Es regnete ununterbrochen in der Hauptstadt, und während Yukikuni no Takaakira auf Masachikas Rückkehr wartete, dachte er ausgiebig über die verheerende Lage, die Missstände im Reich und den unübersehbaren Zorn des Himmels nach. Takaakira versuchte, seine Trauer um Hina und seine Befürchtungen wegen Masachika möglichst wenig zu beachten, denn er musste sich für Fürst Aritomo darum bemühen, die schlimmen Zustände zu verbessern.
Von Zeit zu Zeit bedauerte Takaakira, dass er Hina am Leben gelassen hatte, denn er konnte durchaus erkennen, wie viel er für sie aufs Spiel gesetzt hatte: seine Stellung an Aritomos Seite, sein Reich, Yukikuni, sein Leben. Er hätte das Mädchen töten sollen, als er es in diesem Haus zum ersten Mal gesehen hatte. Doch dann dachte er wieder an die Freude, die Hina ihm bereitet hatte, an ihre Klugheit, Anmut und Schönheit und fühlte seine starke Liebe zu ihr und seinen heftigen Kummer. Er träumte, sie sei noch am Leben, und erwachte mit Hoffnung im Herzen, musste sich aber vor Augen halten, dass er dann über kurz oder lang gezwungen wäre, sie töten zu lassen. Deshalb hoffte er letztlich für sie, dass sie schnell und schmerzlos ertrunken war.
Doch ihre Anwesenheit spürte Takaakira überall. Aus jedem Zimmer, das er betrat, schien sie gerade hinausgegangen zu sein. Er hörte ihre Schritte auf der Veranda, ihre Stimme im Garten. Um dieser Qual zu entfliehen und auch um Akihime noch einmal zu sehen, die junge Frau, die sich Aritomo ebenso widersetzte wie dem Fürstabt, beschloss Takaakira, dem Kloster einen Besuch abzustatten. Außerdem entsann er sich seines Gefühls, dass möglicherweise vom Kloster selbst etwas Böses ausgehe.
Zum letzten Mal war Takaakira im Sommer zuvor in Ryusonji gewesen, gleich nach dem ersten Taifun. Jetzt hingen die Regenwolken schwer über der Stadt, und Gischt schien den See zu bedecken, der ebenso wie der Fluss drohte, über die Ufer zu treten.
Der Fürstabt empfing Takaakira freundlich und verlor kein Wort über das Wetter, ganz als könne man die Zustände vergessen, indem man nicht darüber sprach. Dann erkundigte sich der Priester nach Aritomos Wohlbefinden und bat Takaakira ausdrücklich, dem Fürsten seine Hochachtung und Ergebenheit zu übermitteln.
»Bald werden wir Anlass zum Feiern haben«, verkündete der Fürstabt. »Ich bin mir sicher, dass Shikanoko versuchen wird, unsere Gefangene zu befreien. Und sobald wir ihn gefasst haben, werden wir auch erfahren, wo Yoshimori zu finden ist. Wenn sie alle drei tot sind, wird das Gleichgewicht wiederhergestellt sein.«
Aber er ist der wahre Kaiser, dachte Takaakira erneut, bemühte sich aber sofort, seine Gedanken vor dem durchdringenden Blick des Fürstabts zu verbergen.
»Würdet Ihr mich bitte zur Prinzessin führen?«, sagte Takaakira.
Es erschütterte ihn zutiefst, als er Akihime mit gefesselten Händen gekrümmt in einem kleinen Käfig liegen sah, und er verstand nicht, wie sie in diesem Zustand überhaupt noch am Leben sein konnte. In den verdrehten Gliedern und dem misshandelten Körper sah er Hina, denn das würde auch ihr bevorstehen, wenn sie jemals in die Hände von Aritomo geriete.
Möge sie tot sein, betete er. Möge sie ertrunken sein.
»War so viel Grausamkeit wirklich nötig?«, fragte er den Fürstabt, der Akihime mit kalter Verachtung betrachtete.
»Sie weiß, wo Yoshimori ist, und will es uns nicht sagen. Ihr Starrsinn muss bestraft, ihr Wille gebrochen werden. Und Shikanoko wird durch ihre Qualen hierhergelockt werden, weil er sie spürt.«
Takaakira empfand Mitleid und Abscheu zugleich bei Akihimes Anblick. Es gab vieles, was er die Herbstprinzessin gerne gefragt hätte – nicht über Yoshimori, sondern über ihre Zeit in Nishimi. Wie war es Hina dort ergangen? Hatte sie immer noch im Schatz der Kudzu-Ranke gelesen? Hatte sie Fortschritte gemacht beim Musizieren und Gedichteschreiben? Hatte sie über ihn gesprochen? Er hätte gerne alles erfahren, was sich in den Monaten seiner Abwesenheit in Nishimi ereignet hatte. Und wo war das Palisanderkästchen mit den Augen des alten Mannes? Takaakira fürchtete plötzlich, er könne in Tränen ausbrechen.
Er versuchte, seine Schwäche vor dem Fürstabt zu verbergen. Beim Gedanken an die Augen fiel Takaakira ein, dass er vorgehabt hatte, den alten Mann eingehend zu befragen, dann aber nach Nishimi geschickt worden war. In der Aufregung, ein geeignetes Versteck für Hina zu finden, und während seiner Zeit in Nishimi hatte er das vergessen.
»Was ist aus dem blinden Lautenspieler geworden?«, fragte er.
»Der ist noch hier«, antwortete der Fürstabt. »Spielt und singt, hat aber seinen Verstand eingebüßt.«
»Ich würde gerne mit ihm alleine sprechen«, sagte Takaakira.
Der Fürstabt betrachtete ihn argwöhnisch. »Wozu soll das gut sein? Ihr werdet nichts Vernünftiges von ihm erfahren.«
»Ich möchte ausschließen können, dass er die Ursache des Ungleichgewichts ist, das uns so viel Unheil bringt«, antwortete Takaakira. »Vielleicht wurde das Unrecht, das ihm angetan wurde, nie ausreichend gesühnt. Wir sollten alles in Betracht ziehen.«
»Ich vermute, Ihr findet ihn im Innenhof. Ihr könnt mit ihm sprechen, wenn Ihr hinausgeht.«
Der abfällige Tonfall ärgerte Takaakira. Dieser Priester ist eitel und eingebildet, dachte er und fragte sich unwillkürlich, ob der Fürst von Minatogura ohne diesen Verbündeten nicht in einer besseren Lage wäre.
Sesshin saß mit übergeschlagenen Beinen in dem überdachten Gang, der den Innenhof umgab, die Laute auf den Knien, das Gesicht nach oben gewandt. Die Lippen des alten Mannes bewegten sich, als bete er. Beim Anblick dieses uralten Gesichts mit den leeren Augenhöhlen schauderte Takaakira. Die Augen dieses Mannes kannten Takaakiras Geheimnisse, seine Fehler und Schwächen und hatten ihn zum Weinen gebracht. Wusste Sesshin, was seine Augen sahen, oder hatte er keine Verbindung mehr zu ihnen?
Takaakira ging neben dem Alten auf die Knie und sprach langsam und deutlich, um ihn nicht zu erschrecken. »Meister Sesshin, ich bin Yukikuni no Takaakira.«
Sesshin gab keine Antwort. Er war doch wohl nicht auch noch taub? Takaakira sprach lauter. »Geht es Euch gut? Braucht Ihr irgendetwas?«
Schließlich sagte Sesshin: »Es ist sehr gnädig von einem mächtigen Fürsten wie Euch, dass Ihr um mein Wohlergehen besorgt seid. Doch ich habe keinerlei Wünsche oder Bedürfnisse.«
Der Mann hörte sich ganz und gar nicht wie ein närrischer Greis an.
Dann fügte er hinzu: »Seid Ihr wohlauf, Fürst Takaakira?«
»Durchaus.«
»Und Fürst Aritomo ebenso?«
»Ich glaube, er ist bei guter Gesundheit«, antwortete Takaakira.
»Sagt ihm, er soll sie genießen, denn in Bälde wird er sehr krank sein.«
»Ihr könntet Eure Zunge verlieren oder getötet werden«, erwiderte Takaakira warnend, aber Sesshin schien das erheiternd zu finden und lachte leise. Dann nickte er mehrmals, und Takaakira fragte sich, ob er doch seine Zeit verschwende, weil der Alte nicht mehr bei Sinnen war.
»Da Ihr so gütig wart, Euch nach meinem Wohlbefinden zu erkundigen«, sagte Sesshin dann jedoch plötzlich, »will ich Euch einen Rat geben. In jüngerer Zeit war der Fürstabt sehr milde mit mir, aber viele Jahre wollte er mich gerne töten. Wisst Ihr, warum? Weil ich der einzige Mensch war, der seine Macht bedrohen konnte. Früher einmal waren wir an Kräften ebenbürtig, könnt Ihr Euch das vorstellen? Und nun bringt er den einen Menschen nach Ryusonji, der sein Untergang sein wird. Ja, er wird vernichtet werden. Und früher oder später wird Aritomo das gleiche Schicksal ereilen.«
»Was redet Ihr da?«, entgegnete Takaakira. »Wird Ryusonji angegriffen werden? Durch Shikanoko?«
Sesshin ergriff die Laute und spielte einige wehmütige Töne. Sein Gesicht, das kurz jugendlich und belebt ausgesehen hatte, wirkte jetzt wieder alt und ausdruckslos. Der Alte begann, undeutlich vor sich hin zu singen. Takaakira verstand die Worte nicht, doch es schien sich um das Lied über das Drachenkind zu handeln, das er schon einmal gehört hatte. Er blickte durch den dichten Regen im Innenhof zum See hinüber.
Jetzt sang Sesshin verständlicher:
Es schläft das Kind des Drachen
Am Grunde des Sees
Doch es wird erwachen
Wird spreizen die Flügel
Wenn das Kind des Hirsches kommt.
»Kommt das Kind des Hirsches?«, fragte Takaakira drängend. »Ist es Shikanoko?«
Ein Lächeln huschte über Sesshins Gesicht.
Weil der Alte ihm offenbar nichts Sinnvolles mehr offenbaren würde, verabschiedete sich Takaakira, stand auf und ging zum Haupttor. Die Innenhöfe wirkten verlassen, und obwohl er Gesänge hörte, sah er niemanden. Doch als er durchs Tor trat und auf seine Kutsche zuging, deren Zugochsen fast bis zu den Knien im Schlamm standen, kam der junge Mönch mit dem entstellten Gesicht auf ihn zu, der Masachika begleitet hatte.
»Fürst Takaakira?«, sagte der Mönch, der ihn wiedererkannte. »Ich bin Eisei. Ihr habt unseren Abt im letzten Jahr besucht.«
»Ja, ich erinnere mich an dich. Du warst in Matsutani, nicht wahr? Welche Neuigkeiten bringst du mit?«
»Fürst Masachika ist jetzt auf dem Weg zu Fürst Aritomo.«
»Dann muss ich auch schnell dorthin eilen«, sagte Takaakira.
Eisei blickte hastig um sich. Er wirkte unruhig und sah Takaakira an, als wolle er sprechen, wage es aber nicht.
Takaakira winkte ihm, damit er ihm in den Schutz des Dachvorsprungs folgte. Der Regen fiel ohne Unterlass. Der Ochse brüllte klagend und wurde unruhig. »Wo ist Shikanoko jetzt?«, fragte Takaakira.
»Nicht weit entfernt. Er ist sofort aufgebrochen, als er von der Prinzessin gehört hat.«
»Hat er eine Nachricht geschickt?«
»Nur sein Schwert«, antwortete Eisei. »Das ist eine Art Botschaft. Es heißt Jinan.«
»Zweiter Sohn?«
»Ja, wie unser jetziger Kaiser.«
Masachika wird es nicht wagen, unserem Fürsten diese Nachricht zu überbringen, dachte Takaakira.
»Wie viele Männer sind bei ihm?«, fragte er.
»Nur einer, sein Freund Nagatomo. So viele Flüsse sind über die Ufer getreten, ein Heer könnte gar nicht vorrücken.«
»Er macht sich freiwillig so angreifbar?«, fragte Takaakira verblüfft.
»Er bietet sich im Austausch an, wenn die Prinzessin freigelassen wird«, antwortete Eisei.
»Aber er wird doch gewiss versuchen, sie zu befreien?«
»Fürst«, sagte der Mönch. »Ich muss es aussprechen. Wenn Ihr oder mein Meister mich deshalb töten lasst, dann sei es so. Shikanoko verfügt über ungeheure Kräfte, die weitaus größer sind, als mein Meister ahnt. Wenn Shikanoko ins Kloster gelangt, wird er Ryusonji vernichten.«
Das Gleiche hatte Sesshin vor wenigen Minuten gesagt.
»Doch noch viel wichtiger ist es zu wissen«, fuhr Eisei fort, »dass Yoshimori der wahre Kaiser ist. Niemand kann daran etwas ändern.«
»Wie kommt es zu diesem Gesinnungswandel?«, fragte Takaakira. »Als treuer Diener des Fürstabts bist du aufgebrochen – und nun willst du ihn verraten?«
»Man verrät niemanden, wenn man ihm sagt, dass er sich irrt. Das ist vielleicht sogar die höchste Treuepflicht. Als ich Shikanoko wiedersah, habe ich das verstanden. Ich glaubte, ich würde ihn hassen, weil mein Gesicht durch seine Maske verunstaltet wurde. Doch nicht er sollte gehasst werden, denn er hat mich nicht gezwungen, die Maske aufzusetzen, sondern davor gewarnt. Und er hat auch versucht, Nagatomo zu schützen.« Eiseis Miene veränderte sich. »Wir haben die gleichen Narben«, sagte er, »und nennen uns deshalb ›Die verbrannten Zwillinge‹.«
»Bist du nun gerade auf dem Weg zum Fürstabt?«, fragte Takaakira.
»Ja. Ich wollte ihm sagen, was ich Euch gerade gesagt habe.«
»Tu das jetzt noch nicht, du würdest schlimm bestraft werden. Lass mich zuerst mit Fürst Aritomo sprechen. Ich werde mich für Shikanoko einsetzen. Kannst du ihn erreichen, durch deinen Freund vielleicht – Nagatomo?«
Eisei nickte.
»Dann sag ihm, er soll warten, bis er von mir hört. Ich werde morgen um zwölf Uhr mittags hier sein, um dich zu treffen. Ich hoffe, dass es mir gelingen wird, sowohl Shikanoko als auch die Prinzessin zu retten.«
Eiseis Worte hatten Takaakiras Vermutungen bestätigt, weshalb er zu einem Entschluss gekommen war. Ryusonji und der Fürstabt waren tatsächlich die Ursache für das Leid des ganzen Landes. Es war Takaakiras Pflicht und sein größter Treuebeweis, das seinem Herrn mitzuteilen. Rasch stieg Takaakira in die Kutsche und befahl dem Diener, so schnell wie möglich zum Palast zu fahren.
Im Empfangsraum, in dem sich zahllose Krieger aufhielten, die auf Befehle warteten oder Bittgesuche einreichen wollten, traf Takaakira auf Masachika. Der grüßte höflich und sprach kurz über die Mühen der Reise, doch mehr konnten sie nicht austauschen, bevor sie zum Fürsten gerufen wurden.
Aritomo wirkte noch angespannter und argwöhnischer als gewöhnlich. Unter seinem linken Auge zuckte ein Muskel, was auf Schlaflosigkeit verwies, und er schien seine Wut nur mühsam zu beherrschen, weshalb sich beide Männer besonders unterwürfig verhielten.
Masachika zog das Schwert aus der Scheide und überreichte es Aritomo mit einer Verbeugung. »Shikanoko hat mir das Schwert ausgehändigt, das ich nun Euch übergebe, Fürst.«
Aritomo sah etwas weniger grimmig aus, als er das Schwert nahm und eingehend betrachtete. »Das ist eine prachtvolle Arbeit. Etwas Vergleichbares habe ich noch nie zuvor gesehen.«
»Ich glaube, es wurde in den Bergen geschmiedet«, erwiderte Masachika. »Von einem Tengu vielleicht oder einem Hexer.«
Du willst dem Fürsten den Namen nicht sagen?, dachte Takaakira, schwieg jedoch.
»Habt Ihr also diesen Emporkömmling mitgebracht?«
»Shikanoko ist uns gefolgt und ist jetzt nahe der Hauptstadt. Er hat nur einen einzigen Gefolgsmann bei sich und hat mir sein Ehrenwort gegeben, dass er sich ausliefern wird, wenn man die Prinzessin freilässt.«
»Gut gemacht, Masachika«, sagte Aritomo, dessen Stimmung sich sichtlich besserte. »Ich werde Euch als Zeichen meiner Dankbarkeit dieses Schwert schenken.«
Masachika verbeugte sich bis zum Boden. »Ich möchte Fürst Aritomo ferner mitteilen, dass ich mich mit meiner einstigen Ehefrau wieder vereint habe. Matsutani ist nun sicher, die Geister, die es unbewohnbar gemacht haben, geben Ruhe. Das Anwesen ist also im Besitz der Miboshi, und wenn Ihr mir vertraut, werde ich dafür sorgen, dass dies in Bälde auch für Kuromori und Kumayama gilt.«
»Fürst Aritomo«, warf Takaakira ein. »Ob ich Euch unter vier Augen sprechen könnte?«
Aritomo hielt die Hand hoch. »In Kürze.« Dann fragte er Masachika: »Wie habt Ihr die Geister bezwungen? Ich weiß, dass einer der Mönche des Fürstabts bei Euch war. Hat er Euch geholfen?«
»Nein, das habe ich alleine erledigt, Fürst. Es musste nur etwas zurückgebracht werden, das verlorengegangen war.«
»Wie rätselhaft«, erwiderte Aritomo. Seine Nasenflügel zuckten, sein Kiefer bewegte sich hin und her. »Ich bin kein Eingeweihter. Das müsst Ihr mir genauer erklären.«
»Kiyoyoris Gattin, Fürstin Tama, hat einen weisen alten Mann blenden lassen, Sesshin. Sie verbannte ihn, seine Augen jedoch blieben über dem Westtor von Matsutani, wo er zuvor die Schutzgeister angesiedelt hatte. Nach dem Erdbeben verschwanden die Augen, und die Geister entkamen. Ich konnte die Augen wieder an ihren angestammten Ort zurückbringen, und nun sind auch die Geister wieder da, wo sie hingehören.«
»Das ist zweifellos alles sehr zufriedenstellend – doch wie kamt Ihr in den Besitz dieser Augen?«
Takaakira spürte, wie sich Schweiß in seinen Achselhöhlen sammelte, und zugleich wurde ihm eiskalt. Sein Herz hämmerte wie wild.
Masachika sagte langsam: »Kiyoyoris Tochter hatte die Augen mitgenommen nach Nishimi, wo ich sie dann entdeckte.«
Aritomo erstarrte. Er hatte Masachika wie immer argwöhnisch beobachtet, um etwaigen Versuchen, die Wahrheit zu verheimlichen, sofort auf die Schliche zu kommen. Nun wandte Aritomo den Blick Takaakira zu.
Eine Hitzewelle stieg aus Takaakiras Bauch auf und ließ rote Flecken in seinem Gesicht erscheinen. Er wünschte sich, erklären zu können, wie Hina war und warum er sie verschont hatte. Aber unter dem Blick seines Herrn waren keinerlei Einwände und Ausflüchte möglich.
»Ihr habt die ganze Zeit Kiyoyoris Tochter versteckt?«, fragte Aritomo fassungslos. »Wo ist sie jetzt?«
»Sie versuchte zu fliehen, während ich die Herbstprinzessin gefangen nahm«, sagte Masachika. »Man vermutet, dass sie ertrunken ist. Aber das Kästchen mit Sesshins Augen hatte sie zurückgelassen.«
Aritomo schien ihn nicht zu hören. Sein Gesicht war aschfahl geworden, und Tränen standen in seinen Augen.
»Ich habe Euch vertraut wie niemand anderem«, flüsterte er. »Unser ganzes Leben lang waren wir engste Freunde. Ist es wahr, dass Ihr mich betrogen habt?«
Takaakira konnte nicht sprechen, und auch seine Augen brannten. Schließlich fand er die Stimme wieder.
»Es ist wahr, dass ich Kiyoyoris Tochter gefunden und alle in dem Glauben gelassen habe, dass sie tot ist. Es trifft ebenfalls zu, dass ich sie verschont und mit nach Nishimi genommen habe. Ich habe Eure Befehle nicht befolgt. Ich habe keinen Verrat begangen, aber es gibt auch keine Entschuldigung für meine Handlungen, und ich erwarte nicht von Euch, dass Ihr darüber hinwegseht oder mir vergebt. Ich bitte Euch lediglich um die Erlaubnis, mir das Leben zu nehmen. Doch zuvor bitte ich Euch dringlich, mich anzuhören. Ihr seid im Begriff, einen folgenschweren Fehler zu machen …« Ich werde ohnehin sterben, nun kann ich auch alles offenbaren, dachte Takaakira. Aber selbst an der Schwelle des Todes fürchtete er Aritomos Zorn.
»Um unserer Freundschaft willen erhöre ich Eure Bitte«, sagte Aritomo, und seine Stimme brach. »Aber Ihr müsst es jetzt hier tun, sonst lasse ich Euch mit der Prinzessin verbrennen.«
»Jetzt?«, wiederholte Takaakira. »Hier?« Wirre Gedanken rasten durch seinen Kopf. Als ich mich heute früh angekleidet habe, wusste ich nicht, dass ich die Kleidungsstücke zum letzten Mal anziehe. Sie werden durch mein Blut verdorben sein. Ich darf aber nicht zögern oder Furcht zeigen. Ich muss mutig sein. Das Schneeland werde ich nie mehr wiedersehen. Werde ich Hina jenseits des Todesflusses treffen? Nun kann ich nichts mehr für Shikanoko oder die Prinzessin tun.
»Ihr dürft den Dolch des Edelmanns Hidetake benutzen«, sagte Aritomo so herzlich, als mache er seinem Freund ein kostbares Geschenk.
Takaakira nahm den Dolch entgegen, bewunderte den juwelenbesetzten Griff, die Balance, die exquisite Schärfe der Klinge aus mehrfach gefaltetem Stahl. Ich werde ihn kaum spüren, dachte er, als er die Schärpe löste und seine Roben öffnete. Er empfand einen Anflug von Zärtlichkeit für seine makellose Haut und seine festen Muskeln und Mitleid für seinen Körper und die unheilbare Wunde, die ihm nun zugefügt wurde.
»Vergib mir«, murmelte er, rammte sich mit aller Kraft die Klinge in den Leib, drehte sie und riss sie seitwärts. Er spürte, wie sein Blut über seine Hände spritzte. Zuletzt rief er laut die Worte: »Yoshimori ist der wahre Kaiser!«
Den Schnitt hatte er kaum gespürt, doch nun begannen die Schmerzen. Sein starker gesunder Körper weigerte sich zu sterben. Aritomo sah zu bis zum Ende.
Das letzte Geräusch, das Yukikuni no Takaakira hörte, als seine Seele sich endlich befreite und die Reise über den Dreiarmigen Fluss antrat, war Aritomos Schluchzen.