Höhepunkte
Keine. Niente. Zero.
Tiefpunkte
1) Ben redet nicht mehr mit mir. Kein Wunder …
2) Der Fernseher ist nach wie vor kaputt und jetzt haben wir auch keine frische Wäsche mehr. Ich musste meine Socken den dritten Tag in Folge anziehen. Inzwischen riechen sie wie Camembert, aber das ist jetzt auch egal.
3) Wurde heute von Hanna vor der ganzen Klasse als Lesbe geoutet. Habe gelesen, dass irgendeine amerikanische Sekte seit der Entdeckung des neuen Grippe-Virus glaubt, der Weltuntergang stünde kurz bevor. Schätze, sie hat recht.
Heute Morgen ist Papa zum ersten Mal seit drei Wochen wieder ins Büro gegangen. (Er hatte Glück und hat noch ein paar frische Socken hinter der Tiefkühltruhe gefunden.) Ich hab gemerkt, dass er ziemlich viel Schiss hatte, Mama mit Ottilie und mir allein zu lassen, aber was anderes ist ihm letztlich wohl nicht eingefallen. Seine Eltern segeln irgendwo in der Karibik und Mumi hat gesagt, sie hilft Mama und Ottilie und mir nur, wenn Papa endlich professionelle Hilfe für Mamas Baby-Blues in Anspruch nimmt.
Seit Mumi vor ein paar Jahren Krebs hatte, hält sie nämlich ziemlich viel von professioneller Hilfe. Sie geht regelmäßig zu einer Yoga-Lehrerin und einem Osteopathen und jemandem, der seine Hände auf ihren Rücken legt und damit irgendwelche Energien weitergibt.
Mumi kennt sich mit Energien, die einem helfen sollen, ziemlich gut aus, aber selber zu helfen, ist leider nicht so ihr Ding. Als sie Krebs hatte, hat sie nämlich eine Therapie gemacht und da hat sie gelernt, dass sie bisher immer zu viel an die anderen gedacht hat. Na ja und jetzt denkt sie halt die meiste Zeit an sich. Das darf man ihr eigentlich nicht vorwerfen, finde ich, denn immerhin hat sie so den Krebs besiegt (auch wenn sie jetzt niemandem mehr so gern hilft). Aber Papa wirft ihr das trotzdem vor und deshalb sollte man die beiden am besten nicht zu lange miteinander allein lassen, weil sie sich dann doch nur streiten. Na ja und genauso war es natürlich auch gestern am Telefon und deswegen ist Papa eben mit schlechtem Gewissen ins Büro gegangen und Mama und ich sind mit Ottilie alleine. Allerdings ist es hier noch immer besser als in der Schule. Der Vormittag heute war wirklich furchtbar. Ich sag dir …
Natürlich hatte ich mir schon gedacht, dass Ben mich nach der Aktion erst mal schneidet, aber auf den Blick, den er mir heute Morgen auf dem Schulhof zugeworfen hat, war ich dann doch nicht vorbereitet. Mann! Am liebsten hätte ich mich in ein Mauseloch verkrochen, aber dann hab ich mir geschworen, dass ich die ganze Sache jetzt ein für alle Mal kläre. Darüber habe ich nämlich am Wochenende ungefähr 20 3/4 Stunden nachgedacht. Irgendwann bin ich zu dem Schluss gekommen, dass das Ganze ja wirklich nur ein Missverständnis war. Und dass er das einfach verstehen muss, wenn ich ihm sage, dass es mir schrecklich leidtut.
Anschließend wollte ich zu Hanna gehen und sie davon überzeugen, dass ich ihr nie, nie, nie einen Jungen ausspannen würde. Denn so was tun Freundinnen einfach nicht. Punkt, Schluss, aus.
So weit mein Plan. Leider ist es dann aber völlig anders gekommen …
Als ich auf den Schulhof kam, habe ich Ben mit seinen Freunden bei den Fahrradständern stehen gesehen. Im selben Moment ist mein Mund ganz trocken geworden. Außerdem hab ich meinen Herzschlag irre laut in meinen Ohren gehört. Bum, bum, bum.
Am liebsten wäre ich weggelaufen, aber dann hab ich mich doch zusammengerissen und bin auf ihn zu.
»Ben, hast du vielleicht … äh … mal eine Sekunde Zeit?«
Ben, Sophies Bruder Fiete und der bekloppte Marc hatten vorher ziemlich laut gequatscht, aber plötzlich war es mucksmäuschenstill und ich hab die Herzschläge in meinem Kopf noch lauter gehört. Bum, bum, bum. Auf einmal kam mir meine Idee gar nicht mehr so toll vor. Ich meine, hätte ich nicht bis nachmittags warten können, um Ben allein zu erwischen??
Ben hat sich ganz langsam umgedreht. Fast wie in Zeitlupe. Ich hab ihn angeguckt und Ben hat mich angeguckt und ich hab gewusst, ich muss jetzt unbedingt was sagen, aber es war genau wie gestern Abend. Ich konnte einfach nichts Vernünftiges rausbringen. Kompletter Blackout. Der totale Horror. Ich hab noch immer gehofft, dass Ben mich da irgendwie rausholt, aber er hat einfach nur ganz kalt aus seinen wunderschönen blauen Augen geguckt und nichts gesagt. Stattdessen hat der bekloppte Marc mich von oben bis unten gemustert und dann gefragt: »Na, wen haben wir denn da? Ey, Ben, ist das nicht die Tussi mit dem Mundgeruch, die so beschissen küsst?«
Jetzt, wo ich das schreibe, tut das Ganze noch mehr weh. Ich meine, dieser Kuss war so weich und so schön und dieser hirntote, bescheuerte Marc und Ben, dieser Ober-, Mega-, Hyper- …
Am liebsten würde ich jetzt schreiben, dass ich etwas total Schlagfertiges erwidert habe, aber das habe ich leider nicht. Anstelle einer wenigstens halbwegs würdevollen Antwort hat sich stattdessen mein Magen umgedreht. (Das macht er in letzter Zeit öfter, wenn ich mich aufrege, furchtbar blöd …) Einen Augenblick lang hatte ich Angst, dass ich Ben gleich vor die Füße kotze, aber zum Glück hat Fiete, Sophies Bruder, Ben im selben Moment zur Seite gezogen.
Marc hat noch irgendetwas gemurmelt, das wie »Die Verarsche wird dir noch leidtun …« klang, und weg waren sie. Der rothaarige Oliver aus meiner Klasse, der das Ganze mitbekommen hatte, hat dämlich gegrinst und ich bin die Treppen in Richtung Klassenraum hochgewankt und hab nur noch gedacht, ich will sterben. Hier, jetzt, sofort. Aber das hat natürlich nicht geklappt.
Als ich unsere Klasse betreten hab, hab ich als Erstes realisiert, dass Hanna umgezogen ist und jetzt neben Katja sitzt. Na, herzlichen Glückwunsch. Das war ja klar. Erst hab ich gehofft, das wär’s gewesen, aber dann habe ich gemerkt, dass mich die meisten in der Klasse ganz merkwürdig angesehen haben, sogar Sophie. Warum das so war, hab ich aber erst begriffen, als ich einen Blick auf die Tafel geworfen hab. Links auf der Tafel klebte ein Foto von Scharinas Gesicht mit einem Strichmännchen-Körper darunter. Und darüber stand »Schneewittchen, Schneewittchen, kein Arsch und kein Tittchen«. Und rechts davon klebte ein Foto von mir über dem Körper einer nackten Frau mit riesigen Brüsten und darüber stand in Olivers Handschrift »Ich will dich lesbisch ficken!«.
Da hat sich dann zum zweiten Mal an diesem Tag mein Magen umgedreht. Ich hab zu Hanna hingeguckt, die Oliver gerade ein Daumen-hoch-Zeichen gemacht hat, und da ist mir noch schlechter geworden. Ich hätte nie gedacht, dass Hanna so gemein sein kann! Und alles nur, weil ich Ben diesen bekloppten Brief gegeben habe! Dabei wusste ich gleich, dass das eine bescheuerte Idee war! Ich hasse Hanna und ich hasse Oliver und Mark und Ben und einfach alle
Tut mir leid, dass die letzten Sätze ein bisschen verwischt sind, aber ich bin eben doch wieder in Tränen ausgebrochen. Obwohl ich das eigentlich nicht wollte. Ich meine, als ob es nicht schon reicht, dass Mama den ganzen Tag weint – jetzt fange ich auch noch damit an. Verdammt, Julie, hör auf damit!!! Wenn Mama mich schluchzen hört, wird alles nur noch schlimmer, und das geht nicht. Schließlich hab ich eh schon ständig Angst um sie. Ich glaube nämlich allmählich, dass sie wirklich krank ist. Ich hab gestern noch einmal direkt unter dem Stichwort »Depression« im Internet nachgeguckt und da gab es ein Extrakapitel über postnatale Depressionen (also die, die Frauen gleich nach der Geburt kriegen können) und das klang wirklich gruselig. Einige Mütter kriegen anscheinend ganz schlimme Angstzustände und fühlen sich wie tot und haben gar keinen Lebenswillen mehr und … Oh, Shit, jetzt heule ich schon wieder. Nein! Ich hab da keinen Bock mehr drauf! So geht’s nicht weiter. Jetzt reiß dich mal zusammen, Julie!
Okay, ich höre auf zu heulen und berichte stattdessen weiter … Versprochen.
Also, ich hab schnell die Tafel abgewischt und die Fotos abgerissen, bevor Herr Clausen den Klassenraum betreten hat. Aber der Horrortrip war natürlich noch nicht zu Ende. Hanna, Katja und Franzi haben kein Wort mit mir geredet und selbst Sophie ist mir aus dem Weg gegangen. Und dann hat die dicke Jette mir in der großen Pause auch noch gesagt, dass ich eine Freundin so gemein betrügen würde, das hätte sie nie von mir gedacht.
Das einzig Gute war, dass Scharina wenigstens nicht in der Schule war. Aber von wegen. Nach der letzten Stunde hat Frau Simbrinck mich nämlich prompt dazu verdonnert, ihr die Hausaufgaben vorbeizubringen (so ein Übungszettel in Erdkunde über die Tide, das heißt Ebbe und Flut).
Erst habe ich mir überlegt, ich mach das einfach nicht und tue morgen so, als hätte ich es vergessen. Aber dann hat Frau Simbrinck auch noch einen rosa Umschlag aus ihrer Tasche geholt.
»Und wenn du schon da bist, Julie, gib Scharinas Mutter doch bitte auch gleich das Geld für die Klassenreise zurück, das sie mir geschickt hat. Wahrscheinlich hat sie nicht mitbekommen, dass ihr es gleich auf das Klassenkassenkonto überweisen solltet …«
Frau Simbrinck hat mir den rosa Umschlag in die Hand gedrückt und da hab ich gewusst, dass ich aus der Aktion nicht mehr rauskomme. Schließlich kann ich das Geld ja nicht behalten. Also werde ich Scharina den Umschlag und die Hausaufgaben mit dem Übungszettel für die Erdkundearbeit morgen wohl oder übel vorbeibringen müssen. Okay, aber ich werde keinen Ton mit ihr reden. Reicht ja, wenn ich ihrer Mutter die Sachen in die Hand drücke … Ich hoffe nur, dass ihr Vater nicht da ist. Wenn es stimmt, was Katja sagt, dann möchte ich dem ganz bestimmt nicht begegnen.
18.36 Uhr.
Bin eben von Scharina zurückgekommen. Tut mir leid, dass sich das hier so verkrakelt liest, aber meine Finger zittern noch immer wie verrückt …
18.54 Uhr.
Habe mich etwas beruhigt. Oh Mann. Was für ein Tag! Ich liebe meine Eltern wirklich sehr! Und es macht gar nichts, dass Papa schlecht kocht und Mama ständig heult. Ich bin so dankbar, dass ich sie habe!!! Wenn ich mir vorstelle, ich müsste mit Scharina und ihrem furchtbaren Vater tauschen – ich würde mir echt die Kugel geben!
Der Hinweg zu Scharina war noch ganz normal. Die Gegend, in der sie wohnt, ist nicht sonderlich toll, aber eigentlich auch nicht so schlimm. (Mal abgesehen davon, dass Oliver erzählt hat, die kleinen Kinder, die da wohnen, würden in den Fahrstuhl kacken, weil sie nicht an die Knöpfe für die Stockwerke herankommen, um zur Toilette zu gehen.) Vor Scharinas Hochhaus hab ich mein Rad angeschlossen und da hab ich sie oben im vierten Stock am Fenster gesehen. Aber sie hat ihren Kopf schnell weggezogen, als ich zu ihr hochschaute. Erst hat mich das ein bisschen genervt, aber dann hab ich gedacht, dass ihr wahrscheinlich irgendjemand was über die Zeichnung an der Tafel erzählt hat. Und dann ist es ja kein Wunder, dass sie nicht sonderlich heiß drauf ist, Besuch von mir zu kriegen. Also bin ich einfach hochgegangen. (Den Fahrstuhl hab ich besser nicht genommen – da drin roch es nämlich so, als ob Olivers Geschichte stimmen könnte.)
Vor der Haustür zu Scharinas Wohnung sah es ziemlich schlimm aus und ich hab mich ein bisschen gewundert, weil Sophies Mutter mal erzählt hat, dass Scharinas Mutter ihren Haushalt dafür, dass sie so wenig Geld zur Verfügung hat, wirklich gut in Schuss hält.
Aber gut in Schuss sah es vor Scharinas Wohnungstür echt nicht aus. Da lagen mindestens vier oder fünf volle Mülltüten und eine davon war umgekippt und der Müll war über den ganzen Boden verstreut und dazwischen lagen eine völlig verknautschte Fußmatte und ganz viele leere Bierflaschen.
Im selben Moment ist mir wieder eingefallen, was Katja über den Vater von Scharina erzählt hat, von wegen, dass er ein brutaler Schläger ist, und deswegen hab ich gezögert, ob ich da wirklich klingeln soll, aber dann habe ich einfach einen großen Schritt gemacht und auf die Klingel gedrückt. Zuerst hat niemand aufgemacht. Also hab ich noch mal geklingelt und da hab ich hinter der Tür Schritte gehört und im nächsten Moment ist die Tür aufgegangen.
UFFZ, Von Scharinas fiesem Vater keine Spur! Gott sei Dank.
Stattdessen stand da der bestaussehendste Typ, den ich je getroffen habe!!
Katja hat wirklich nicht übertrieben. Scharinas Halbbruder sieht fast aus wie … Na ja, wie ein Model. Im Ernst! Okay, sein Outfit ist vielleicht ein bisschen sehr gestylt (er hatte so ein komisches tief ausgeschnittenes Shirt an, wodurch man voll seine Brust sehen konnte, und eine Jogginghose, auf der groß der Markenname stand), aber trotzdem. Ich glaube, für jemanden, der auf Jungs mit ganz langen Wimpern und schwarzen langen Haaren und sanften Augen steht, ist Kevin ein echter Knaller.
Scharinas Bruder hat mich angestarrt und dann hat sich sein Gesicht zu einem Lächeln verzogen.
»Hi, Chica! Kann ich dir irgendwie helfen?«
»Ich … äh …«
Ich hab vor lauter Schreck über so viel Lässigkeit zuerst keinen Ton rausgekriegt, aber dann hab ich mich doch überwunden und gefragt, ob Scharina da wäre, weil ich ihr einen Übungszettel für Erdkunde bringen wollte und …
Ich war noch mitten im Satz, da ist mir Kevin schon ins Wort gefallen und hat gesagt, seine Schwester wäre nicht zu Hause, aber ich könne ihm den Zettel ruhig dalassen.
»Ich geb ihn ihr dann, wenn sie kommt, okay?«
Hätte ich mir ja denken können, dass Scharina sich verleugnen lässt. Na, mir sollte es recht sein. Ich habe genickt und in meinem Rucksack gekramt. Kevin ist ganz nah an mich rangekommen, er roch ein bisschen nach Bier, was ich normalerweise eklig finde, aber bei ihm roch es gar nicht mal so übel.
»Ja, natürlich. Also hier sind die Aufgaben und …«
»Alles klar! Tschau!«
Wumms. Die Tür ist vor mir ins Schloss gefallen und ich bin mir ein bisschen dämlich vorgekommen, weil ich irgendwie gehofft hatte, dass er noch ein bisschen länger mit mir redet. Aber nun gut. Was nicht ist, ist eben nicht. Also hab ich mich zur Treppe umgedreht, aber dann ist mir eingefallen, dass ich den Umschlag mit dem Klassenreisengeld vergessen hatte. Insofern hab ich mich noch mal umgedreht und geklingelt und diesmal hat es etwas länger gedauert, bis Kevin mir die Tür aufgemacht hat.
»Ja?«
Seine Stimme hat jetzt ein bisschen genervt geklungen, aber das ist ja verständlich. Schließlich prunkten die Reste der großen Pickelkatastrophe noch immer auf meiner Nase und die Haare hatte ich mir heute früh auch nicht gewaschen. Und selbst wenn … Ich glaub nicht, dass jemand wie ich bei so einem coolen Typen wie Kevin jemals landen könnte.
»Tut mir leid. Ich hab ganz vergessen, Scharinas Mutter noch das Klassenreisengeld zurückzugeben. Ist sie da?«
Kevin hat den Kopf geschüttelt. »Kannst mir das Geld aber ruhig geben. Wie viel ist es denn?«
»Keine Ahnung, wahrscheinlich die ganzen 150 Euro, aber …«
»In Ordnung. Noch was?«
»Nein, ich …«
Ich hatte noch nicht einmal ausgeredet, da hat er schon wieder die Tür zugemacht. Eigentlich wollte ich Kevin noch sagen, dass wir übermorgen einen Erdkunde-Test schreiben und dass der Übungszettel deswegen ziemlich wichtig ist, aber noch mal zu klingeln, ist mir dann doch zu doof gewesen.
Also hab ich mich zum Gehen umgedreht, und als ich schon fast an der Treppe war, hab ich eine Männerstimme hinter der Tür gehört.
»Wer zum Teufel war das? Hast du der irgendwas gesagt? He, hörst du mir eigentlich zu?«
Im ersten Moment hab ich gedacht, das wäre Kevin, aber die Stimme klang anders, irgendwie tiefer und fieser, und dann ist mir wieder Scharinas Vater eingefallen.
»Hey, ich rede mit dir! Hier taucht doch nicht ohne Grund auf einmal so ’ne Tussi auf! Willst du uns die Fürsorge auf den Hals hetzen? Hä??«
Die Mädchenstimme, die ihm antwortete, konnte ich nicht verstehen, sie war viel leiser und klang ganz aufgeregt, aber ich glaube, es war Scharina.
»Nicht, bevor du mir nicht gesagt hast, wer das gewesen ist. Klar, du kleine Schlampe?!«
Das war wieder lauter. Ich hab ganz erstarrt dagestanden und noch gedacht, dass mein Vater nie, nie, niemals so mit mir sprechen würde, nicht mal im Spaß, da hab ich auf einmal ein lautes Klatsch-Geräusch gehört und dann noch eins, so wie von einer Ohrfeige oder einem Schlag, und dann ein Wimmern, das klang ganz furchtbar.
Beim dritten Klatschgeräusch ist mir furchtbar schlecht geworden und ich bin zurückgelaufen und hab wie eine Wilde gegen die Tür geklopft.
»Scharina? Alles in Ordnung? Scharina?«
Aber auf der anderen Seite war es plötzlich still. Totenstill. Mir ist ein eiskalter Schauer über den Rücken gelaufen. Und dann hab ich die totale Panik gekriegt.
Du glaubst nicht, wie gern ich jetzt schreiben würde, dass ich die Tür eingetreten oder wenigstens bei den Nachbarn geklingelt hab, aber ich hab nichts davon getan. Ich hab meinen Herzschlag so laut in meinen Ohren gehört, dass ich überhaupt nicht mehr klar denken konnte, und dann bin einfach nur die Treppen runtergelaufen, hab mein Rad aufgeschlossen und bin nach Hause gerast, als wäre der Teufel hinter mir her. Und die ganze Zeit hatte ich furchtbare Angst. Oh, Mann, wahrscheinlich bin ich der größte Schisser, der weit und breit herumläuft! Was, wenn dieser kriminelle Vater jetzt voll auf Scharina losgegangen ist? Schließlich stand erst gestern genau so was in der Zeitung! Ich muss unbedingt Papa Bescheid sagen!!! Aber der kommt heute erst spät nach Hause, weil sein Chef eine »Open-End-Sitzung« angesetzt hat. (Es geht um eine neue Werbestrategie für schwarze Damenbinden. Da fällt einem doch nichts mehr zu ein – hier bricht die Welt zusammen und Papa redet über so was!) Mit Mama kann ich nicht reden und bei Mumi läuft der Anrufbeantworter. Scheinbar ist sie seit gestern in irgendeinem Kloster zu einer Schweigewoche.
Was soll ich bloß tun???
19.20 Uhr.
Habe eben mit Sharon telefoniert. Sie sagt, ich soll die Kinder- und Jugendhilfe anrufen. Die hätten irgendeine Art Notfalltelefon. Bin völlig fertig. Ich hab so was noch nie gemacht. Soll ich da wirklich anrufen?
19.48 Uhr.
Bin immer noch nicht sicher, ob ich da anrufen soll. Aber Scharinas Wimmern klang wirklich furchtbar. Und das Geräusch von den Schlägen war eindeutig. Aber irgendwie hab ich Schiss …
20.02 Uhr.
Habe eben bei der Nummer angerufen, die Sharon mir gegeben hat. Die Frau vom Notfalltelefon war total nett. Sie hat sich Scharinas Adresse aufgeschrieben und gemeint, sie fragen da gleich mal nach und es wäre ganz richtig, dass ich mich gemeldet hätte, denn besser, man geht auf Nummer sicher, als einmal zu oft wegzusehen. Hat sie wirklich so gesagt. Mein Gott, bin ich erleichtert. Vielleicht bin ich doch kein so großer Feigling. Immerhin habe ich jetzt was getan!
21.10 Uhr.
Kann nicht einschlafen. Habe eben zu Bens Zimmer rübergeguckt, aber da ist alles dunkel. Denke abwechselnd an Scharina und Ben. Beides als Schlafmittel nicht zu empfehlen. Ich glaube, ich werde krank. (Der neue Grippe-Virus??)
21.46 Uhr.
War eben im Schlafzimmer. Mama war noch wach. Hab mich unter ihre Bettdecke gekuschelt und sie hat mir den Rücken gekrault. Sie hat nicht geweint, sondern mich gefragt, was ich davon halte, wenn wir am Wochenende ins Kino gehen – nur wie beide, sie und ich, ohne Papa und Ottilie. Finde, das ist eine hervorragende Idee. Fühle mich schon etwas besser.
22.34 Uhr.
Papa ist gerade nach Hause gekommen. Er ist richtig gut gelaunt, weil ihm ein toller Name für die schwarzen Damenbinden eingefallen ist: »Black Beauty«. Bin mir nicht sicher, ob Papas Auftraggeber den Namen auch so toll finden. Kann mir nicht vorstellen, dass Frauen gerne Damenbinden kaufen, die wie Pferde heißen, aber wer weiß. Wollte ihm eigentlich die Sache mit Scharina erzählen, hab mich dann aber doch dagegen entschieden. Er war so froh darüber, dass Mama, Ottilie und ich den ersten Tag ohne ihn gut überstanden haben, dass ich ihm die Freude nicht verderben wollte.
22.56 Uhr.
Wieder in meinem Zimmer. Kann noch immer nicht schlafen. Habe eben noch mal zu Bens Zimmer rübergeguckt und musste wieder daran denken, was er bei den Fahrradständern zu mir gesagt hat. Hatte für einen Moment das Gefühl, es hätte sich was beim Rollo bewegt. Seit gestern tut es links in der Brust richtig weh, wenn ich an ihn denke. Wenn Liebe so ist, dann kann ich in meinem nächsten Leben gut drauf verzichten.