl kaum sein.
»Wirklich?« Barbies Mutter blickte sie erleichtert an. »Dann koche ich den. Geh du schon einmal rauf, Babette wartet schon auf dich.«
Barbie saß, einen dicken Seidenschal um den Hals, in ihrem Bett. »Was hast du so lange unten gemacht?«, krächzte sie vorwurfsvoll. »Du hast schon vor einer Viertelstunde geklingelt.«
Nette Begrüßung! Nele setzte sich auf einen Stuhl und schlug ihre Mappe auf. »Also, pass auf. In Mathe haben wir heute mit Umfangberechnungen von Kreisen angefangen, das ist ganz einfach, man muss nur ...«
»So, hier kommt der Tee!« Barbies Mutter stieß die Tür auf und segelte mit einem Riesentablett herein. Teekanne, Tassen, Stövchen, Keksteller, alles aus allerfeinstem Porzellan.
Barbies Mutter baute alles auf dem Nachttisch auf. »Ist dir auch warm genug?«, fragte sie ihre Tochter besorgt und stopfte die Decke enger um Barbies Schultern. »Dass du bloß keine Lungenentzündung bekommst!« Sie fingerte ein paar Pillen aus einer Schachtel. »Schön lutschen, hat Dr. Delius gesagt.«
Endlich verschwand sie, und Nele wollte gerade auf die Umfangberechnung des Kreises zurückkommen, als Barbie ihr Handy unter dem Kopfkissen hervorzog. »Hier, ich hab ein ganz tolles neues Spiel, willst du mal sehen?«
»Nee«, sagte Nele, »jetzt nicht. Schlag mal lieber dein Mathebuch auf, Seite vierundfünfzig.«
»Und neue Klingeltöne. Willst du mal hören?« Ohne Neles Antwort abzuwarten, dudelte Barbie los.
Nele rollte mit den Augen. »Toll«, sagte sie, »klingt wirklich klasse. Aber kannst du jetzt mal dein Mathebuch ...«
»Ich mache mal ein Foto von dir«, sagte Barbie. »Wenn du willst, drucke ich es dir auch aus, ich hab ein neues Fotoprintprogramm, damit kann man ...«
»Barbie!« Nele war nun wirklich sauer. »Ich brauche kein Foto von mir! Ich bin hier, um dir die Hausaufgaben zu erklären!«
»Ja, klar.« Barbie sah sie gekränkt an. »Aber lass uns doch erst mal was Vernünftiges machen. Wir können auch ein Foto von uns zusammen machen, das Handy hat sogar einen Selbstauslöser, es ist das Neueste vom Neuen, hat mein Vater gesagt. Er hat es erst gestern gekauft, es ...«
»Barbie!« Nele war inzwischen auf hundertachtzig. »Das. Interessiert. Mich. Nicht!«
Barbie sackte in sich zusammen. »Du bist ja komisch«, sagte sie ratlos. Doch sie erholte sich schnell: »Na ja«, sagte sie, »ist ja klar. Weil du keine Ahnung von solchen Sachen hast. Weil ihr euch so was nicht leisten könnt.«
»Genau«, sagte Nele. »Ich bin ein Volltrottel. Und wir sind zu Hause immer froh, wenn wir uns wenigstens am Monatsanfang mal ein Stück Brot leisten können.« Wenn sie gehofft hatte, damit bei Barbie einen Nerv zu treffen, hatte sie sich getäuscht. Barbies Nerven lagen unter einem dicken Fell.
»Das habe ich mir gedacht«, sagte Barbie nun. »Komm, dann iss dich wenigstens an den Keksen satt.« Sie hielt Nele den Teller hin.
»Nein, danke«, sagte Nele. »Weißt du, wenn ich jetzt plötzlich so etwas esse, kriege ich Bauchkrämpfe. Mein Magen ist das nicht gewohnt.«
Barbie sah sie unsicher an. Anscheinend begriff sie doch etwas, wenn man nur dick genug auftrug. Aber dann trumpfte sie wieder auf: »Aber für ein Handy reicht's nicht, oder?«
Nele machte eine wegwerfende Handbewegung. »Klar. Aber ich kriege erst eins, wenn ich zwölf werde. Meine Mutter hält nichts davon, Kinder mit allem möglichen technischen Schnickschnack auszustopfen. Es ist schlecht für die Fantasie, hat sie gesagt.« Bisher hatte Nele das immer blöd gefunden, aber wenn sie sich Barbie so anguckte ... Vielleicht hatte Mama sogar recht?
»Also, ich hatte schon mit sechs ein Handy«, erklärte Barbie stolz.
»Na und?« Nele war wenig beeindruckt. »Und was hast du davon gehabt? Mehr als angeben kannst du damit doch nicht. So, und jetzt schlag endlich dein Mathebuch auf!«
Als Nele nach anderthalb Stunden endlich gehen konnte, war sie fix und fertig. Barbies Hauslehrer in Hongkong musste vor Freude getanzt haben, als er erfahren hatte, dass seine Schülerin die Stadt verlassen und wenigstens nach Europa ziehen würde. Wahrscheinlich hatte er sie tausendmal auf den Mond gewünscht!