Die älteste Tochter des Clans der Nishimi wurde traditionell im Tempel der Barmherzigen Kannon in Rinrakuji zur Tempeldienerin ausgebildet. Der Clan gehörte zum Hochadel, verwandt mit dem Kaiser. Der jetzige Herr des Hauses, Hidetake, war eng befreundet mit dem Kronprinzen Momozono, und Hidetakes Frau war Stillamme von Yoshimori, dem Sohn des Kronprinzen.
Hidetake hatte im Abstand von zehn Jahren zwei Töchter bekommen. Die ältere hieß Akihime, Herbstprinzessin, weil sie im Herbst geboren worden war, im gleichen Monat wie jetzt, da die Blätter des Ahorns sich scharlachrot färbten und der Gingko am Tor Fontänen goldenen Laubs abwarf. Die jüngere Tochter, im Winter zur Welt gekommen, war bei der Geburt gestorben. Deshalb hatte ihre Mutter den jungen Prinzen, den Enkel des Kaisers, stillen können.
Aki war fünfzehn Jahre alt, keine Schönheit, aber lebhaft und fröhlich. In diesem Herbst ihres sechzehnten Lebensjahrs begannen sich Freier vor dem Haus zu versammeln, brachten Ständchen und trugen Gedichte vor. Akihimes Mutter hoffte und fürchtete zugleich, dass einer von den jungen Männern den Weg nach drinnen finden würde. So war damals der Brauch: Wenn ein Freier drei Abende in Folge erschien und sich mit dem Mädchen vereinigte, galt das als Hochzeit. Aki hatte bereits ihr Keuschheitsgelübde abgelegt und schreckte vor dieser Vorstellung zurück, fand sie jedoch auch faszinierend. Wurden die Männer ins Haus eingeladen, oder drangen sie unbefugt ein? Konnte das Mädchen entscheiden, oder unterwarf sie sich einfach?
»Ich werde nicht zulassen, dass mich jemand berührt«, erklärte Aki eines Morgens, als ihre Mutter über ihre Sorgen sprach. »Du weißt, dass mein Vater mir beigebracht hat, wie ich mich verteidigen kann.«
»Du wirst ja wohl kaum einen jungen Adligen mit dem Schwert angreifen!«, rief ihre Mutter aus. »Das gäbe einen schrecklichen Skandal!« Dann fügte sie mit einem Seufzer hinzu: »Manchmal wollen wir uns auch nicht verteidigen. Männer können sehr hartnäckig sein. Aber wenn es dazu käme, könnten wir dich wenigstens hier bei uns behalten.«
Aki sah, dass ihre Mutter den Tränen nahe war. »Du wirst doch immer noch Yoshimori haben und Kai, die wie eine Tochter für dich ist.«
Beide blickten zur Veranda hinüber, wo Kai mit Yoshimori spielte. Die beiden waren am selben Tag geboren worden und unzertrennlich. Yoshimori war im siebten Lebensjahr, ein aufgeweckter Junge, beliebt bei allen, vergöttert von seinem Vater. Als Yoshimori zwei Jahre alt gewesen war, hatte ein Physiognomiker prophezeit, dass der Junge dereinst Kaiser sein würde, was ihn tief beeindruckt hatte.
»Yoshimori wird auch bald nicht mehr bei mir sein«, erwiderte die Mutter. »Aber Kai werde ich wohl nicht verlieren, weil niemand sie heiraten wird.«
»Man sieht ihre Ohren doch gar nicht, wenn sie von den Haaren verdeckt sind. Und ich finde sie reizend, wie einen kleinen Vogel oder einen Gecko.«
»Einen Gecko! Sag doch so etwas nicht!«
Kais Mutter, eine Frau am Kaiserhof, die Akis Mutter sehr gemocht hatte, war bei der Geburt ihres Kindes gestorben. Die Ohren des kleinen Mädchens, das sie zur Welt gebracht hatte, waren winzig und gewunden wie das Haus einer Meeresschnecke. Als die Hebammen das sahen, schrien sie angstvoll, und man wickelte das Kind in ein Tuch und legte es in eine Ecke. Es war ein schlimmer Tag mit dem Tod einer Mutter und eines Kindes und der verfrühten Geburt des jungen Prinzen. Kais Mutter wurde am selben Tag begraben wie Akis kleine Schwester, und der junge Prinz bekam Akis Mutter als Stillamme. Das andere Kind wurde von allen vergessen, doch die Kleine hing am Leben und wimmerte, bis Akis Mutter sie hörte und verlangte, dass ihr das Kind gebracht werden solle. Und sie empfand so viel Mitleid für das kleine Mädchen, dass sie beschloss, beide Kinder gemeinsam großzuziehen.
Zunächst fürchtete man, dass Kai taub sei, doch ihr Gehör war einwandfrei, auch wenn sie manchmal stirnrunzelnd die Lippenbewegungen der Menschen beobachtete, die mit ihr sprachen. Kai war hübscher als Aki, hatte ein liebes sanftes Gesicht und war feingliedrig. Die Frauen auf dem Anwesen bedauerten oft, dass nur Kais Ohren eine günstige Heirat, vielleicht sogar mit Yoshimori selbst, verhindern würden. Niemand wusste, was die Zukunft für Kai bringen würde, aber Yoshimori liebte sie heiß und innig, bestand darauf, dass sie immer bei ihm sein müsse, und ließ sich oft nur von ihr beruhigen und trösten. Kai hatte eine lebhafte Phantasie, dachte sich Spiele und Geschichten aus und sorgte so dafür, dass der Kleine sich in seinem ansonsten recht öden Dasein nicht langweilte. Er durfte das Anwesen nicht verlassen – die Veranda war die Grenze für ihn – und wurde überall im Palast herumgetragen. Seine Eltern bekam er nur selten zu Gesicht, und er wurde gewissenhaft unterwiesen in der Etikette und der blumigen Sprache des Hofes. Man erwartete jetzt bereits von ihm, dass er an den langen umständlichen Zeremonien des Kaiserhofs teilnahm, obwohl er noch keine sieben Jahre alt war, und manchmal bemerkte Aki auf seinem Gesicht einen Ausdruck von Erschöpfung und Überdruss, der ihr Mitleid erregte. Nur wenn er mit Kai zusammen war, konnte Yoshimori wie ein ganz gewöhnliches Kind sein. Er kommandierte sie in der Gegend herum, zankte mit ihr und drohte zu schreien, wenn man sie von ihm trennte. Die beiden aßen aus derselben Schüssel und schliefen Seite an Seite.
Aki kannte seinen Vater, Kronprinz Momozono, ein wenig, durfte aber nicht darüber sprechen. Ihr Vater hatte sie mehrmals nach Rinrakuji gebracht, wo sie ihre ersten Gelübde abgelegt und begonnen hatte, ihre künftigen Aufgaben im Dienste der Göttin Kannon einzuüben. Aki lernte Selbstverteidigung, Reiten und Bogenschießen. Ihr Vater, ein Schwertkämpfer, war in dieser Kunst von einem alten Mönch unterwiesen worden, der einst ein berühmter Krieger gewesen war. Manchmal hielt Prinz Momozono sich auch dort auf, jedoch nur verkleidet. Die Mönche aus Rinrakuji galten als kühn und verwegen, und Aki wusste auch ohne dass man es ihr sagte, dass ihr Vater und der Prinz sich auf einen Krieg vorbereiteten.
Der Kaiser, Momozonos Vater, schwand dahin. Er hatte seinen ältesten Sohn als Nachfolger ausersehen, aber der Fürstabt, der mächtige Priester des Klosters Ryusonji, favorisierte den zweiten Sohn, Daigen, dessen Mutter die Schwester des Fürstabts war. Der hatte eine unversöhnliche Abneigung gegen den Kronprinzen entwickelt, nutzte jede Gelegenheit, ihm zu schaden, und versuchte, den Kaiser zu überreden, Prinz Momozono zu enterben. Aki wusste, dass er falls nötig bereit war, für den Thron zu kämpfen. Doch davon durfte niemand erfahren, denn wenn das an die Ohren des Fürstabts dringen sollte, würde es als Rebellion gelten.
»Schau!«, rief Yoshi und deutete in den Garten. »Schau nur, dieser seltsame Vogel!«
Als Aki in die Richtung blickte, sah sie einen großen schwarzen Vogel, der so unbeholfen in einem Ahorn landete, dass Zweige und Blätter zu Boden rieselten. Das Tier gab einen merkwürdigen Ruf von sich, der lockend, aber auch abstoßend klang, und richtete den Blick seiner kalten goldenen Augen auf Yoshimori. Dann nickte der Vogel dreimal, ehrerbietig und spöttisch zugleich, als kenne er den Jungen.
Akis Mutter und ihre Dienerinnen waren starr vor Entsetzen, da sie das Tier für ein grauenvolles Omen hielten. Einzig Kai rief furchtlos: »Geben wir ihm etwas zu essen!«
»Ja! Bringt Futter!«, befahl Yoshimori.
Eine der Hofdamen eilte bleich und zitternd nach drinnen und kehrte mit einer Schale Reisküchlein zurück. Kai nahm eines und ging langsam in den Garten hinunter. Yoshimori wollte ihr folgen, wurde aber von mindestens drei Paar Händen zurückgehalten.
Kai legte das Reisküchlein auf ihre Handfläche und streckte den Arm aus. Der Vogel spähte nach unten. Als er nicht herabflog, legte Kai das Küchlein auf den Boden und trat ein paar Schritte zurück. Der Vogel flatterte herab, packte das Küchlein mit den Krallen, beäugte es eingehend und verschlang es dann mit einem Bissen. Nachdem das Tier zum Teich geflogen war und getrunken hatte, kehrte es auf den Baum zurück, putzte sein Brustgefieder, starrte erneut mit schaurigem Blick auf den Sohn des Thronfolgers und gab ab und an ein grausiges Kreischen von sich.
»Ich mag den nicht«, sagte Yoshi. »Er soll verschwinden.«
Die Frauen versuchten, das Tier mit Händeklatschen und Schreien zu vertreiben, doch es rührte sich nicht von der Stelle.
»Hol deinen Vater«, sagte Akis Mutter zu ihrer Tochter. »Ich bekomme Kopfschmerzen von diesem Wesen. Und womöglich beschwört es schreckliches Unheil herauf.«
Aki ging zu ihrem Vater, erstattete Bericht und fragte: »Soll ich meinen Bogen mitnehmen?« Es war der heilige Catalpa-Bogen, den man ihr im Tempel überreicht hatte, zusammen mit dem Ritualkästchen, das ein Püppchen, den Schädel eines Wiesels und ihre Gebetskette enthielt.
»Ja, und ich bringe meinen auch mit«, antwortete Akis Vater. Doch als er den Vogel sah, legte er seinen Bogen hastig und beinahe verstohlen beiseite, ging in den Garten hinunter und sagte zornig: »Wie kannst du es wagen, hierherzukommen? Verschwinde und sag deinem Meister, er soll mir nicht mehr nachspionieren!«
Aki hob ihren Bogen und schlug die Sehne an, wie man es sie gelehrt hatte, um die Geister zu erwecken. Der Vogel richtete den Blick auf Aki, stieß einen höhnischen Schrei aus und flog Richtung Norden davon.
»Was war das?«, fragte Aki, als sie zu ihrem Vater trat und dem Vogel nachblickte.
»Ein Werhabicht, eine Art magischer Habicht. Es gibt mehrere von denen, die dem Fürstabt dienen. Sie sprechen eine Sprache, die nur er versteht. Abscheuliche Biester! Ich hasse sie!«
»Du hättest ihn erschießen sollen, Vater.«
»Ich wollte ihm nicht zeigen, dass ich bewaffnet und bereit war, meinen Bogen zum Einsatz zu bringen. Diese Kreaturen kann man ohnehin kaum töten.« Leiser fügte er hinzu: »Der Fürstabt ist mir gegenüber misstrauisch. Was wird er als Nächstes tun? Ich bin froh, dass du bald in Rinrakuji leben wirst. Dann bist du für ihn außer Reichweite, und was du dort lernst, mag uns im Kampf gegen ihn nützlich sein.«
Aki schauderte unwillkürlich, als spüre sie einen düsteren Schatten, der von Ryusonji ausging und sich über die ganze Stadt ausbreitete.