13. Kapitel

Na, los, los, aufstehen!« Frau Werner riss die Tür auf. »Es ist höchste Zeit!« Sie war schon halb wieder die Treppe hinuntergepoltert, als Nele ganz wach war. Timmi lag neben ihr. Er schlief immer noch. Nun schnaufte er, drehte sich um und zog Nele die Decke weg.

»Aber Timmi kann doch so nicht in den Kindergarten!«, protestierte Nele. »Wir müssen erst Fieber messen.«

Frau Werner machte unwillig kehrt. »Na, meinetwegen«, brummte sie. »Von mir aus kann er auch mal einen Tag zu Hause bleiben, ist vielleicht besser.« Wieder stopfte sie ihm unsanft das Thermometer in den Mund, er war noch gar nicht richtig wach. »38,8«, stellte sie zufrieden fest. »Ich hab's ja gleich gesagt, das geht so schnell, wie es gekommen ist.«

»Aber 38,8 ist doch noch richtiges Fieber«, sagte Nele. »Janniks Vater hat gesagt, wenn Timmi Fieber kriegt, sollen wir den Arzt anrufen.«

»Papperlapapp! Ich mache noch mal frische Umschläge, und der Junge bleibt heute im Bett. Morgen ist er wieder kerngesund. Und du, Fräulein, siehst zu, dass du endlich in die Gänge kommst, es ist gleich halb acht!«

Oje, so spät? Frau Werner hatte anscheinend verschlafen. Nele machte Katzenwäsche und verließ ohne Frühstück das Haus. Nicht einmal einen warmen Kakao hatte die olle Hexe ihr gemacht.

Kein Wunder, dass sie in der Schule nicht aufpassen konnte und sich schon wieder einen Rüffel von Mathe-Meier einhandelte, weil sie Umfang, Durchmesser und Radius hoffnungslos durcheinanderbrachte.

Dagegen war die Deutschstunde fast eine Erholung. Satzglieder konnte Nele inzwischen im Schlaf bestimmen, da machte es nichts, wenn sie eigentlich die ganze Zeit an etwas anderes dachte. Und das tat sie ununterbrochen, bis sie es kaum noch aushielt. Als es endlich klingelte, wartete sie, bis alle anderen die Klasse verlassen hatten, dann näherte sie sich vorsichtig dem Pult. Die Schmalbach schrieb ins Klassenbuch.

»Darf ich Sie mal was fragen?« Nele fühlte sich sehr elend. Und das lag nicht nur an dem verpassten Frühstück.

Die Schmalbach sah auf. Und lächelte schon wieder!

»38,8 «, sagte Nele, »ist das erhöhte Temperatur?«

Schmalbachs Lächeln verschwand schlagartig. »Das ist richtiges Fieber! Wer hat das denn?«

»Mein kleiner Bruder«, sagte Nele, und erst als die Schmalbach verwundert die Augenbrauen hochzog, wurde Nele bewusst, dass Timmi ja gar nicht wirklich ihr Bruder war und ... Auwei, was war das alles verworren! Aber nun musste sie es wohl erklären.

Die Schmalbach hörte ihr geduldig zu. »Ich denke schon, dass man einen Arzt rufen sollte«, sagte sie, als Nele nicht nur ihre komplizierten Familienverhältnisse, sondern auch die Ereignisse der letzten Nacht geschildert hatte.

»Bitte, Frau Schmalbach, darf ich eben mal zu Timmi laufen und nachgucken?«, bat Nele. »Ich mache mir solche Sorgen. Wenn es ihm besser geht, komme ich auch sofort zurück.«

Die Schmalbach guckte sie freundlich an. Fast warm war der Blick, und wenn Nele nicht so sehr mit anderen Dingen beschäftigt gewesen wäre, hätte er sie wohl aus dem Gleichgewicht gebracht. »Na, dann geh, Nele. Nimm deine Sachen mit. Wenn es dem Kleinen noch immer so schlecht geht, bleibst du am besten bei ihm. Diese Tagesmutter, die ihr da habt, scheint ja nicht viel zu taugen. Wenn das Fieber nicht gesunken ist, rufst du euren Arzt an, klar?«

Nele nickte. Wäre es nicht die Schmalbach gewesen, wäre Nele ihr um den Hals gefallen. So sagte sie nur: »Danke, Frau Schmalbach, danke!«

Und dann schnappte sie ihren Rucksack und die dicke Jacke und rannte los. Wenn die Schmalbach sie einfach aus dem Unterricht weggehen ließ und ihr sogar riet, den Arzt anzurufen, dann war es richtig ernst. Dann musste man Angst um Timmi haben, und wie!

Nele lief, so schnell sie konnte. Sie guckte weder rechts noch links, und bald hatte sie fürchterliches Seitenstechen. Und der Rucksack drückte. Sie steckte die Daumen unter die Schulterriemen und wurde etwas langsamer, den Kopf gesenkt. Keine gute Methode, sich über den am Vormittag so belebten Bürgersteig zu bewegen. Prompt rasselte sie auch in jemanden hinein.

»Nele, Kindchen! Was ist denn mit dir los?«, fragte eine sanfte Stimme.

Nele sah verwirrt auf. Ein kleiner, weißer Hund haute seine Pfötchen in ihr Hosenbein. Sie war direkt in den Armen von Frau Fink, ihrer Park-Oma, gelandet!

Die lachte über das ganze Gesicht. »Na, das ist ja eine Überraschung! Dass ausgerechnet du die Erste bist, die ich treffe! Aber müsstest du jetzt nicht in der Schule sein?«

»Timmi ist krank«, sagte Nele. Sie war so außer Atem, dass sie kaum sprechen konnte, aber sie war vor allem superfroh, dass sie Frau Fink begegnet war. Die hatte fünf Enkel, da kannte sie sich bestimmt mit kranken Kindern aus. »Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll«, sagte Nele, und dann sprudelte alles aus ihr heraus. Mamas und Rons Reise und Timmis Herbstbad, die vergangene Nacht, Frau Werners Tatenlosigkeit und ihre eigene Angst.

»Du arme Kleine«, sagte Frau Fink und strich ihr über den Kopf. »Das ist ja ziemlich viel für eine Zwölfjährige.«

»Ich bin immer noch elf«, sagte Nele. Langsam ging ihr das selbst auf die Nerven, sie wäre wirklich gern mal etwas älter geworden.

»Tatsächlich? Du kommst mir viel erwachsener vor!« Frau Fink lachte. »Weißt du was? Wenn du nichts dagegen hast, komme ich mit dir mit, und wir schauen uns Timmi mal gemeinsam an. Meine Einkäufe können warten.«

Nele hätte am liebsten geweint vor Erleichterung. »Das würden Sie tun?«

»Aber ja! Ihr zwei seid damals ja fast schon meine Adoptivenkel geworden, und weißt du, was ich heute in meiner ollen, alten Tasche gefunden habe, die monatelang nur an der Garderobe hing? Kamelbonbons!« Sie klopfte auf die ausgebeulte, schwarze Tasche, ohne die Nele sie gar nicht kannte.

»Wo waren Sie denn die ganze Zeit?«, fragte sie, als Frau Fink und sie gemeinsam zum Ginsterweg gingen.

»In Kalifornien«, erwiderte die. »Ich habe dort meinen Sohn besucht. Er ist vor zehn Jahren ausgewandert, und alle zwei Jahre besuche ich ihn und seine Familie. Weißt du, nach Kalifornien fliegt man nicht mal eben so für eine Woche, deswegen bleibe ich dann länger. Es ist schön da.«

»Heißt das ...«, Nele wagte nicht, an ihr Glück zu glauben, »Ihre Enkel leben alle in Kalifornien?«

»Nein«, sagte Frau Fink, »nur drei. Die anderen beiden, die Söhne meiner Tochter, leben in Stuttgart. Aber die sehe ich fast noch seltener, sie sind zwölf und dreizehn, in dem Alter interessieren sich Jungs nicht besonders für ihre alte Oma.«

»Sie sind keine alte Oma!«, rief Nele entrüstet. »Sie sind eine liebe Oma!«

Frau Fink lachte wieder. »Ich fühle mich auch kein bisschen alt. Aber ob ich lieb bin ...?« Sie blickte Nele an. »Nicht immer!«

Inzwischen waren sie bei Rons Haus angekommen, und Frau Fink drückte energisch auf den Klingelknopf.

Frau Werner öffnete so schnell, als hätte sie hinter der Tür gelauert, und Frau Fink richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Sie reichte Frau Werner gerade mal bis ans Kinn. »Ich möchte zu Timmi«, sagte sie.

»Wer sind Sie denn?«, erkundigte sich Frau Werner feindselig. »Was wollen Sie hier? Ich vertrete Herrn Weferling, und ich darf keine Fremden ins Haus lassen.«

»Mein Name ist Anneliese Fink. Betrachten Sie mich als Timmis Oma«, sagte Frau Fink gelassen, schob Frau Werner mit einer sanften Handbewegung zur Seite und trat in den Flur.

Ihr Hund Fussel tapste hinter ihr her, und Frau Werner zeterte: »Der Köter kommt hier nicht rein! Und schon gar nicht ins Krankenzimmer!«

»Ach nee«, bemerkte Nele, »nun geben Sie ja plötzlich doch zu, dass Timmi krank ist! Aber der Hund ist ganz sauber, keine Sorge. Wo ist Timmi denn?«

»In seinem Bett natürlich!«, sagte Frau Werner böse.

»Gut«, meinte Nele, »dann bringe ich Fussel solange in das Dachzimmer. Komm, mein Kleiner.« Sie nahm Frau Fink die Leine aus der Hand. »Wir müssen nach oben.« Sie stapfte fröhlich die Treppe hinauf, Frau Fink folgte ihr, und Frau Werner verschwand vor sich hin schimpfend in der Küche.

Timmi lag mit hochrotem Gesichtchen in seinem Bett und schlief. Sein Haar war nass geschwitzt und stand ihm verstrubbelt vom Kopf.

Frau Fink schob die Bettdecke etwas zur Seite und setzte sich. Sie legte die Hand auf Timmis Stirn. Dann sah sie Nele an. »Wer ist euer Arzt?«, fragte sie flüsternd.

»Dr. Delius«, sagte Nele ebenso leise. »Also, das ist Mamas und mein Arzt. Ich weiß nicht, ob er Timmi kennt.«

Frau Fink stand auf. »Wir rufen ihn an. Ich kenne ihn gut, er ist ein hervorragender Arzt.«

Nele nickte. »Und nett. Warten Sie, ich hole Ihnen das Telefon.«

»Was hast du denn jetzt vor?«, fragte Frau Werner, die schon wieder im Flur stand, als Nele das Telefon aus dem Wohnzimmer holte. »Und warum bist du eigentlich nicht in der Schule, wo du hingehörst?«

»Weil sich irgendjemand um Timmi kümmern muss, wenn Sie das nicht tun«, sagte Nele trotzig. »Frau Fink ruft jetzt Dr. Delius an.«

Frau Werner blickte Nele finster an. »Wer ist diese Frau Fink überhaupt? Und wieso mischt die sich hier plötzlich ein?«

»Sie ist eine gute Bekannte von uns«, sagte Nele und freute sich, dass das so klang, als sei sie eine gute Bekannte von Neles Mutter und ihr.

Frau Werner schien das auch zu glauben, denn sie zuckte gleichgültig mit den Schultern und wandte sich wieder ihrer geliebten Küche zu. »Na, dann macht, was ihr wollt«, sagte sie schnippisch. »Dr. Delius! Man kann es auch übertreiben!«

Als Nele wieder nach oben kam, hatte Frau Fink Timmis zerknüllte Bettdecke aufgeschüttelt und das Fenster geöffnet. Erst jetzt fiel Nele auf, wie verbraucht die Luft hier war.

Sie reichte Frau Fink das Telefon, und die zog Nele mit sich auf den Flur und schloss Timmis Zimmertür. Dann tippte sie aus dem Kopf die Nummer ein. Sie plauderte kurz mit der Sprechstundenhilfe, die sie auch gut zu kennen schien, und dann bat sie, Dr. Delius sprechen zu können.

Es dauerte keine zehn Sekunden, dann hatte sie ihn am Apparat. »Thomas, grüß dich! Hier ist Anneliese. ... Ja ... ja ... gestern, gestern Abend ... Müde? Ach, ein bisschen, aber das geht schon. ... Ja, herrlich war's, wie immer. Trotzdem, jetzt freue ich mich auch, wieder hier zu sein. ... Ja, denen geht's gut, ich soll dich schön grüßen. Aber hör mal, Thomas, ich rufe nicht an, um zu plaudern, ich habe hier einen kleinen Jungen, der hat hohes Fieber. Timmi Weferling, vielleicht kennst du ihn? ... Nicht? Aber Nele Bach kennst du ... Ja, genau die!« Frau Fink zwinkerte Nele, die atemlos lauschte, vergnügt zu. »Kannst du bitte vorbeikommen, Thomas? Ich mache mir ernsthafte Sorgen, dem Kleinen geht es gar nicht gut. ... Ja? ... Ja, prima. Ginsterweg drei. Du bist ein Schatz, ich danke dir!« Sie beendete das Gespräch. »Er kommt in anderthalb Stunden, gleich nach seiner Sprechstunde.«

Nele sah Frau Fink voller Bewunderung an. »So schnell? Woher kennen Sie ihn so gut?«

»Och, dem habe ich schon vor dreißig Jahren die aufgeschlagenen Knie verpflastert«, erklärte Frau Fink verschmitzt. »Mein Sohn und er sind zusammen in die Schule gegangen, sie waren dicke Freunde, und das ist bis heute so geblieben.« Sie öffnete die Tür zu Timmis Zimmer wieder und sah sich missbilligend um. »So, aber nun machen wir hier erst einmal Ordnung! Könntest du mir bitte frische Bettwäsche für Timmi bringen? Diese ist ganz klamm geschwitzt.« Sie öffnete eine Schranktür. »Und einen anderen Schlafanzug finden wir ja bestimmt auch, was?«

Nele lief wieder die Treppe hinab und stieß die Küchentür auf. Frau Werner saß gemütlich bei einem Tässchen Kaffee und lauschte ihrer Lieblingsradiosendung, der »Sprechstunde für Jung und Alt«.

»... in diesem Stadium bestehen für den Krebspatienten praktisch keine Heilungsaussichten mehr«, hörte Nele. Da verstand sie, warum Frau Werner sich mit Kleine-Jungen-Fieber gar nicht erst aufhielt. »Wo finde ich denn frische Bettwäsche für Timmi?«, fragte sie.

»Ich habe sein Bett erst vorgestern bezogen«, sagte Frau Werner schlecht gelaunt. »Das sollte wohl für den Rest der Woche reichen.«

»Aber es ist ganz nass geschwitzt. Also, wo?« Nele wollte keine Diskussion, nur eine Auskunft.

Frau Werner zog die Augenbrauen zusammen und kriegte ihr Giftgesicht. »Ich werde mich bei Herrn Weferling beschweren, wenn er wieder da ist! Das ist doch keine Art, dass ihr hier das ganze Haus auf den Kopf stellt! Was bildet diese Frau Amsel sich eigentlich ein?«

»Fink«, sagte Nele, stemmte die Arme in die Seiten und trat einen Schritt näher. Zur Abwechslung sah sie Frau Werner jetzt einmal streng an. »Wo, habe ich gefragt!«

Frau Werner gab sich geschlagen. »In dem großen Schrank oben im Flur«, sagte sie, und dann schenkte sie sich in aller Seelenruhe Kaffee nach.

»Danke«, sagte Nele und schritt würdevoll zur Tür. Aber sie konnte es sich nicht verkneifen, sie hinter sich zuzuknallen. Timmis Bettwäsche war leicht zu erkennen, weil sie so farbenfroh war. Nele entschied sich für eine knallblaue Garnitur, die mit vielen bunten Autos bedruckt war. Darin würde er bestimmt ganz schnell wieder gesund werden. Dazu suchte sie ein gelbes Bettlaken aus.

»Prima!« Frau Fink nickte ihr zu. »Ich denke, wir sollten den kleinen Mann ruhig wecken, sieh nur, wie er schwitzt.«

»Machen Sie das«, flüsterte Nele. »Wenn er Sie sieht, ist das bestimmt eine gute Medizin für ihn. Er hat oft nach Ihnen gefragt.«

Frau Fink lächelte. Nele konnte sehen, dass sie sich freute.

Sie selbst ließ sich auf einem kleinen Stühlchen nieder, das etwas abseits stand, und beobachtete Frau Fink, die sich wieder auf das Bett gesetzt hatte und behutsam Timmis Wange streichelte. Eigentlich, fand Nele, sah sie gar nicht mehr aus wie eine richtige Oma, sie hatte sich verändert. Ihr Haar war länger geworden, es schimmerte silbrig-weiß und reichte bis zum Kinn. Und glatt war es jetzt, die Omalocken waren weg. Das sah toll aus und gar nicht alt, obwohl es fast weiß war. Vielleicht, weil Frau Fink so braun gebrannt war? Auch ihre Anziehsachen waren anders als früher, sie trug einen mohnroten, flauschigen Rollkragenpullover, der sehr warm und gemütlich aussah, und dazu eine weite, graue Hose. Nele fand, Frau Fink sah plötzlich richtig elegant aus, noch mehr als Frau Sibelius. Sonderbar, dass ihr das erst jetzt auffiel. Vielleicht lag es daran, dass Frau Fink trotzdem noch Frau Fink war, die Park-Oma mit den hellblauen Augen und den Kamelbonbons in der Tasche.

Timmi regte sich. Dann schlug er ganz langsam die Augen auf. Sie wurden größer und größer, bis sie kullerrund waren. Und dann lächelte er, breiter und breiter. »Oma!« Wie ein kleines Stehaufmännchen schoss er auf und warf die Arme um Frau Finks Hals. »Meine liebe, liebe Park-Oma!«

Frau Fink drückte ihn an sich und senkte den Kopf, sodass ihr die weißen Haare ins Gesicht fielen. Doch Nele hatte es ganz deutlich gesehen: Frau Fink hatte Tränen in den Augen.

Es dauerte lange, bis Timmi sie losließ. Aber dann drehte er sich zu Nele um. »Du hast sie gefunden. Guuut!«

Ja, dachte Nele, es war mehr als gut. Es war megasupergut! Sie fühlte sich wieder ganz leicht, alle Angst war wie weggeblasen.

»Und Fussel?« Timmi schaute sich suchend um. »Wo ist Fussel?« Er klang richtig verzweifelt.

»Er ist auch hier«, sagte Frau Fink und strich Timmi das verschwitzte Haar aus der Stirn. »Du darfst ihn gleich sehen, aber erst einmal waschen wir dich ein bisschen und machen dein Bett.«

Timmi nickte zufrieden. »Und Kamelbonbons? Hast du Kamelbonbons?«

Frau Fink lachte, ganz laut. »Reich mir mal meine Tasche, Nele!«

Nele nahm auch eins. Als sie es in den Mund steckte, war plötzlich der ganze Sommer wieder da, die Nachmittage mit Timmi im Park, ihre Spaziergänge mit Fussel, als Frau Fink die Sommergrippe gehabt hatte, und dieses aufgeregte Gefühl im Bauch, das sie in diesen Wochen nie ganz verlassen hatte, wegen Mama und Ron und Jessicas Flucht. Das war ein Sommer gewesen!

Doch jetzt ließ Frau Fink ihr keine Zeit für gefühlvolle Erinnerungen. Timmi musste gewaschen werden, im Bett, mit lauwarmem Wasser und einem Waschlappen, was Nele ziemlich umständlich fand. Dann steckte Frau Fink ihn in einen frischen Schlafanzug, wickelte ihn in eine Wolldecke und parkte ihn auf der kleinen Spielmatratze am Fußboden, bis sie sein Bett neu bezogen hatte. Außerdem sollte er trinken, möglichst viel. »Am besten Apfelschorle«, sagte Frau Fink, »mehr Wasser als Saft. Bist du so lieb, Nele?«

Nele war froh, dass sie helfen konnte. Sie brachte die schmutzige Wäsche in den Keller, schleppte die Waschschüssel zurück ins Bad, mixte Apfelschorle, und als Timmi endlich wieder in seinem Bettchen lag, half sie Frau Fink, die Spielsachen vom Boden aufzusammeln.

Als sie damit fertig waren, war Timmi schon wieder eingeschlafen. Sein Gesicht war immer noch ziemlich rot, aber wenigstens schwitzte er nicht mehr so. Frau Fink sah auf die Uhr. »Komm«, sagte sie leise zu Nele, »bis Thomas Delius kommt, lassen wir ihn schlafen. Das tut ihm gut.«

»Ich schlafe nicht!«, krähte Timmi empört. »Ich will Fussel sehen! Das hast du mir versprochen!«

Frau Fink schaute belustigt auf Timmi hinab. »Na gut. Holst du ihn, Nele? Aber nur für einen Moment, klar?«

Timmi nickte. »Ganz klar.«

Fussel sprang, ehe Frau Fink ihn daran hindern konnte, auf die frisch bezogene Bettdecke und fuhr mit seiner kleinen, rosa Zunge über Timmis Gesicht. Der kicherte glücklich.

Frau Fink sah den beiden eine Weile zu, aber dann pflückte sie den Hund vom Bett. »So, nun ist Schluss, das reicht!«

»Nein!« Timmi streckte die Arme aus. »Lass ihn hier, bitte, bitte, bitte!«

Frau Fink zögerte nur kurz. »Warum eigentlich nicht? Bei mir schläft er auch auf dem Bett, und es hat mir noch nie geschadet. Im Gegenteil, es ist gut für die Seele.« Sie setzte Fussel ans Fußende des Bettes. »Platz, Fussel.« Der kleine Hund legte sich gehorsam hin und wedelte mit dem Schwanz.

Timmi kroch zufrieden unter die Decke. »Jetzt könnt ihr gehen. Wir schlafen jetzt.« Und tatsächlich fielen ihm schon wieder die Augen zu.

Frau Fink schmunzelte. »Kranke Kinder sind immer wieder ein Phänomen, aber dein Timmi ist wirklich eine ganz besondere Marke. Er quengelt und weint nicht, er ist einfach immer lieb.«

Nele lächelte Frau Fink an. »Sie haben ihm gutgetan, da hat er glatt vergessen, dass es ihm schlecht geht.«

Frau Fink strich Nele über die Wange. »Nun lassen wir ihn aber schlafen, komm.«

Auf Zehenspitzen verließen sie das Zimmer. An der Tür sahen sie sich noch einmal um. Diesmal schlief Timmi wirklich, und Fussel hatte sich zu seinen Füßen eingerollt. Wenn das Frau Werner sähe, dachte Nele. Die würde einen Schreikrampf kriegen! Sie ließen die Tür angelehnt. Auf der Treppe raunte Frau Fink Nele zu: »Ich kümmere mich jetzt mal um eure Frau Werner. Lass mich ein Weilchen mit ihr allein, ja?«

Nele nickte unsicher. Ob das gut ging? Sie traute Frau Fink inzwischen zwar einiges zu, aber ob sie mit einer Hexe fertig wurde?

Zumindest schien sie keine Angst vor ihr zu haben, denn sie betrat sehr mutig die Küche. Nele verzog sich ins Wohnzimmer, ließ aber vorsichtshalber die Tür offen stehen. So würde sie es hören, wenn Frau Werner richtig gemein wurde, und konnte sofort zu Hilfe eilen.

Sie setzte sich an den Sekretär und blätterte in der Fernsehzeitschrift. Richtig lesen konnte sie jetzt nicht, das ging nicht mit aufgestellten Ohren.

Aber sie hörte gar nichts, nur ein leises Gemurmel und ab und zu das Klappern von Kaffeetassen. Ob Frau Fink eine Zauberfee war, die sogar Macht über das Hexenreich hatte?

Nele hüpfte vergnügt auf einem Bein zum Fleischer. »Ein Suppenhuhn, bitte, möglichst ein großes, mit viel dran.« Genau so hatte Frau Fink es ihr aufgetragen. Sie war eine Zauberfee, davon war Nele inzwischen fest überzeugt. Ihr Leben hatte sich auf wundersame Weise verändert, seitdem sie wieder aufgetaucht war.

Sie hüpfte weiter zu Frau Meyerlink. »Ich brauche Suppengrün. Und noch mal Sellerie extra. Und ganz viel Petersilie, glatte.«

»Nanu, Nele? Du bist ja so fröhlich!« Frau Meyerlink watschelte beschwingt vor ihren Laden, wo jetzt, seit es so kalt geworden war, nur noch ein paar Kisten mit Kohl und anderen robusten Gemüsesorten standen. Sie kam mit einem Bund Suppengrün und einem Riesensellerie zurück. »So munter habe ich dich ja seit Wochen nicht gesehen!«

Nele kriegte ihr breites Lächeln tatsächlich kaum in den Griff. »Ich soll Sie schön von Frau Fink grüßen. Und ob Sie wieder diese kleinen, süßen Saftorangen haben, soll ich Sie fragen.«

Frau Meyerlink schüttelte betrübt den Kopf. »Ausverkauft. Aber morgen kriege ich wieder welche rein. Soll ich welche für Frau Fink zurücklegen?«

»Bitte«, sagte Nele. »Zehn Stück, jeden Tag. Ich hole sie dann nach der Schule ab.«

»Nanu? Kaufst du jetzt für sie ein?«

»Für uns«, sagte Nele geheimnisvoll. Mehr verriet sie nicht, obwohl Frau Meyerlink vor Neugier fast platzte. Aber Nele war keine, die lange Geschichten erzählte, wenn sie nur ein Bund Suppengrün kaufte.

Auf dem Rückweg hüpfte sie nicht, sie war viel zu beladen. Aber sie fühlte sich, als würde sie hüpfen. Frau Fink war eine Zauberfee, keine Frage! Sogar Frau Werner hatte das zugegeben – fast. »Die ist gar nicht so verkehrt, deine Frau Fink«, hatte sie gesagt, als sie ihren Mantel angezogen und sich auf den Weg nach Hause gemacht hatte. Und dabei hatte sie Nele sogar richtig freundlich angeguckt.

Kein Wunder, etwas Besseres als Frau Fink hatte Frau Werner gar nicht passieren können. Die beiden hatten eine supertolle Verabredung getroffen: Frau Fink wollte, solange Timmi krank war, jeden Morgen in den Ginsterweg kommen und sich um Timmi und Nele kümmern. Und abends würde sie auch noch bleiben, damit Frau Werner wie gewohnt um fünf nach Hause gehen konnte. Um zehn, wenn die Kinder längst schliefen, war Schichtwechsel – Frau Fink ging nach Hause, und Frau Werner übernachtete bei Timmi und Nele. Und heute hatte sie schon mittags gehen dürfen, damit sie einmal Zeit hatte, sich um ihren eigenen Haushalt zu kümmern.

»Ist doch alles toll, oder?«, hatte Nele gesagt, als sie Francesca und ihrer Mutter erklärt hatte, warum sie nun mittags nicht mehr kommen würde. »Wenn Frau Fink da ist, kann ich nach der Schule gleich in den Ginsterweg gehen. Dann ist es wieder schön da.«

Francescas Mutter hatte ganz glücklich ausgesehen. »Oma ist besser als Küche in Restaurant. Ist richtiges Zuhause.« Sie hatte Nele eine Flasche Amaretto in die Hand gedrückt. »Für Oma am Abend. Mit beste Grüße.« Nele hatte sich bedankt und versprochen, dass sie alle zum Essen kämen, wenn Timmi erst wieder gesund war.

»Was ist das denn?«, fragte Frau Fink entgeistert, als sie die Flasche mit dem Mandellikör unter dem Suppenhuhn entdeckte. »Geschenk für Oma am Abend«, sagte Nele und grinste. »Mit beste Grüße.«

Frau Fink setzte sich an den Küchentisch. »Na, auf die Erklärung bin ich jetzt aber wirklich gespannt.«

Nele setzte sich ihr gegenüber und erklärte. Frau Fink hörte ihr amüsiert zu, aber dann schüttelte sie doch den Kopf. »Francescas Mama hat recht, eine Restaurantküche ist wahrhaftig nicht das Richtige für ein Mädchen in deinem Alter. Ab morgen kommst du nach der Schule brav hierher, und du machst auch deine Schulaufgaben hier, das ist viel besser, als wenn du allein bei euch zu Hause sitzt.«

»Das finde ich auch«, stimmte Nele aus ganzem Herzen zu. Aber dann fiel ihr plötzlich etwas anderes ein. »Was sagen wir eigentlich, wenn Mama und Ron heute Abend anrufen? Wenn sie erfahren, was hier los ist, machen sie sich doch bestimmt schreckliche Sorgen. Sie dürfen auf keinen Fall erfahren, dass Timmi krank ist!«

Frau Fink nickte zustimmend. »Nein, das sollten wir ihnen lieber nicht erzählen. Wahrscheinlich würden sie nicht glauben, dass es gar nicht so schlimm ist.« Dr. Delius hatte sie sehr beruhigt. Timmis Mandeln waren ein bisschen dick, aber das Fieber würde schnell sinken. Nur in den Kindergarten sollte er in den nächsten Tagen noch nicht. »Es ist besser, er bleibt warm und trocken im Haus«, hatte Dr. Delius gesagt und dabei lustig gezwinkert.

»Ich habe mit Frau Werner schon über dieses Problem gesprochen«, sagte Frau Fink, »und uns ist eine kleine Notlüge eingefallen. Das ist nicht sehr schön, aber immer noch besser, als wenn die beiden Hals über Kopf zurückreisen würden. Pass auf, heute Abend gehst nur du ans Telefon, und wenn sie nach Timmi und Frau Werner fragen, sagst du, dass sie beim Laternenumzug des Kindergartens sind.«

Nele tippte sich an die Stirn. »Das würde Frau Werner nie mitmachen. Die hätte mich geschickt, aber nie im Leben wäre sie da selbst mitgedackelt!«

»Nicht? Warum nicht?«

»Weil sie Kinder hasst! Haben Sie das nicht gemerkt?«

Frau Fink schüttelte den Kopf. »Sie hasst euch nicht, Nele. Ich glaube, sie ist einfach etwas überfordert. Schau mal, sie hatte nie eigene Kinder, und sie weiß einfach nicht so recht, wie sie mit euch umgehen soll. Es gibt eben Erwachsene, die vergessen haben, wie das ist, ein Kind zu sein. Meistens sind das sehr unglückliche Menschen, und sie können einem leidtun.«

»Mir tut Frau Werner nicht leid!«, sagte Nele heftig. »Sie ist eine Hexe!«

»Nein«, sagte Frau Fink, »sie ist keine Hexe. Sie ist eine sehr einsame Frau, die das Lieben verlernt hat. Oder nie gelernt hat.«

Nele griff nach dem Korkuntersetzer, der auf dem Tisch lag, stellte ihn auf und ließ ihn rollen. Er kippte mit einem leisen Plopp auf die Seite. »Das ist ja schrecklich«, sagte sie. »Wenn man nicht lieb haben kann.«

»Ja«, sagte Frau Fink, »es ist das Schrecklichste, was einem im Leben passieren kann. Es ist schlimmer, als krank zu sein. Wer nicht lieben kann, hat auch keine Hoffnung.«

Nele stellte den Untersetzer wieder auf und drehte ihn unter ihrem Finger. Dann ließ sie ihn los, und er fiel um. »So schlimm?«

Frau Fink nickte. »Ja. So schlimm.« Dann schob sie den Untersetzer an das andere Ende des Tisches. »Aber nun lass uns lieber überlegen, was wir deiner Mama und Timmis Papa dann sagen, damit sie sich keine Sorgen machen.«

»Sondern ihre Liebe genießen können«, sagte Nele grinsend.

»Genau! Ich bin sicher, diese Reise ist für sie sehr wichtig, und es wäre ein Jammer, wenn sie sie abbrechen würden.«

»Ich weiß was! Wir sagen einfach, Frau Werner hat ein bisschen Rückenschmerzen und hat sich hingelegt, und Timmi ist mit Jannik und seiner Mutter beim Laternenumzug. Das ist doch gut, oder?«

»Das ist sogar sehr gut. Obwohl es natürlich auch gelogen ist. Und das gefällt mir eigentlich gar nicht.«

»Ja«, sagte Nele niedergeschlagen. »Außerdem verplappert Timmi sich garantiert, wenn Ron ihn morgen Abend nach dem Laternenumzug fragt. Ehrlich, Lügen ist voll kompliziert!« Die Erfahrung hatte sie im letzten Sommer schon gemacht, es waren auch diese Schwindeleien gewesen, die damals das aufgeregte Gefühl im Bauch verursacht hatten.

»Selbst wenn wir es gut meinen«, überlegte Frau Fink laut, »so was geht immer in die Hose. Irgendwann verplappert sich einer, und dann wird die Sache viel schlimmer. Vor allem möchte ich Timmi nicht in so etwas hineinziehen, das wäre wirklich nicht gut.« Sie zwinkerte Nele zu. »Lass mich heute Abend mit den beiden reden, ich erkläre ihnen schon, wie es ist. Und wenn sie mir nicht glauben, können sie immer noch Thomas Delius anrufen, den kennt deine Mutter doch gut, nicht wahr?«

»Ja, sehr gut«, sagte Nele. Ihr war plötzlich viel leichter ums Herz. »Aber von meinen Mittagspausen im Bella Italia erzählen Sie Mama besser nichts«, fiel ihr dann ein. »Das sage ich ihr, wenn sie wieder da ist.«

»Natürlich«, sagte Frau Fink und legte ihre Hand auf Neles. »Willst du das blöde Sie nicht mal weglassen? Sag einfach Anneliese zu mir und Du. Das klingt doch viel netter. Ich finde, wir sind inzwischen doch fast schon Freundinnen geworden.«

Nele sah sie erstaunt an. Freundinnen? Nicht Oma und Enkelin? Oder konnte man beides gleichzeitig sein?

Frau Fink – Anneliese – strich über ihre Hand. »Habe ich dich jetzt überrumpelt? Das wollte ich nicht, entschuldige.«

»Nein.« Nele schüttelte den Kopf. »Nein, es ist nur ... Wissen Sie ... weißt du ... ich habe mir so eine Oma gewünscht, und ...« Sie verstummte ratlos.

»Du kannst auch Oma zu mir sagen«, sagte Frau Fink. »Das habe ich dir schon mal angeboten, erinnerst du dich? Damals hast du gesagt, dafür seist du zu alt.«

Nele erinnerte sich genau. Aber natürlich hatte sie das nicht so gemeint. »Ich bin nicht zu alt für eine Oma«, sagte sie. »Ich habe damals doch nur sagen wollen, dass ich zu alt bin, um zu einer Frau, die ich kaum kenne, Oma zu sagen. So was macht man in Timmis Alter. Und außerdem ... ich wollte nicht Oma sagen, weil das auch eine Lüge gewesen wäre. Vor mir selbst. Eine Wunschlüge. Sie ... Du bist ja gar nicht meine Oma.«

Frau Fink – Anneliese – lächelte. »Eine Wunschlüge, das ist hübsch! Du bist ein intelligentes Mädchen, Nele, und du hast mir vom ersten Tag an sehr gut gefallen. Ich habe mir immer eine Enkelin gewünscht, aber meine Kinder haben nur Jungen bekommen. Das fand ich immer ein bisschen schade. Meine Wunschenkelin habe ich mir genau so vorgestellt, wie du bist. Ich habe mir oft ausgemalt, mich so mit ihr zu unterhalten wie mit dir, so ... so von gleich zu gleich, verstehst du? So wie mit einer Freundin, die zufällig jünger ist.«

Nele verstand genau, was sie meinte. Es war ganz und gar das Gleiche, was ihr selbst durch den Kopf gegangen war, als sie Frau Sibelius kennengelernt hatte. »Sie ist wie wir, nur eben in alt«, hatte sie damals zu Sara gesagt, und genauso war es jetzt mit Frau Fink. Nur noch besser. Außerdem – diese Frau Sibelius hatte sich gar nicht mehr gemeldet, obwohl sie hier gewesen war. Auf die war kein Verlass. Ron hatte recht gehabt.

»Ja«, sagte Nele, »ich glaube, das finde ich toll. Und für Timmi kannst du ja eine echte Oma sein.«